Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik
© BÜHNE / Victoria Nazarova
Alexander Raskatov
© Dutch National Opera / Ruth Walz
Uraufführung im Rahmen des Opera Forward Festivals 2023

Eccentricity, Exaggeration, Energy

Seiner ersten Oper näherte sich Alexander Raskatov 1989 als 36jähriger: Grube und Pendel, nach Edgar Allan Poes gleichnamiger Erzählung. Deren Orchestrierung blieb freilich unvollendet, nachdem sich die Hoffnung auf eine Aufführung zerschlug. Achtzehn Jahre vergingen, bevor ihn Pierre Audi, der damalige Leiter der Nederlandse Opera, unter dem Eindruck seiner Instrumentierung und kompositorischen Erweiterung von Mussorgskis Liedern und Tänzen des Todes bei den Salzburger Festspielen 2007, einlud, für Amsterdam eine Oper zu schreiben. Von der Wahl des Sujets bis zur Besetzung aller Rollen erhielt der Komponist Carte blanche. Die Uraufführung von A Dog’s Heart nach Michail Bulgakows Erzählung Hundeherz wurde 2010 zum Triumph. Acht Jahre vergingen, bevor am Opernhaus von Lyon Raskatovs nächste Oper uraufgeführt wurde: GerMANIA, nach Heiner Müllers spätem Theatertext GERMANIA 3 GESPENSTER AM TOTEN MANN, noch im selben Jahr 2018 gefolgt von Zatmenie (Verfinsterung). Dieses Auftragswerk eines russischen Mäzens macht den Deka­bristenaufstand um Thema und erlebte – allerdings nur in konzertanter Form – im Petersburger Mariinski-Theater seine Erstaufführung. 2023 feierte das Amsterdamer Publikum Raskatovs Rückkehr anlässlich der Uraufführung der mit der Wiener Staatsoper koproduzierten Animal Farm nach George Orwells berühmter ›Fairy Story‹.
 

Tickets »Animal Farm«


Alexander Raskatov hat an der Entwicklung der librettistischen Vorlagen seiner Opern stets energischen Anteil genommen. So hat er das Libretto von Hundeherz aus Bulgakows Erzählung selbst extrahiert. Auch Heiner Müllers Theaterstück wollte – und durfte! – er seinen Vorstellungen gemäß überarbeiten. Den Text zu Zatmenie schuf er sogar ganz eigenständig, auf Grundlage von Briefzeugnissen, Memoiren und Gedichten sowie unter Einbezug von Fragmenten aus Dostojewskijs Roman Aus einem Totenhaus. Nicht anders geschah es bei Animal Farm, wobei der Komponist freimütig bekennt, dass ihm bis zur Anfrage des Amsterdamer Opernhauses Orwells ›Märchen‹ nur dem Titel nach ein Begriff war. Denn das Buch, das seinen Welterfolg nicht zuletzt der Tatsache verdankt, dass es – ganz gegen die Intention seines Autors – als Waffe im Kalten Krieg missbraucht wurde, war in der Sowjetunion bis 1988 strengstens verboten. Für den am Tag von Stalins Begräbnis 1953 in Moskau, unweit des Roten Platzes, in eine russisch-jüdische Familie hineingeborenen Raskatov stand nach der Lektüre fest: Auch dieses Buch reflektiert – nicht anders als die Werke Bulgakows und Müllers – seine Geschichte und die seiner Familie. Denn Orwells Erzählung ist eine Parabel über die Perversion der Russischen Revolution unter Stalins Diktatur: Auf einem verwahrlosten Bauernhof revoltieren die Tiere gegen ihren tyrannischen Besitzer, müssen sich jedoch bald unter das Joch eines neuen Führers aus ihren eigenen Reihen beugen: »Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher.« Orwells Intention war es, die Illusionen des Westens über das angebliche sozialistische Wunderreich im Osten zu entzaubern; Illusionen, welche die totalitären Gewaltexzesse des Regimes – von den Schauprozessen und Deportationen über die Massenmorde und den Holodomor bis zum Gulag – aktiv zu verdrängen und zu verleugnen suchten.


Das von Ian Burton im Auftrag der Nederlandse Opera bereits erstellte Libretto erfuhr unter Raskatovs Redaktion einen grundstürzenden Umbau, für den die englische Sprache aber beibehalten wurde. Nach Raskatovs Einschätzung wies der ihm vorgelegte Text eine eher epische, oratorienhafte Struktur auf. Die »Lokomotive des Dramas«, also die eigentliche Dynamik der Geschichte, sei an eine Erzählerfigur delegiert gewesen: »Dabei muss es doch genau umgekehrt sein!« Zudem waren die Sätze viel zu lang und mit zu vielen beschreibenden Passagen versehen. Solche seien, so der Komponist, »Gift für eine Oper«, Langeweile wäre garantiert gewesen. Sprachlich drängte Raskatov also auf Verknappung und Verdichtung sowie darauf, die Erzählung in möglichst plastische Situationen zu übersetzen.
Durch den Einbezug von Originalzitaten Stalins, Trotzkis, des Komintern-Vorsitzenden Bucharin und des Geheimdienstchefs Beria richtete Raskatov zudem dokumentarische Schlaglichter auf die Pathologie des Sowjet-Systems. Raskatov hat dem Romangeschehen, dessen Hauptlinien er im Wesentlichen folgt, zudem zwei Szenen eigener Erfindung hinzugefügt: Einmal die von Stalin (»Napoleon«) in Auftrag gegebene Ermordung seines ehemaligen Wegbegleiters Trotzki (»Snowball«) im mexikanischen Exil, sowie eine der bezeugten sexualisierten Gräueltaten Berias (»Squealers«): Einer jungen Schauspielerin, die sich dem Geheimdienstchef zu verweigern versuchte, überreichte dieser ein Bukett mit dem Hinweis, dass die Blumen zum Grabschmuck nach ihrer Vergewaltigung und Ermordung bestimmt seien. »Welche Oper kommt schon ohne Liebe und Mord aus?«, merkt der Komponist sarkastisch an.


Für seine Vertonung hat er einen »Skalpell-Stil« – wie er selbst es nennt – entwickelt, der das Geschehen scharf und kontrastreich konturiert. »Oper – das ist in erster Linie Theater und Spiel. Die kommunikativen Parameter sind hier wichtiger als in jedem anderen musikalischen Genre«, sagt Raskatov. »Anders als Sinfonik oder Kammermusik ist die Oper kein ›reines‹ Genre. Sie verlangt einen offenen Horizont und eine Art Polystilistik. Das lässt sich schon an Mozart beobachten. In eine Oper lassen sich die verschiedensten Dinge in einen neuen und manchmal auch gegenläufigen Kontext setzen und dadurch paradoxe Effekte erzielen. Oper ist keine puristische oder akademische Form. Sie sollte vor Leben bersten.« So arbeitet Raskatovs Partitur mit Verweisen auf die Musikkultur seines Landes – auf Tschaikowski, Mussorgski, Rimski-Korsakow – ebenso wie mit Reminiszenzen an Prokofjew, Schostakowitsch oder den Songstil Kurt Weills, an die Klangwelt der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts also, deren historisches Geschehen die literarische Vorlage reflektiert.


»Für mich ist es wichtig, dass jede Oper, egal welches ihr Sujet ist, egal in welcher Sprache gesungen wird – russisch, deutsch oder französisch –, auf die semantischen Werte des Textes fokussiert. Ein zweiter Fokus ist ein dramaturgischer: Die Hochspannung, die zwischen Sängern, Orchester, dem Sujet selbst und der Inszenierung zirkulieren muss. Zugleich entsteht unter den Sängern eine Art »akustischer Schock«. Das ist der Grund, warum ich Ensembles in der Oper so schätze und liebe. In einem Solistenensemble entsteht ein »Konflikt« zwischen den Tessituren, also den unterschiedlichen Stimmcharakteren und folglich deren Obertönen. Im Grunde schreibe ich nämlich Animal Farm für zwei Orchester. Das eine agiert im Orchestergraben, das zweite, das Sängerorchester, agiert auf der Bühne. Ja, stellen Sie sich vor, ich behandle die Sänger als Vokalorchester!«


Einige dramaturgische Entscheidungen Raskatovs sind sicher genau dieser Vorliebe für das ›Meta-Instrument‹ eines solchen Vokalorchesters geschuldet. Seine Partitur sieht nicht weniger als 21 Solorollen vor, die das volle Spektrum menschlicher Stimmlagen ausschöpfen und von denen jede einzelne ein höchst originelles Profil erhält. Diese Klang-Charaktere werden dann in der Partitur kaleidoskopartig miteinander verzahnt und ineinander verschachtelt. Die hochvirtuose Interaktion der Solostimmen gemahnt nicht zufällig an die Ensembles in Verdis Falstaff, für Raskatov »eine meiner Lieblingsopern«. Im Unterschied zu den in der Moderne unendlich ausgeweiteten Klangerzeugungs- und Artikulationstechniken des klassischen Instrumentariums, sind die Potenziale der Gesangsstimme nach Raskatovs Wahrnehmung bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Nur allzu willig hat er sich durch das wiehernde, grunzende, meckernde, blökende, kreischende, kollernde und quiekende Bestiarium seiner Vorlage zu ganz neuen Mutationen und Verfremdungseffekten inspirieren lassen. »Zugleich verbergen sich unter dem tierischen Fell- oder Federkleid durch und durch menschliche Physiognomien«, so Raskatov. Seine plastische musikalische Phantasie sucht und findet klangliche Äquivalente zu Orwells poetischer Präzision und Humor, die jedes einzelne Tier zu einer eigenen Persönlichkeit werden lassen.


»Ich muss wissen, für wen ich schreibe«, sagt Raskatov. »Das ist sehr wichtig. Es ist ein großer Unterschied, ob man einen abstrakten Auftrag für ein Orchester oder ein Ensemble erhält, und diese Künstler überhaupt nicht kennt, oder ob man für Menschen schreibt, die man kennt und für die man Sympathie empfindet.« Dabei verpflichtet Raskatov seine Interpreten auf die absolute Priorität der ›3 E‹: Exzentrik, Übertreibung (Exaggeration) und Energie. Und so hat eine Gruppe stimmlicher Extremsportler Raskatov bei all seinen bisherigen Opernabenteuern begleitet. Da ist zum einen Elena Vassilieva, die Grande Dame der osteuropäischen Avantgarde, der wir etwa eine integrale Einspielung von Edison Denisovs Liederzyklen verdanken. Für ihren dramatischen Koloratursopran – der in Hundeherz schon eine der beiden konkurrierenden Stimmen des Hundes (die »böse«!) gestaltete – hat Raskatov die Hosenrolle des Blacky kreiert. Ausgangspunkt war die Gestalt des »Moses«, jenes zahmen Raben, jenes »Spitzels und Ohrenbläsers«, der in der Scheune übernachtet und der verwöhnte Liebling des Farmers Jones ist. Dieser folgt bereits im 2. Kapitel des Romans dem fliehenden Farmer-Ehepaar ins Exil und kehrt erst im 9. von insgesamt 10 Kapiteln zurück, um die nunmehr enttäuschten Revolutionäre unter Duldung Napoleons, des »Führers«, mit der Aussicht auf einen jenseitig-himmlischen »Sugar Candy Mountain« zu trösten. In der Oper hingegen sind Blackys abrupte Registerwechsel, seine Staccati, seine den Streichinstrumenten abgelauschte Ricochet-Effekte und sein heiser-kehliger Rauco-Gesang durchgängig präsent.


Gennady Bezzubenkov, der in GerMANIA den – natürlich russisch singenden – Stalin gab, leiht seinen »Basso profondo« in Animal Farm dem Old Major, jenem preisgekrönten, in die Jahre gekommenen weißen Keiler, der kurz vor seinem Tod den Tieren seinen Traum von Freiheit und Gleichheit vermacht (in Old Major sind Referenzen an Marx und an Lenin verbunden). Für Karl Laquit, der in GerMANIA den »Rosa Riesen« verkörperte, jenen Serienmörder, der in den Wendejahren in Ostdeutschland wütete, hat Raskatov nicht nur den Esel Benjamin komponiert, der – obwohl er die Propagandalügen durchschaut – sich aus allem herauszuhalten versucht und am Ende nicht verhindern kann, dass das Zugpferd Boxer, sein einziger Freund, an den Abdecker verschachert wird. Laquits vier Oktaven umfassendes Register macht es möglich, dass er auch die Episodenfigur der Pigetta übernimmt, jener jungen Schauspielerin, die das Rendezvous mit Beria (alias »Squealer«) nicht überlebt. Michael Gniffke, auch er in GerMANIA schon dabei, intoniert mit »Kantorenstimme in Tenorlage« die revolutionären Litaneien Snowballs, jener Referenzfigur zu Trotzki, der als einer der Väter der Revolution von ihr verschlungen wurde. Und die stupende Holly Flack voltigiert als die hübsche Schimmelstute Mollie in einem vokalen Bereich, der sich mit »Königin der Nacht aufwärts« charakterisieren ließe. Aber auch alle anderen Solisten sowie Chor und Kinderchor haben ebenso fordernde wie dankbare Aufgaben zu bewältigen.


Angesprochen auf eine Botschaft oder Aussage seiner Oper, zitiert Raskatov Puschkin, der am Ende eines anderen Märchens (des Märchens vom goldenen Hähnlein) sagt: »Das Märchen ist Lüge, doch enthält es einen Wink, den gute Leute sich zu Herzen nehmen!« Kein Zweifel, die Grundfrage von Animal Farm bleibt im »postfaktischen« Zeitalter des Populismus für das seit den Nullerjahren im Eiltempo re-stalinisierte Russland ebenso wie für den Westen auf bedrängende Weise akut: Wie ist es möglich, dass Volksführer sich bei der Durchsetzung rücksichtsloser Macht- und Eigeninteressen einer manipulativen Rhetorik von Freiheit, Sicherheit und Selbstverteidigung bedienen?