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© Ruth Walz
Szenenbild Lohengrin, Salzburger Osterfestspiele 2022

»Wir erzählen einen Thriller«

at Um mit der verbotenen Frage ins Haus zu fallen: Wer ist Lohengrin?

sm Zunächst ein Unbekannter, von dem sich eine Beschuldigte Unterstüt- zung erhofft. Was ist die Ausgangslage? Eine Frau, Elsa, steht unter Mordverdacht, sie wird angeklagt, ihren jüngeren Bruder Gottfried getötet zu haben. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung. Und dieser Unbekannte setzt sich nur unter der Bedingung für sie ein, dass seine Anonymität gewahrt bleibt, nach »Nam’ und Art« nicht gefragt wird. Doch kaum hat dieser Fremde die Szene betreten, scheint der Anlass seines Erscheinens vergessen: Niemand fragt mehr nach dem Opfer des vermuteten Verbrechens. Warum spielt die Tat plötzlich keine Rolle mehr? Woher rührt die kollektive Amnesie derer, die gerade erst die Anklage vernommen haben? Wie soll man sich erklären, dass der die Handlung auslösende Casus gleich wieder verschwindet?

at Vielleicht, weil dieser Fremde umstandslos als Wundermann verklärt wird, der sämtliche Konflikte zu lösen verspricht. Alle sind gebannt von einem Typen, der nichts von sich preisgibt, niemand fordert ihn heraus. Warum eigentlich?

jw Lohengrin ist eine Vision, ein Mystery Man, den die Angeklagte als Erlöser aus höchster Not inszeniert, um sich ihrer Wahrheit oder Unwahrheit, ihrer Schuld am Verschwinden des Bruders, nicht stellen zu müssen. Elsa spielt das so perfekt, so suggestiv, dass die Öffentlichkeit ihr glaubt. Mit dieser Materialisierung einer wahnhaften Hoffnung versucht sie zu verdrängen, was wirklich geschehen ist –
verblüffend erfolgreich!

at Ein Fall von Massenhypnose?

av Genau. Dieser Retter wird von Elsa mehrmals angerufen, ja, geradezu beschworen, bevor er sich zeigt. Alle lassen sich mitreißen in eine Art Trance.

at Müsste die Oper dann nicht eher »Elsa« heißen?

av Ich fand von Anfang an, dass das Stück eigentlich so heißen müsste, und mich hat überrascht und gefreut, dass Christian Thielemann, der die musikalische Leitung innehat, das ebenso sieht.

sm Zweifellos war Elsa für Wagner die Hauptfigur. Sie erfindet Lohengrin, projiziert ihn in die Wirklichkeit, wie eine Künstlerin. Das ganze Stück dreht sich letztlich um sie. Deshalb ist für uns die Beschäftigung mit Elsa der Ausgangs- und Angelpunkt. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass sie bereits vor Beginn des erzählten Geschehens in der Defensive ist. Nicht erst als Angeklagte. Obwohl sie die Erstgeborene ist, bleibt sie durch ihr Geschlecht von der Erbfolge ausgeschlossen, der Thron ist dem jüngeren Bruder vorbehalten. Aus machtpolitischen Gründen soll sie einen Mann heiraten, den sie nicht will, Friedrich von Telramund. Wir haben es also mit einer Frau zu tun, die unter einem existenziell bedrohlichen gesellschaftlichen Druck steht.

at »Lustwandelnd führte Elsa den Knaben einst zum Wald, doch ohne ihn kehrte sie zurück«, behauptet Friedrich von Telramund vor König Heinrich und der Menge. Ob sie Gottfried tatsächlich umgebracht hat, wissen wir allerdings nicht.

sm Eine Reihe von Indizien deutet aber darauf hin. Im zweiten Akt erfahren wir, dass es sogar eine Augenzeugin der Tat gibt: Ortrud.

at Die Behauptung einer Rivalin, die in undurchsichtiger Lage eigene Interessen verfolgt...

av Ortrud wird ja gern unterstellt, dass sie die Böse ist und deshalb die Unwahrheit sagt. Interessant wird es, wenn wir mal davon ausgehen, dass nicht sie, sondern Elsa lügt. Wenn wir also die Zuschreibungen überdenken, die diese beiden Frauenfiguren normalerweise erfahren.

at Die Zweifel, die Ortrud unter dem Eindruck der Massenhysterie um einen Guru ohne Herkunft und Namen artikuliert, sind natürlich berechtigt. Spricht durch sie die Stimme der Vernunft?

jw Ja. Es ist Ortrud, die eine Herrschaft des Irrationalen aufziehen sieht.

sm Mit Lohengrin greift ein Messias ein, der für eine neue Religion steht. Wirkung und Macht kann dieses neue Evangelium nur entfalten, wenn man ohne Wenn und Aber an ihr Erlösungsversprechen glaubt. Ortrud verweigert sich dieser Heilserwartung und dem kollektiven Taumel. Deshalb wird sie als das Böse schlechthin gebrandmarkt.

at Ihre Grundthese lautet: Elsa war’s. Führt Wagner uns vor allem ihre Ver­suche vor, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen?

jw Elsa hätte viele Gründe, sich des Bruders zu entledigen. Die Tat selbst liegt vor Beginn der Handlung, man weiß nichts Genaues. Aber Elsa legt alles darauf an, die Spuren zu verwischen und das Trauma des Mordes mit etwas anderem zu überdecken. Warum sehnt sie sich diesen wundersamen Retter herbei? Weil er die Erinnerung an den Bruder überstrahlt, nicht nur ihre eigene, sondern auch die der anderen. Weil er jemand ist, der Erlösung von allem Übel verheißt. Von dieser Mission muss sie alle überzeugen. Psychologisch gesprochen offenbart Elsa die Symptome eines Borderlinesyndroms: Sie steigert sich in etwas hinein, an das sie glauben muss, um weiterleben zu können, und dabei geht es nicht nur um ihre eigenen Ängste, sie spielt auch mit den Ängsten der Masse. Aber wie bei jedem guten Krimi ist nicht die Auflösung eines Verbrechens das Interessante, sondern das, was durch ein unaufgelöstes Verbrechen in einer Gesellschaft in Bewegung gerät.

at Welche Rolle kommt dem sächsischen König Heinrich in dieser Gemengelage zu? Er bringt ja nicht nur ein Gerichtsverfahren auf den Weg, sondern verhandelt mit den Brabantern über ein politisches Bündnis, um sein Reich gegen »der Ungarn Wut« zu stärken.

sm Auch Heinrich ist ein Spieler. Er fällt mit seiner Armee in einen kleineren Staat ein und behauptet dann, er wolle Frieden stiften. Was sich da abspielt, durch diplomatischen Politikersprech kaschiert, ist nichts anderes als eine feindliche Übernahme. Schon im ersten Akt lässt Wagner auch musikalisch gewaltig die Säbel rasseln, was es unmöglich macht, an ein Friedensmandat zu glauben. Es sollte uns bewusst sein, dass hier ein fremdes Heer eine Zivilgesellschaft überfällt, die ganz andere Probleme hat, zu denen jedenfalls nicht die Ungarn zählen, wie wir explizit erfahren. Welche Folgen die Okkupation für diese Gesellschaft hat, können wir das ganze Stück hindurch verfolgen.

jw Wir werden zu Zeugen einer Generalmobilmachung. Heinrich nutzt die politische Schwäche Brabants nach dem Tod von Elsas und Gottfrieds Vater, um das Gebiet unter seine Herrschaft zu zwingen. Und koaliert mit Leuten, die seine Interessen durchzusetzen versprechen – erst mit Telramund, dann mit Lohengrin. Er sieht in ihnen vor allem Instrumente zur Umsetzung seiner Agenda. Er kennt keine Sachsen, Thüringer, Brabanter mehr, sondern nur noch Deutsche. Das erinnert an Kaiser Wilhelm II. vor dem Ersten Weltkrieg. Von dem Machtvakuum während des Interregnums profitiert auch Elsa. Nur weil Brabant führerlos ist, die patriarchalen Strukturen aufgeweicht sind, kann sie mit ihrem ernsten Spiel um einen Retter erheblichen Einfluss gewinnen.

av Ich finde, es ist schöner, die Geschichte dieser Militarisierung nicht ins Märchenhafte laufen zu lassen, sondern konkret zu erzählen. Elsas Vision eines Retters überstrahlt nicht nur den Mord an Gottfried, sondern auch die Einnahme Brabants durch König Heinrich als politische Einflusssphäre: Das Stück beginnt mit einer Invasion, der sich die Überfallenen freilich beugen, sie ziehen ja bald mit, am Ende verfügt Heinrich über ein Riesenheer.

»Mit Lohengrin greift ein Messias ein, der für eine neue Religion steht.«

 

at Wagners Musik zielt auf Überwältigung, viele seiner Verehrer lassen sich gern vom Sog der Klänge berauschen. Gerade die Lohengrin-Figur war dabei ein besonderes Objekt identifikatorischer, zumal deutsch- imperialer Vereinnahmung. Wirkt diese »romantische Oper« wie eine Droge?

sm Diese Gefahr besteht durchaus. Umso größer ist die Freude, all die im Verlauf der Rezeptionsgeschichte eingeschliffenen, manchmal fast gusseisern verfestigten »Gewissheiten« über das Stück aufzubrechen.

av Wir erzählen keine Heilsgeschichte, sondern einen Thriller. Ein Mord soll aufgeklärt werden. Schon diese kriminalistische Perspektive sprengt den Erwartungshorizont.

at Wagner hat in Bezug auf Lohengrin vom traurigsten Ende aller seiner Opern gesprochen. Es gibt eine komponierte, aber nicht in die Partitur aufgenommene Stelle, wo man »einen zarten Gesang, wie von der Stimme des Schwanes [der Lohengrins Nachen zieht) gesungen«, vernimmt. Es ist die Stimme Gottfrieds: »Am Ufer harrt mein Schwesterlein, das muss von mir getröstet sein.« Lassen Sie Gottfried während der letzten Takte auftreten?

sm Die von Wagner verworfene Passage verwenden wir nicht, aber in der Tat kehrt Gottfried wieder. Diese Rückkehr eines verschollenen und vergessenen Mordopfers ist ein surrealer Moment...

jw ... vorgegeben durch ein Werk, dem man mit einer realistischen Ästhetik nur bedingt beikommt. Es bleibt ein unerklärlicher Rest, den man nicht unterschlagen sollte. Andererseits: Der tote Gottfried erscheint als das verdrängte Corpus Delicti. So verweist das Ende auf jenes dem
Prozess vorausgegangene Ereignis zurück, das im Zentrum des ganzen Werks steht – den Bruder­mord.