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Winterreise ist für mich das Paradies

KS Ferruccio Furlanetto, an der Wiener Staatsoper zuletzt als Banquo und Gremin zu erleben, wird im November im Haus am Ring ein ganz neues Terrain betreten und Schuberts Winterreise interpretieren.

Sehr geehrter Herr Kammersänger, gehen wir gleich in medias res: Gibt es für Sie innerhalb des "Winterreise"-Zyklus so etwas wie einen besonderen Liebling oder handelt es sich bei den 24 Liedern um gleichberechtigte Lieblinge?

KS Ferruccio Furlanetto: Ich würde es so formulieren: Es handelt sich um 24 Lieblinge, allerdings

– anders, als man es bei eigenen Kindern machen würde – bevorzuge ich einige. Das ist eine ganz persönliche emotionale Entscheidung, die erstens selbst für mich nicht zwingend für alle Zeit in Stein gemeißelt ist und zweitens für das Publikum nicht wahrnehmbar sein sollte. Konkret heißt das: Den zweiten Teil finde ich zur Zeit insgesamt intimer und zugleich intensiver als die ersten zwölf Lieder, wobei Wirtshaus, Nebensonnen und Leiermann dann noch einmal als ganz spezielle Geniestreiche dieses zweiten Teiles herausragen, kleine Meisterwerke, mit denen man zunächst sich und dann in Folge die Zuschauer beschenkt.

Bezüglich der Grundaussage des populären „Lindenbaumes“ wird oft darüber diskutiert, ob nicht bereits hier die Möglichkeit des Selbstmordes erwogen wird.

KS Ferruccio Furlanetto: Ich gehöre zu der anderen Fraktion, zu jenen, die im Lindenbaum noch den Hoffnungsschimmer erkennen. Der Selbstmordgedanke als einziger Ausweg – und es ist klar, dass am Ende der Selbstmord steht – wird erst in den Nebensonnen evident und zwar mit dem Satz: „Nun sind hinab die besten zwei, ging nur die dritt’ erst hinterdrein, im Dunkeln wird mir wohler sein“. Der Leiermann schließlich symbolisiert für mich die Asystolie, die Nullinie beim EKG, mit anderen Worten den Tod.

Hierzulande betont man gerne, dass Freud nicht zufälliger Weise in dieser morbid-verhangenen Wiener Atmosphäre seine Psychoanalyse begründet und Schubert nicht zufälliger Weise hier u.a. seine Winterreise komponiert hat. Empfindet ein Italiener die Musik Schuberts stellenweise nicht als etwas ungewöhnlich Dunkles?

KS Ferruccio Furlanetto: Vor allem die Winterreise wird für italienische Sänger wohl tatsächlich ein sehr unbequemes Feld sein, da ich nur sehr wenige aus meiner Heimat kenne, die diesen Zyklus gesungen oder gar eingespielt haben. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: technisch ist Winterreise keine besondere Herausforderung, man könnte sie, ohne irgendwelche stimmliche Blessuren, dreimal täglich aufführen. Das Schwierige liegt im Finden der unzähligen Farben, dem Herausarbeiten und Vermitteln der jeweiligen Lied-Atmosphäre – ich bin nach den knapp anderthalb Stunden, die dieser Zyklus dauert, seelisch vollständig ausgepowert. Nichtsdestotrotz oder vielleicht sogar auf Grund der hohen psychologischen und emotionalen Spannung, die das Interpretieren dieser 24 Lieder erfordert, bedeutet die Winterreise für mich schlichtweg das Paradies, vergleichbar mit Don Quichotte von Massenet und Boris Godunow von Mussorgski.

Wann haben Sie dieses Paradies entdeckt?

KS Ferruccio Furlanetto: Ich habe es nicht wirklich selbst entdeckt, sondern wurde vom Pianisten Alexis Weissenberg gewissermaßen hingeführt. Wir hatten am Beginn der 90er-Jahre ein russisches Konzertprogramm erarbeitet, und im Zuge der Vorbereitungen erklärte er eines Tages ganz unerwartet, dass unser nächstes Projekt Schuberts Winterreise werden könnte. Ich war etwas verblüfft, weil ich diese Möglichkeit nie in Erwägung gezogen hatte, begann mich aber sogleich intensiv mit dem Werk zu beschäftigen – studierte die Noten, setzte mich mit Aufnahmen auseinander und arbeitete mich Schicht für Schicht tiefer in diesen unendlich weiten Kosmos hinein. Als ich dann die wunderbare Einspielung von Hans Hotter aus dem Jahr 1942 hörte, entbrannte in mir endgültig das Feuer der Liebe zu diesem Zyklus. Meine Auseinandersetzung, mein Ringen mit der Winterreise dauerte schlussendlich rund 15 Jahre, ehe ich mich mit ihr an die Öffentlichkeit wagte. Und diese lange Zeit war notwendig. Ich wollte nämlich diese Schatzsammlung möglichst tief in meinem Herzen versenken, sie sollte emotional ein Teil von mir werden – oder ich von ihr. Dass dieses Ringen niemals aufhören wird und sich mein Blick von Auftritt zu Auftritt weitet und neue Möglichkeiten und Details offenbar werden, liegt in der Natur der Sache bei einer solch in jeder Hinsicht gewaltigen und epochalen künstlerischen Evokation.

Sie stehen quasi unentwegt auf einer Opernbühne, werden von den besten Opernorchestern begleitet. Haben Sie schon daran gedacht, die Winterreise einmal mit Orchesterbegleitung aufzuführen?

KS Ferruccio Furlanetto: Bei manchen Liedern von Mussorgski, die sowohl mit Klavier- als auch mit Orchesterbegleitung vorliegen, ist die Orchesterfassung die eindeutig interessantere. Die Winterreise hingegen ist extrem fragil, delikat, intim – sie kann nur mit der originalen Klavierbegleitung optimal zum Leben erweckt werden. Außerdem müsste der Sänger bei einem großen Orchesterapparat stimmlich mehr geben, was auf Kosten der Farbgebung, des Nuancenreichtums ginge. Nein, bei der Winterreise kann nur ein Pianist Partner auf der Bühne sein.

Andreas Láng