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WELCHE ORDNUNG DER DINGE?

Für ein künstlerisches Institut, wie die STOP eines ist, darf sich die historische Besinnung nicht auf das Antiquarische, Phänomenologische, Konservatorische beschränken. Denn in der Kunst sind Gegenwart und Geschichte eins, beide sind unaufhörlich im Fluss, wenn sich die Gegenwart wandelt, wandelt sich auch die Vergangenheit – und umgekehrt. Unsere Geschichtsbefragung kann uns zur Erfahrung der Relativität unserer Definition von Tradition und unseres Umgangs mit Tradition ertüchtigen. Die historische Besinnung ist also ein wesentliches Medium, in dem die richtigen Fragen und mögliche Antworten für uns in der Gegenwart beschäftigende Probleme zu entdecken sind. In den Worten Walter Benjamins: Es gilt „die Konstellation zu erfassen, in die unsere eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist“. An diesem Anspruch orientieren sich die folgenden Ausführungen Zum Repertoire der Opernbühnen des 17. und 18. Jahrhunderts.

1762 wird am Wiener Burgtheater Orfeo ed Euridice uraufgeführt. Die Autoren, zu denen neben dem Dichter Calzabigi und dem Komponisten Gluck auch der Choreograph Angiolini zählt, versuchen mit dieser Aufführung die Intentionen ihrer Opernreform modellhaft zu verwirklichen. Die Ambition ihres Projektes dokumentiert sich auch darin, dass auf Betreiben und mit finanzieller Unterstützung des kulturpolitisch Verantwortlichen, des Wiener ›General- Spektakel-Intendanten‹ Graf Giacomo Durazzo ein Partiturdruck veranstaltet wird. Die Tragweite dieses Ereignisses mag man daran ermessen, dass der letzte Druck einer italienischen Opernpartitur damals 125 Jahre zurücklag.

Das Staunen über diesen Umstand führt ins Herz unserer Fragestellung und verweist auf die völlig andere „Ordnung der Dinge“ im Musiktheater des 17. und 18. Jahrhundert, eine Ordnung, deren Nachwirkung bis weit ins 19. Jahrhundert hineinreicht.

Gewiss: in Frankreich galt der Brauch, dass die Partitur jeder an der Académie Royale de Musique, also am Pariser königlichen Opernhaus aufgeführten Oper auch verlegt wurde. Doch nur in geringem Maße spielten hierbei aufführungspraktische, verbreitungstechnische, urheberrechtliche oder kommerzielle Erwägungen eine Rolle. In diesen Publikationen ging es – wie auch bei den wenigen Drucken aus der Frühzeit der italienischen Oper – um die Dokumentation fürstlicher bzw. absolutistischer Prachtentfaltung. Ganz wie in den mächtigen Folianten, in denen neben Prozessionen und Maskenbällen aus Anlass einer Haupt- und Staatsaktion auch das Feuerwerk „verewigt“ wurde, wollen diese Partiturdrucke die Wiederholbarkeit des Ereignisses sichern, im Gegenteil: sie möchten die Einmaligkeit einer möglichst unüberbietbaren Verausgabung dokumentieren! Für eine ebenso triumphale wie flüchtige Apparition wird eine gleichsam über- oder außerzeitliche Bedeutung beansprucht.

Der Beginn des Prozesses, in dem sich ein bis heute noch weitgehend verbindlicher Kanon des Opernrepertoires zu formieren begann, wird zu Recht auf Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts datiert; regelmäßig übersehen wird dabei, dass auch die Opernbühne des 17. und 18. Jahrhunderts ein stabiles Repertoire an Zugstücken besaß. Dieses war allerdings – und nur für die Ohren eines in den Anschauungen des späten 19. befangenen frühen 21. Jahrhunderts klingt dies paradox – nicht durch Partituren, sondern durch Texte und Sujets definiert (die der antiken Historie, der Mythologie oder der Renaissance-Epik entnommen waren).

Richtig wäre es, den Gedanken zuzulassen, dass es unmöglich ist, die Geschichte des Musiktheaters als die Geschichte seiner Komponisten sinnvoll zu erzählen, und dass der Autor z. B. der Clemenza di Tito nun einmal weder Hasse, noch Gluck, noch Jommelli, noch Mozart heißt, sondern Pietro Metastasio (1698-1783) – jener Dichter am Wiener Kaiserhof, der eine wichtige Stimme der europäischen Aufklärung war, dessen Dichtungen die Spielpläne der Opernhäuser ab den 1730er Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts dominierten – und dass die genannten Komponisten nichts anderes als diesen „Klassiker des Operntheaters“ in ihrer eigenen „musikalischen Neuinszenierung“ auf die Bühne gebracht haben.

Der Mangel an historischer Differenzierung führt dazu, dass etwa in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, einem Standardwerk, in dem die Artikel zu den einzelnen Opern alphabetisch nach Komponistennamen sortiert sind, die Handlung einzelner „Drammi per musica“ des 18. Jahrhunderts unter den wechselnden Komponistennamen gleich mehrfach nacherzählt wird. Damit zusammen hängt die Unsitte, Komponisten als Autoren von „Drammi per musica“ zu bezeichnen, wie dies von CD-Covern bis hinauf zu „kritischen Gesamtausgaben“ geschieht. Denn Dramma per musica kann – schlicht vom Wortsinne her – nur ein literarisches Genre bezeichnen, dessen Autor eben ein Zur Vertonung bestimmtes Drama schreibt, also ein rein sprachlich ausformuliertes Theaterstück, dessen formale und metrische Gestaltung auf seine anschließende Vertonung zugeschnitten ist.

»Metastasios Didone abbandonata [Verlassene Dido, aus dem Jahr 1724] errang [im Jahr 1749] in der Wiener Vertonung Jommellis ihren bisher größten Erfolg.«

Diese Formulierung eines Zeitgenossen macht explizit, dass die unterschiedlichen Vertonungen der Didone im Verständnis der Zeitgenossen nicht etwa unterschiedliche Werke darstellten, sondern verschiedene Inszenierungen ein- und desselben Werkes.

Ein Partiturdruck der an kommunalen Theatern uraufgeführten Opern erübrigte sich nicht nur, weil für die zeitlich eng begrenzte Serie der Aufführungen neben dem Autograph eine oder zwei handschriftliche Partiturkopien völlig ausreichten. Im Idealfall hatte der Komponist die individuellen Möglichkeiten des ihm zur Verfügung gestellten Apparats, vor allem natürlich der engagierten „compagnia di canto“ (des Sängerensembles) so weit zu steigern und auszureizen gewusst, dass eine Wiederaufführung unter veränderten personellen Bedingungen kaum sinnvoll oder auch nur möglich erschien.

Der Begriff „rivestire i versi di note“ („eine Dichtung musikalisch [neu] einkleiden“), mit dem die Aufgabe des Komponisten bezeichnet wurde, zeigt sehr deutlich, dass man die Musik zu den Ausstattungskünsten zählte. Der Ehrgeiz jedes Veranstalters zielte auf die möglichst moderne, wenn nicht gar modische, auf jeden Fall aber möglichst erfolgreiche musikalische „Einkleidung“ des ausgewählten (oder in Auftrag gegebenen) Librettos. Mehrfachvertonungen waren gerade bei den erfolgreichen Stücken die Regel: die Zahl der Vertonungen eines Erfolgslibrettos (etwa Metastasios La clemenza di Tito) oder Erfolgssujets (wie „Armida“ nach Tasso oder „Der rasende Roland“ nach Ariost) ist der Anzahl an Neuinszenierungen vergleichbar, die ein und derselbe Opernklassiker heutzutage erlebt. Und die Komponisten konkurrierten mit ihren Vertonungen damals ganz ebenso miteinander wie im Gegenwartstheater die Regisseure mit ihren Inszenierungen.

Mit anderen Worten: Komponisten waren damals Theaterschaffende! Von den Anfängen der Gattung bis weit ins 19. Jahrhundert zählte die Vertonung zu den Ausstattungs- und Inszenierungskünsten: als eine den jeweiligen Aufführungsbedingungen gemäße, mit diesen daher auch stets wechselnde „musikalische Einkleidung“ oder – wie wir in Analogiebildung zu „mise en scène“ sagen könnten – „mise en musique“ eines Theatertextes.

In einem Brief Metastasios über Jommellis oben erwähnte Wiener Inszenierung der Didone abbandonata von 1749 vermeint man in der Tat, es sei nicht von einem Komponisten die Rede, sondern von einem Regisseur, der die Sänger zu schauspielerischer Intensität und Glaubwürdigkeit beflügelt habe:

»Die Tesi wirkt um zwanzig Jahre verjüngt; Aeneas ist zum Schauspieler geworden, quantum Caffarelliana fragilitas patitur [soweit dies Caffarellis Zerbrechlichkeit zulässt]; die Mattei gibt der kleinen Partie der Selene großes Format und ein Deutscher namens Raff, ein ausgezeichneter Sänger aber eiskalter Darsteller, hat in der Rolle des Iarba seine Natur zu allseitigem Erstaunen überwunden.«

Die längste Zeit der Operngeschichte galt der Dichter als Autor einer Oper, der Komponist war Theaterschaffender. Und ich warne ich davor, diese Perspektive als kulturhistorische Kuriosität abzutun. Gerade durch ihre Beschränktheit bietet sie die Chance, der Relativität und Historizität unserer eigenen Kriterien inne zu werden.

Gewiss – bereits zu Metastasios Lebzeiten überflügelte der „maestro“ (= Komponist) sehr bald den „poeta“ (= Librettisten) an Marktwert und Prestige. Doch machte er diesem nicht etwa als „Autor“ Konkurrenz, sondern als Inszenator eines möglichst virtuos „orchestrierten“ musik-theatralen Events. Die Festkultur des 17. und 18. Jahrhunderts räumte der auktorialen Instanz insgesamt keinen hohen Stellenwert ein, entscheidend war das theatrale „Gesamtkunstwerk“. Dieses hatte den beteiligten Künsten und Künstlern – und das waren in der Oper natürlich in erster Linie die Sänger, aber auch das Orchester, die Bühnenmaschinerie etc. – zu maximalen Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten zu verhelfen. Deshalb war die „Halbwertszeit“ einer Opernpartitur kaum länger als ihre erste Aufführungsserie; wurde eine Oper wiederaufgenommen – was die große Ausnahme war – wurde sie selbstverständlich an die veränderten Aufführungsbedingungen angepasst, und der Komponist versäumte es nicht, ihr bei dieser Gelegenheit stets auch ein musikalisch-stilistisches „update“ zu verleihen.

Im Widmungsschreiben seiner Paride ed Elena-Partitur – 1770 am Burgtheater uraufgeführt – an den Herzog von Braganza warnt Gluck vor deren unautorisierter Aufführung mit den Worten, „die Anwesenheit des Komponisten bei der Aufführung dieser Art von Musik“ sei „sozusagen ebenso notwendig wie die Gegenwart der Sonne bei den Schöpfungen der Natur.“ Auch wenn er hiermit die stilistische Neuheit seiner musiktheatralischen Konzeption betonen will, so ist dieses Postulat doch nichts Außergewöhnliches. Es gehörte zu den selbstverständlichen Vertragsbestandteilen einer jeden „scrittura“ (des Kompositionsauftrags für eine Oper), dass der Komponist die Einstudierung übernahm und die ersten drei Vorstellungen vom Cembalo aus leitete. Und auch die Wiederaufführung einer Oper galt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dann als autorisiert, wenn ihr Komponist bei der Neueinstudierung zugegen war. Nicht, um eine im heutigen Sinne möglichst „werktreue“ Realisation seiner Partitur zu garantieren, sondern im Gegenteil, um die erforderlichen „aggius- tamenti“, also Anpassungen an ihre veränderten Aufführungsbedingungen vorzunehmen: man erwartet die optimale Präsentation der engagierten Sängerpersönlichkeiten sowie aller anderen lokalen künstlerischen und technischen Ressourcen des jeweiligen Theaterbetriebs. Selbstverständlich implizierte diese Arbeit stets auch eine Verjüngung der musikalischen Substanz.

Noch und gerade für den komponierenden Theaterpraktiker Gluck ist weniger die schriftlich fixierte Partitur das Einmalige, sondern die (zeitlich befristete) Konstellation ihrer je einzelnen ›Bauelemente‹ im Rahmen einer konkreten mise en scène. Freilich kann auch eine solche – meist in Folge eines großen Erfolgs – Modellcharakter gewinnen, wodurch das verwendete Material dauerhafter fixiert wird. (Leonardo Leos Artaserse oder Pergolesis Olimpiade) Gleichwohl ist auch deren „Halbwertszeit“ in der Regel nicht viel höher als die einer als exemplarisch empfundenen Inszenierung des 20. oder 21. Jahrhunderts: Mit zunehmender örtlicher und zeitlicher Distanz verblasst sie rasch zum Mythos.

Die Musik leistete damals also ziemlich genau das, was heute eine anspruchsvolle Neuinszenierung leisten sollte, nämlich: eine den künstlerischen Empfindungs- und Ausdrucksmöglichkeiten der jeweiligen Gegenwart gemäße Lesart eines klassischen Sujets zu artikulieren. Ganz ähnlich wie in der heutigen Opernszene die Regisseure mit ihren künstlerischen Neudeutungen klassischer Opern, konkurrierten damals die Komponisten mit ihren Aktualisierungen der tradierten Stoffe.

Den Opernkompositionen des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts wuchs erst nachträglich, in einem lange währenden historischen Prozess, „Werkcharakter“ mit weitgehend verbindlicher Partitur- und Textgestalt zu.

Heute ist der Komponist kein Theaterschaffender mehr. Im Laufe eines im 19. Jahrhunderts einsetzenden, von den Komponisten selbst vorangetriebenen und bis auf weiteres irreversiblen Prozesses ist er zum Autor ge- worden. Mit ihm hat auch die Partitur gleichsam die Fronten gewechselt: Der Verlag und die Internationalisierung des Vertriebs ist seit dem späten 19. Jahrhundert der Realisierung einer Partitur durch das je einzelne Theater – und sei es das Uraufführungstheater – vor- und übergeordnet. Auch rückwirkend hat, was zu seiner Zeit Dokumentation eines transitorischen Ereignisses war, den Status eines autoritativen Textes erlangt:

Die von den alten handschriftlichen Partituren protokollierten zu ihrer Zeit aktuellen musikalischen Interpretationen eines klassischen Sujets oder Librettos sind heute selbst zu „klassischen Texten“ geronnen. Das heißt aber auch: Von sich aus können sie den Gegen- wartsbezug des Theaters nicht mehr sichern, sondern sind ihrerseits angewiesen auf ihre szenische Neu-Interpretation.

Als Gegenbewegung zur Formierung eines musikalischen Werkbegriffs übernahm die Inszenierung mehr und mehr die Aufgabe künstlerisch-kreativer Vergegenwärtigung. Die Spannung zwischen einer zugrunde gelegten historisch-kritischen Partituredition einerseits und einer szenischen Neufindung andererseits, die heute anspruchsvolle Opernaufführungen charakterisiert, ist daher kein Widersinn. Beides bedingt sich wechselseitig und ist objektives Resultat des hier angedeuteten historischen Prozesses. Der altbackene Protest gegen die Selbstermächtigung des sogenannten „Regietheaters“ auf Kosten und zu Lasten von „Werktreue“ hat also den großen Nachteil, genau das zu sein, was er den Theatermachern vorwirft: nämlich ahistorisch und, nun ja, „geschichtsvergessen“, eben weil er nicht auf die kontinuierlichen Verschiebungen und Paradigmenwechsel im Verhältnis der Parameter reflektiert, die in musiktheatralischen Ereignissen zusammentreten.

Die Gegenwartskunst des Theaters gewinnt durch Reproduktion, und sei sie noch so vollendet, keine Relevanz. Insofern ist in den Leitungsteams heutiger Opernproduktionen keineswegs der Dirigent als Nachfolger des Komponisten anzusehen. Dessen vitale Funktion als produzierender Künstler, als Theaterschaffender ist im heutigen Musiktheater (auf dessen Spielplänen UA die seltene Ausnahme darstellen) an die Regie übergegangen. Sie ist verantwortlich dafür, die Automatismen der im Kulturbetrieb ritualisierten und kommerzialisierten Reproduktion einer Partitur zu unterbrechen, um ihr erneut ästhetische Gegenwärtigkeit zu verleihen, sie in die Gegenwartskunst des Theaters zu überführen. Mit anderen Walter Benjamins Worten, mitveranwortlich dafür, die „im Triumphzug der Zivilisation“ mitgeschleppten „Kulturgüter“ immer wieder „von neuem dem Konformismus abzugewinnen“.

→ SERGIO MORABITO studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen bis zum Diplom. Regie- und Dramaturgie-Hospitanzen an der Oper Frankfurt, u.a. beim Ring von Ruth Berghaus. An der Staatsoper Stuttgart seit 1993 als Dramaturg und Regisseur, von 2011 bis 2018 auch als Chefdramaturg tätig. 1993 begann seine Zusammenarbeit mit dem vom Schauspiel kommenden Regisseur Jossi Wieler. Gemeinsam und meist an der Seite der Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebrock inszenierten sie weltweit Opern von Monteverdi bis Mark Andre. Morabito publizierte Beiträge zu Fachzeitschriften und Sammelbänden, übersetzte Libretti aus dem Italienischen, Französischen und Russischen, lehrte an Studiengängen der Universitäten Frankfurt, Leipzig und Stuttgart, leitete Workshops beim Moskauer Territory-Festival, ist Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und Ehrenmitglied der Staatstheater Stuttgart. 2011 veröffentlichte er mit dem Fotokünstler A. T. Schaefer das „Bilder-Lese-Buch“ OPER, 2019 erschien sein Buch „Opernarbeit. Texte aus 25 Jahren“. Seit dieser Spielzeit ist er Chefdramaturg der Wiener Staatsoper.