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© Nikolaj Lund
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Viel mehr Freiheit als man denkt

Die höchste Staatsopern-Auszeichnung für Dirigenten? Die Ehrenmitgliedschaft – und noch wichtiger: die Zuneigung des Publikums. Beides hat Adam Fischer, der im September sein 50jähriges Staatsopern-Jubiläum feierte. Im Haus am Ring wirkte er zunächst als Korrepetitor, seit 1980 leitete er in acht Direktionen über 400 Opernabende. Zeit für ein Gespräch über das Vertrauen ins eigene Gespür, über das Talent fürs Theater und über die tiefe Tragik in Mozarts Le nozze di Figaro.


OL Maestro Fischer, Anfang September feierten Sie 50 Jahre Wiener Staatsoper: Am 3. September 1973 begannen Sie hier zunächst als Korrepetitor. Können Sie sich an diese Zeit noch erinnern?
AF Oh ja! Zunächst studierte ich hauptsächlich im damaligen Opernstudio Rollen mit jungen Sängerinnen und Sängern ein, die diese oftmals erst viel später gesungen haben. Das Schönste war, als ich mit einer jungen slowakischen Sängerin arbeitete, die laufend auf die Direktion schimpfte, weil sie ihrer Meinung nach zu wenig Auftritte bekam. Die Sängerin war Edita Gruberova. Später korrepetierte ich auch im großen Haus, und ich erinnere mich, dass Karl Böhm mich einmal mit folgenden Worten aus einer Probe warf: »Junger Mann, das Schwarze sind die Noten, das Weiße das Papier. Sie sollen nur das Schwarze spielen!« Ich war entsetzt, tieftraurig und weinte fast. Erst später erfuhr ich, dass er das mit jedem jungen Korrepetitor gemacht hat.

OL Sie sind praktisch im Theater aufgewachsen, schon als Kind lernten Sie die Bühne kennen.
AF Meine ersten Erfahrungen machte ich schon sehr früh, als ich im Kinderchor des ungarischen Rundfunks in der Budapester Oper auftrat. In Boris Godunow zum Beispiel. In Otello und später in der Zauberflöte als dritter Knabe. Letztes war für mich ein so intensives Erlebnis wie niemals wieder, ich war der Oper förmlich verfallen. 

OL Ist das profunde Verständnis des Theaters, wie Sie es haben, erlernbar? Oder ist es ein Talent?
AF Da müsste ich sehr weit ausholen. Vielleicht so viel in Kürze: Wer nicht in der Lage ist, spontan im Augenblick zu reagieren, der kann vielleicht ein Kammerorchester mit einem Mozart/Haydn-Programm gut dirigieren, nicht aber eine Opernvorstellung. Denn das Einzige, worauf man sich im Musiktheater verlassen kann, ist: dass etwas Unvorhergesehenes passieren wird. Vielleicht ist das Reagieren-Können eine Begabung. Aber lernen muss man es auch… Ich jedenfalls genieße es immer, wenn man spontan sein muss.

OL Und lassen Sie in der Einstudierung bewusst Freiräume, die Sie dann in der Aufführung ausfüllen?
AF Das kann man so allgemein nicht festlegen, weil es unterschiedliche Produktionen mit unterschiedlichen Anforderungen gibt. Und ganz unterschiedliche Opernhäuser. Ob man in Brüssel oder an der Wiener Staatsoper auftritt: das ist ein Unterschied. Ob man sechs Wochen probiert hat und dann alle Vorstellungen in einer Serie spielt oder Repertoire übernimmt: das auch. Ganz generell gilt aber für mich: Es muss letztlich immer wie Kammermusik sein. Als Dirigent besteht meine Aufgabe darin, die Ideen der Sängerinnen und Sänger, aber auch des Orchesters aufzugreifen und zu verwirklichen. Mit anderen Worten: Ich will nicht alles bestimmen. Also eine Art Papst: Ich herrsche, um zu dienen. Ein guter Operndirigent ist derjenige, bei dem die Sängerinnen und Sänger besser singen als sonst. Alles zuhause planen und vorbereiten – das wird nicht funktionieren.

OL Gerne wird Herbert von Karajans Satz, dass ein Dirigent 40 Jahre Erfahrung braucht, um gut zu sein, zitiert. Sie stimmen dem zu, wie in Ihrer Biografie zu lesen ist.
AF Man muss mit 20 anfangen, um mit 60 dirigieren zu können. Da hat Karajan recht gehabt. Wobei es ja ganz unterschiedliche Arten von Dirigenten gibt. Mitunter entstehen künstlerische Vorstellungen aus den Voraussetzungen, die jemand hat. Um boshaft zu sein: Wenn ich schlagtechnisch nicht in der Lage bin, Rubati zu dirigieren, behaupte ich bald, dass das Tempo immer ganz exakt gehalten werden muss, weil dies der wahre Wille des Komponisten sei. Ein solches Verhalten, wenn man aus der Not eine Tugend macht, ist jedoch eine Falle! Man muss wissen, was man kann – und was man nicht kann. 

OL Ist das ein Zustand der Reife, wenn man das erkennt und weiß?
AF Ich weiß nicht. Zurückkommend auf das, was Karajan gesagt hat: 40 Jahre sind nicht genug. Zumindest ich entdecke, auch nach 50 Jahren, bei jedem Auftritt Neues. Das ist übrigens mein Problem mit meinen eigenen CD-Aufnahmen: Ich kann sie nicht hören, weil ich inzwischen alles anders machen würde und mich ärgere, wie ich es vor zwei Jahren angelegt habe. 

OL Geht es bei dem Anders-Machen um Handwerkliches oder Musikalisches?
AF Durchaus auch Handwerkliches. Zum Beispiel: Es geht um den richtigen Blickkontakt mit Musikerinnen und Musikern, also: wann man wen wie anschauen muss. Ich muss zum Beispiel den jüngeren, unerfahrenen Musiker anders anblicken als einen alten Fuchs. 

OL Wenn der heutige Adam Fischer auf den Adam Fischer von 1973 träfe: was würde er ihm raten? 
AF Vielleicht würde ich mir zu ein bisschen mehr Zutrauen ins eigene Können und zu etwas weniger Respekt vor der Konkurrenz und vor dem Beruf raten. Denn ich hatte vor allem und jedem Respekt, vor den Kollegen, der Aufgabe, den Komponisten. Nur vor meiner eigenen Meinung hatte ich keinen. Natürlich: Ich darf nicht alles machen, was mein Geschmack sagt. Aber er sollte in die Aufführung einfließen. Und genau das wollte ich am Anfang ausschließen.

OL Aus Angst, etwas falsch zu machen?
AF Ich will nicht missverstanden werden: Die Partitur ist für uns die Bibel. Aber wie Sie die Partitur lesen, wie sie zu verstehen ist, das habe ich anfangs nicht begriffen: Man soll nicht die einzelnen Töne betrachten, sondern die Logik hinter dem Ganzen. Denn es gibt in der Partitur viel mehr Freiheiten für die Musikerinnen und Musiker, als man denkt – und diese sollen auch genützt werden. Man darf die Noten also nicht einfach computermäßig exekutieren, vor allem aber darf man die eigene Persönlichkeit nicht außer Acht lassen. 

OL Und das »Wie« hängt auch vom jeweiligen Abend ab? Wer etwa im Falle von Nozze di Figaro die Susanna singt?
AF Ja, natürlich. Ich muss sofort spüren, was die Susanna kann und was der Graf. Ich muss das fördern und fordern, was sie am besten beherrschen und ihnen helfen, das zu verstecken, was nicht so gut geht. Ganz vereinfacht ausgedrückt: Wenn der hohe Ton gut sitzt, dann muss ich einer Sängerin Zeit lassen, ihn zu entfalten. Wenn die Höhe nicht so stabil ist, dann muss ich ihr drüberhelfen. Die Qualitäten der Sängerinnen und Sänger zu kennen, das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Das Problem ist, dass die wenigsten Sänger offen zugeben, was ihre Stärken und Schwächen sind. Sie zu erspüren gehört zum Beruf.

OL Damit sind wir wieder bei der Erfahrung.
AF Nein, nicht unbedingt. Man muss es im Gefühl haben. Ich habe mit etlichen Sängerinnen und Sängern gearbeitet, die ich privat nie getroffen habe. Aber dennoch kannte ich ihren Körper besser als der jeweilige Partner oder die Partnerin. Ich wusste, wie viel Luft er oder sie hat, ich konnte den Rhythmus des Atmens lenken. Um dieses Können zu entwickeln, muss man korrepetiert haben!

OL Bleiben wir bei Nozze. Mozart, die Wiener Klassik, ist musikalisch Ihre Heimat.
AF Ja, mit ihr bin ich groß geworden. Als Kind habe ich viele Mozart-Opern gesehen, Haydn-Symphonien gehört. Ich fühle mich in Wien, in der Wiener Klassik zuhause. Diese ist für mich aber nicht nur Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, sondern geht bis Mahler, Brahms und Richard Strauss. Und wissen Sie was: auch Johann Strauß gehört dazu!

OL Um eine so einfache wie schwierige Frage zu stellen: Was macht Nozze so besonders?
AF Das weiß ich nicht. Aber es ist einfach das Stück! Vielleicht, weil Nozze die erste richtig große Opera buffa ist. Doch sobald ich das über Nozze sage, habe ich das Gefühl, dass ich Così fan tutte und Don Giovanni gegenüber ungerecht bin. Es ist so wie mit meinen Enkelkindern: ich liebe sie alle im gleichen Maße!

OL Und worin drückt sich in Nozze di Figaro die Komödie musikalisch aus?
AF Die Oper ist ja nur der Form nach eine Komödie! In Wahrheit ist sie so traurig wie das Leben. Man weiß sofort, dass es mit dem Ehepaar d’Almaviva genauso weitergehen wird wie zuvor und dass der Graf nächste Woche wieder fremd gehen und die Gräfin wieder unglücklich sein wird. 

OL Als Abschluss noch die Frage nach der besonderen Stelle. Wann geht Ihnen das Herz in Le nozze di Figaro auf?
AF Rein musikalisch kann ich das schwer sagen. Vielleicht im letzten Finale, wenn die Gräfin erscheint? Da zucke ich immer zusammen. Doch würde ich den vielen anderen schönen Augenblicken dieser Oper untreu, wenn ich nur eine wählte. Da beantworte ich diese Frage lieber nicht!
 

WOLFGANG AMADEUS MOZART
LE NOZZE DI FIGARO

4. 6. 9. 12. NOVEMBER 2023

Musikalische Leitung ADAM FISCHER
Inszenierung BARRIE KOSKY

Graf Almaviva MICHAEL NAGY
Gräfin Almaviva GOLDA SCHULTZ
Susanna KATHARINA KONRADI 
Figaro PETER KELLNER
Cherubino PATRICIA NOLZ