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© Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
© Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

ÜBER DAS OPERNPROGRAMMHEFT

Anlässlich der Neugestaltung der Programm­hefte sowie des zusätzlichen Angebotes von englischsprachigen Ausgaben teilt hier der Chefdramaturg der Wiener Staatsoper Gedanken zu diesem Publikations-Format.

Beitrag von Sergio Morabito

Zunächst einmal: Vorbehalte gegenüber Programmheften reichen tief in die Theaterkreise selbst hinein. Der große Bühnenbildner Bert Neumann (1960-2015) veranlasste an der von Frank Castorf und ihm geleiteten Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, dass den Besuchern statt eines Programmheftes ein unbedrucktes Zeichenheft mit Bleistift angeboten wurde, als Aufforderung zu eigener, subjektiver Re­flexion des Gesehenen. Ich vermute, hier war bei Bert auch ein aus der DDR ererbtes, standesbewusstes Künstler-Misstrauen wirksam. Dieses kannte öffentliche dramaturgische Formulierung in erster Linie als ideologische Absicherung: Das Programmheft als vorgeblich linientreue Mogelpackung, die die künstlerische Arbeit und ihr kritisch-subversives Potential vor begrifflicher Festlegung und staatlichem Zugriff schützen musste. Im schlimmsten Fall geriet die Dramaturgie in Misskredit als mit den Autoritäten verschworene Kontrollinstanz, möglicherweise beauftragt, Suspektes auszuspähen und zu denunzieren. Zugleich und zu Recht genießt die in der Brecht- und Felsensteinnachfolge stehende, hochentwickelte und bahnbrechende ostdeutsche Theater- und Musiktheater-Dramaturgie bis heute größtes Ansehen.

Wie in allen Fragen, die mit der Kunst zusammenhängen und die Kunst betreffen, lässt sich auch über das Opern-Programmheft nur in Widersprüchen reden. 

Aber die Frage steht im Raum: Was macht ein Programmheft zu mehr als einem Arbeitsnachweis für die nach wie vor gern mit einem Fragezeichen versehene Existenz der Theater- und Operndramaturgen? Handelt es sich bei Programmheften, wie bei allen mündlichen oder schriftlichen Äußerungen zu einer künstlerischen Arbeit, nicht lediglich um Absichtserklärungen? Absichtserklärungen, die entweder vom Aufführungserlebnis selbst eingelöst werden und somit überflüssig – und wo dies nicht geschieht, noch überflüssiger sind? Der Verdacht, dass Programmhefte einen ideologischen Überbau bieten für manch szenisch Unausgegorenes, ist gewiss nicht stets von der Hand zu weisen. 
Historisch ist das Programmheft aus den von einem (fürstlichen) Mäzen gespendeten oder an der (bürgerlichen) Theaterkasse erhältlichen Libretti entstanden. Diese boten sowohl den vollständigen Text einer italienischen Oper (in dem auch aufführungsbedingte Striche und Veränderungen markiert waren) oder – bei Opern oder Singspielen mit in der Landessprache gesprochenen Dialogen – die Texte der »Gesänge«, die Handlungsangaben der – meist zwischen den Akten gegebenen – Ballette, ein Szenarium mit Erläuterung der Bühnenbilder und Verwandlungen, sowie die vorangestellte vollständige Besetzung mit den Namen der Opern- und Ballett-Solisten und -Kollektive sowie der künstlerischen Leiter der Aufführung (des Textdichters, Komponisten, Konzertmeisters, Choreographen, Bühnen- und Kostümbildners etc.). Zudem enthielten diese Publikationen neben Widmungs- und Ergebenheitsadressen des Impresarios auch das sogenannte »Argomento«, in dem der Textdichter die antiken, mythologischen oder literarischen Quellen sowie Anlage und Verlauf seiner Fabel skizzierte, ähnlich wie wir es heute von der »Handlung«, also der Inhaltsangabe einer Oper oder eines Ballettes gewohnt sind. 
Diese Funktionen sind heute an das Über- bzw. Untertitelungssystem eines Opernhauses übergegangen (um dessen außergewöhnlich vielsprachiges und nutzerfreundliches Angebot die Wiener Staatsoper international beneidet wird) sowie an den Besetzungszettel (der ja auch bei uns im Haus separat zu erwerben ist). Gewiss, anders als heute war das Operntheater des 17., 18. und 19. Jahrhunderts ein Theater der Aktualitäten. Auch da, wo ältere Opernpartituren zur Wiederaufführung kamen, wurden diese stets im Sinne des Zeitgeistes adaptiert. Für uns ist angesichts einer Breite des Musiktheater-Angebots ›von Monteverdi bis Neuwirth‹ die »historische Informiertheit« zu einer entscheidenden Bezugsgröße geworden, und so lässt sich auch der Zuwachs an redaktionellen Beiträgen eines Programmheftes erklären, die motiv-, theater- oder musikgeschichtliche Kontexte einer Oper sowie die musikalische und szenische Lesart des Leitungsteams skizzieren.

Aber können die Impulse, die ein Programmheft gibt, unersetzlich sein, vielleicht sogar über ihren primären Anlass hinauswirken?

Gleichwohl: Ist die zunehmend geübte Praxis, ein Programmheft online zu stellen, nicht ressourcenschonender und damit zeitgemäßer? Und weiter: Verspürt der regelmäßige und kenntnisreiche Opernbesucher – gerade bei Werken des Kernrepertoires, die ihm in vielen Spielzeiten vertraut geworden sind – womöglich keinerlei »Weiterbildungsbedarf«? Und falls doch, lässt dieser sich nicht unabhängiger im Netz verfolgen – wo übrigens auch die Libretti der meisten rechtefreien Opern in Original und Übersetzung zugänglich sind? Gewiss: Ein Programmheft kann einen ganz subjektiven, persönlichen Erinnerungswert an ein bewegendes Theatererlebnis darstellen. Aber können die Impulse, die ein Programmheft gibt, unersetzlich sein, vielleicht sogar über ihren primären Anlass hinauswirken? 
Nicht ablassen darf Dramaturgie heute vom Anspruch, Grundlagenforschung zu betreiben. Nicht aus Hybris oder zum Selbstzweck, sondern um dem ästhetischen Anspruch, der mit jeder Neuinszenierung eines Werkes gestellt ist, gerecht zu werden: Dieser Anstrengung bedürfte es nicht, wäre die Neuinszenierung eines Werkes, gar eines sogenannten Repertoireklassikers, lediglich eine Frage des zeitgemäßen »Designs«, das einem als bekannt vorausgesetzten »Produkt« zu verpassen wäre. Der Dramaturgie obliegt es, nicht einfach »drauflos zu interpretieren«, sondern zunächst einmal die sachlichen Voraussetzungen von Interpretation klären, also die wort- und notentextliche Überlieferung einer Oper auf Fehler, Ungenauigkeiten, Missverständnisse, Auslassungen etc. abzuklopfen, in einem Wort: philologische Textkritik zu betreiben. Die Spannung zwischen dem Drängen auf eine kritische Partitur- und Libretto-Edition einerseits, auf szenische Verwandlung andererseits ist kein Widerspruch, sondern bedingt sich wechselseitig. Denn je genauer und einlässiger Opernarbeit sich an das Studium des literarischen und musikalischen Textes einer Oper bindet, desto radikaler wird sie deren tradiertes Bild verwandeln: »Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück.« (Karl Kraus) Wie alle Kunst stellt auch die Theaterkunst keine Ideen dar, die wir uns von einer Oper machen, sondern setzt sie aufs Spiel: Die Bühne ist die große Unbekannte, das ›X‹ jeder Musiktheater-Gleichung, der Joker, der die Elemente des Spiels immer neu mischt und anordnet, anders in Beziehung und dadurch in Bewegung setzt – mit ungewissem Ausgang. Und das Programmheft versorgt den Zuschauer mit den nötigen Tools, mit denen dieser in das Spiel möglichst intensiv einsteigen kann. 
Walter Benjamin hat einmal das Postulat aufgestellt, »in jeder Epoche« müsse »versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen« (Über den Begriff der Geschichte). Meist ist es der Erfolg eines Werkes, der paradox mit dafür verantwortlich ist, dass ganz vieles »Nicht-ins-Bild-Passende« bewusst und unbewusst verdrängt, vergessen, retuschiert wurde und wird. Hier hat die Dramaturgie essenzielle Erinnerungsarbeit zu leisten, etwa an die fundierte Kritik, die die Ariadne auf Naxos auch und gerade in ihrer Zweitfassung von 1916 in den Köpfen hervorragender Zeitgenossen hervorrief, die aber vom Chor der Apologeten übertönt wurde. Doch gerade jene Züge, die damals negativ bewertet und deswegen tabuisiert wurden, ermöglichen heute präzisere kreative Ansätze als die Behauptung bruchloser Einheit eines sogenannten »Meisterwerks«. Seine immanenten Widersprüche steigern das ästhetische Interesse eines Werkes, statt es zu mindern.
Oft gibt es Abweichungen zwischen gedruckten Librettos und dem im Klavierauszug vertonten Text, die alles andere als vernachlässigbar sind. Selbst im Falle einer so prominenten Oper wie Lohengrin werden solche Abweichungen kaum reflektiert. Man ergänzt unbewusst, was nur im Libretto vermerkt ist, im vertonten Text aber fehlt. Denn dass Ortrud es war, die Gottfried in einen Schwan verwandelt hat, davon wissen Klavierauszug und Partitur nichts; dort bekennt Ortrud lediglich: »am Kettlein, das ich um ihn wandt, ersah ich wohl, wer dieser Schwan: es ist der Erbe von Brabant!« – was der Regie einen neuen Spielraum öffnet, denn jetzt ist das Kettchen nicht mehr Mittel von Gottfrieds rätselhaft bleibender Verwandlung, sondern Mittel seiner Identifikation durch Ortrud. Ein Hinweis, der von einer Regie vernachlässigt werden, für eine andere Regie aber wichtig werden kann. Die Handlungsangabe dieser Oper im Programmheft wird entsprechend unterschiedlich ausfallen. 
Oder denken wir an Bellinis Norma. Bis heute fehlt in kaum einer Verlautbarung zu dieser Oper der Hinweis, am Ende seien Norma und Pollione im Tod auf dem Scheiterhaufen tragisch vereint. Nichts davon steht in der Dichtung, nichts davon in den Noten. Die Apotheose der Oper ist keine Feier der zerstörten Liebe der Eltern, sondern gilt der Rettung der Kinder. Dennoch ist diese Klitterung so eingeübt und zählebig, dass ein Kritiker der Inszenierung dieser Oper bei den Antikenfestspielen zu Trier 2002 der Regisseurin Edda Moser den Vorwurf machen zu müssen glaubte, das »richtige Ende« verweigert zu haben. Auch zur Aufklärung solcher Missverständnisse trägt ein gutes Programmheft bei.
Die Frankfurter Aida (1981) unter der Musikalischen Leitung Michael Gielens und in der Regie von Hans Neuenfels im Bühnenbild Erich Wonders und in Kostümen Nina Ritters gilt als kopernikanische Wende der Opernregie. Im Programmheft zur Aufführung veröffentlichte der Produktionsdramaturg Klaus Zehelein das verschollen geglaubte Original-Szenarium des Librettos, das von dem Ägyptologen Auguste Mariette verfasst worden war. Dieses war erst auf Betreiben der Frankfurter in der Bibliothek der Pariser Oper wiederaufgefunden worden. Dass es sich hierbei nicht um eine antiquarische Quisquilie handelte, machte die Kontextualisierung dieses Fundes durch Zeheleins Essay Archäologie als Metapher deutlich, dessen Perspektive die Ästhetik der bahnbrechenden Aufführung neben dem sozialpolitischen Interesse des Regisseurs entscheidend prägen sollte. 
Im Falle meiner Entdeckung und Auswertung der direkten literarischen Quelle zur Sonnambula mag etwas ähnliches gelungen sein, wie ihre Würdigung durch den Doyen der italienischen Bellini-Forschung Fabrizio della Seta in seiner jüngst (Mailand, 2022) erschienenen Monografie über diesen Komponisten nahelegt (einen Nachdruck bietet das Staatsopern-Programmheft zu dieser Oper). Eine Untersuchung, die die Koordinaten im Nachdenken über Bellinis Oper verschob und erweiterte. Sie tat dies aber nicht als »wissenschaftliche« Zugabe zu einem »künstlerischen« Inszenierungsprozess, sondern prägte und durchdrang diesen Inszenierungsprozess und das künstlerische Gesamtergebnis (Stuttgart 2016). 
Meine theatralische Erstbegegnung mit Monteverdis Ritorno d’Ulisse in patria erfolgte 1992 an der Staatsoper Stuttgart in der Inszenierung des bedeutenden, auch regieführenden Bühnenbildners Axel Manthey. Das Programmheft enthielt einen Auszug aus Hegels Ästhetik, in dem der Philosoph das Verhältnis von Held und Gottheit in der antiken Literatur reflektiert. Das 96 Seiten starke Büchlein und mit ihm dieser Text und die in ihm aufgeworfene Frage hat mich bis heute begleitet und umgetrieben. Dass und wie sich dieser »Knoten« – die Frage also nach der entscheidenden Differenz zwischen Epos und Theater in der Darstellung dieses Verhältnisses –überraschend lösen konnte, zeigt unsere 2023 herausgekommene Wiener Inszenierung des Götterclans in seiner gnadenlosen Manipulation der Sterblichen (im Wiener Programmheft habe ich versucht, diesen Weg nicht vor-, sondern nachzuzeichnen). Ein schönes Beispiel übrigens auch für die Inkubations- oder Latenzzeit eines Opernabends, welche die These von der unmittelbaren Evidenz, dem augenblicklichen »Verstehen-Müssen« einer theatralischen Seh- und Hörerfahrung Lügen straft. 
Wie die Autorin Johanna Adorján jüngst – und wie ich fürchte, nicht zu Unrecht – anmerkte, ist »elitär ein Schimpfwort« geworden, »niemand will mehr der Klügere sein, alle bemühen sich, das angenommene Gesamtniveau ihrer Follower nicht zu überbieten. Damit geht etwas Wunderschönes verloren: dieses Gefühl leichter Überforderung, das uns anspornt, mehr lesen, sehen, lernen zu wollen ... verloren geht unsere Kultur.« (Süddeutsche Zeitung vom 20. Oktober 2023) Gegen diesen drohenden Verlust möchten unsere Programmhefte mit ihrem kleinen Beitrag anarbeiten. Sie berücksichtigen dabei ein breites Spektrum unterschiedlichster Perspektiven und verpflichten sich sehr wohl, auch alle wichtigen, dem heutigen Forschungsstand gemäß kuratierten Basisinformationen zu einem Werk zusammenzustellen. Wir haben keinerlei Ehrgeiz, wissenschaftliche Kompendien vorzulegen, aber berücksichtigen die Forschung da, wo sie ästhetisch relevant wird, wie es hier anhand von Aida und Sonnambula aufgezeigt wurde. Auch wenn wir uns auf eine bestimmte Struktur des Programmheftaufbaus geeinigt haben, so ist diese doch offen und flexibel genug, um von allen Haus- und Gast-Dramaturgen und -Dramaturginnen ihrer subjektiven Intuition und der entstehenden Neuinszenierung entsprechend ausgearbeitet zu werden. Sie möchten keine zusätzliche Hürde darstellen, sondern individuelle Zugänge zu zeitgenössischer Musiktheaterkunst reflektieren und ermöglichen.