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© Petra Hajsk, Czech Philharmonic

Tschaikowski, der ewige Moderne

Mit Tschaikowskis Eugen Onegin leitete Tomáš Hanus Ende Oktober 2020 seine erste Premiere im Haus am Ring. Während der Probenarbeiten sprach der Dirigent, der aktuell Music Director der Welsh National Opera ist, mit Oliver Láng über falsche Traditionen, die Intimität bei Tschaikowski und die Freiheit der Interpretation.

Man kann schlechthin behaupten, dass Eugen Onegin als Oper einer nur nationalen Zuschreibung entwachsen ist und seit langem zum Weltkanon zählt. Zur Uraufführungszeit war es aber alles andere als flagrant, was musikalisch »russisch« ist oder sein soll. Kann man rein technisch definieren, was »russisch« oder »nicht-russisch« an Eugen Onegin ist?

TOMÁŠ HANUS Es gäbe die Möglichkeit, das anhand von zahlreichen Einzelaspekten durchzudeklinieren: Harmonik, Melodik, Phrasierung, Atmosphäre, Form, Instrumentation und so weiter. So etwas ist immer spannend. Aber andererseits ist es so, wie Sie andeuten: Dieser Aspekt alleine genommen wäre zu klein. Tschaikowski geht über solche Begrenzungen hinweg, seine einzigartige Persönlichkeit überstrahlt nationale Zuordnungen. Was mich stets aufs Neue bei Eugen Onegin fasziniert ist die Tatsache, dass Tschaikowski kraft seiner Genialität alle Fragen beiseitegeschoben und mit diesem Werk ein Original geschaffen hat. Übrigens schiebt er auch die Zeit beiseite: Es ist faszinierend, welche Modernität diese Oper in sich trägt, sie spricht auf Augenhöhe mit uns, ganz aus dem Heute. Tatjana, Onegin, Olga, Lenski, sie alle sind keine fernen historischen Charaktere, sondern ihre Fragen ans Leben sind auch unsere Fragen. Onegin ist demnach keine Konserve mit schönen Melodien, die wir alle kennen und in die wir gerne hineingreifen. Nein, diese Oper hat ihr eigenes, stets aktuelles Leben und sie muss entsprechend aus dem Heute verstanden werden.

Wenn wir nun aber die Genealogie dieses Originals aufzeichnen müssten, wer wären die Vorfahren? Wir wissen ja, dass Tschaikowski Carmen bewunderte, aber auch in Meyerbeers Hugenotten Richtungsweisendes fand.

TOMÁŠ HANUS Wir können auch an den Chor am Anfang von Boris Godunow von Mussorgski denken, aber das sind jeweils nur Momentaufnahmen. Es gibt keinen, der ganz ein Vorläufer wäre. Tschaikowski hat für seine Würfe an unterschiedlichen Stellen die richtige Energie gesammelt.

Und Nachfolger?

TOMÁŠ HANUS Ich würde sagen, dass man in der russischen Oper nach Tschaikowski, aber auch ganz allgemein in der russischen Musik, die Auswirkungen dieses Komponisten spüren kann. Ich denke da ganz konkret an einen Prokofiew oder Schostakowitsch. Nicht, indem sie irgendeine Form einer offiziellen oder inoffiziellen Nachfolge angetreten hätten, sondern mit welcher Wahrhaftigkeit sie mit Musik umgegangen sind. Was ich an der russischen Musik stets schätze ist die große Emotionalität der Sprache. Diese ist aber niemals etwas Billiges, etwas Hingeworfenes, sondern hat immer eine Verankerung in einer seelischen Tiefenlandschaft. Wenn wir an die großen lyrischen Passagen von Prokofiew denken oder die meditativen Momente von Schostakowitsch, dann stößt man auf einen roten Faden, der sich von Tschaikowski fortspannt.

Wir sprachen über die »Heutigkeit« von Eugen Onegin – sehen Sie die Oper als ein aus der Zeit genommenes Werk an, also gleichsam auch ohne Vergangenheit? Eine Abkoppelung von jeglicher Tradition?

TOMÁŠ HANUS Nein, soweit würde ich nicht gehen, es ist ein Paradoxon, Eugen Onegin ist unmittelbar heutig, hat aber auch seine Geschichtlichkeit. Nur bin ich immer vorsichtig mit einem Wort wie Tradition. Denn wie oft wird Tradition mit Routine verwechselt, oder sogar als Argument verwendet, die Augen und den Geist nicht öffnen zu müssen. Wir alle kennen das, dieses »Man«, das man an Weggabelungen hört. »Man hat das schon immer so gemacht«, oder »Man macht das hier so«. Wer dieser »Man« ist, das weiß dann aber keiner so genau. Insofern gibt es natürlich Aufführungstraditionen, aber sie sind nicht dazu da, um sich auszuruhen. Und daher bin ich wieder bei der Persönlichkeit des Komponisten, die sich im Werk abbildet. Diese hervorzubringen, das ist unsere wahre Aufgabe jenseits aller Tradition. Ich meine dabei aber nicht die menschliche Persönlichkeit Tschaikowskis, sondern den größer gefassten Ausdruck seiner künstlerischen Verwirklichung.

In Eugen Onegin gibt es auch kleine Einsprengsel unterschiedlicher Färbung, Volkslieder oder das Lied von Triquet. Wozu dienen diese Momentaufnahmen? Sind das Farbtupfer?

TOMÁŠ HANUS Es sind jedenfalls integrale Bestandteile der Oper, die nicht als Fremdkörper auffallen. Sie sind einfach Teil dieser oben angesprochenen Persönlichkeit Tschaikowskis. Man findet sie auch in seinen Symphonien und in anderen Werken. Aber nie sind solche Einsprengsel etwas, was außerhalb stehen soll. 

Ungefähr zeitgleich zu Onegin schrieb Tschaikowski seine 4. Symphonie. Entdecken wir in der Unerbittlichkeit des fanfarenhaft tönenden Schicksals, die das Werk einläutet, Parallelen zur Oper?

TOMÁŠ HANUS Ohne dass Tschaikowski sich selbst bestohlen hätte sind beide Werke doch stark miteinander verbunden. Im Sinne, dass sie eine Welt abbilden, in der sich der Komponist damals befand. Hört man die Symphonie oder auch die Oper, dann kommt man dem auf die Spur, was Tschaikowski damals seelisch umtrieb. Das ist sein innerer Ausdruck. Die Intimität des langsamen Satzes der Symphonie, das ist eine Melodienwelt, die den Zustand von Tatjana sehr gut kommentiert. Der ganzen Symphonie ist eine Verweigerung des einfachen Triumphes zu diagnostizieren. Und ist es nicht auch das, was Tschaikowski uns in Eugen Onegin erzählt? Ich denke nicht, dass er beschlossen hat, seine Sprache für den Onegin zu ändern, es war einfach ein Abdruck seines Lebenszustandes. 

Vielleicht sollen wir die Bezeichnung des Werks »Lyrische Szenen« statt »Oper« auch aus diesem Blickwinkel lesen?

TOMÁŠ HANUS Wenn es ein Schlüsselwort bei Eugen Onegin gibt, dann ist es Intimität. Es sind keine großen Gesten, sondern es wird der Charakter der Figuren sehr fein – und sehr offen – gezeigt. Dass Tschaikowski von »Lyrischen Szenen« sprach, erklärt, wie man dieses Werk zu lesen hat: behutsam, sensibel, mit einem präzisen Blick. Eine Kostbarkeit.

Nun wurde Eugen Onegin in einem kleinen Theater uraufgeführt. Unser Haus am Ring hat andere Dimensionen, wie bekommen Sie das mit der Intimität hin? 

TOMÁŠ HANUS Das ist an sich kein Problem, denn worum es geht, ist eine Feinkörnigkeit des Ausdrucks. Ich kann mit einem großen Ensemble arbeiten und dennoch eine intime Stimmung erzeugen. Wobei ich natürlich die Akustik des Hauses kennen und verstehen muss.

Sie haben an diesem Haus schon zwei Produktionen dirigiert, Rusalka und Hänsel und Gretel. Inwiefern können Sie die Klangerfahrungen dieser Abende auf die aktuelle Produktion übertragen?

TOMÁŠ HANUS Das geht in einem bestimmten Rahmen, aber niemals absolut. Denn die Bühne eines Opernhauses ist kein statischer, sondern ein lebendiger Raum, für den an jedem Abend gilt: So wie sich das Bühnenbild ändert, so ändert sich auch die Akustik. Selbst wenn man dieselben Sängerinnen und Sänger an derselben Stelle platzierte und das Orchester ebenso aufgestellt wäre: Es würde ganz anders klingen. Das gehört eben zur Arbeit des Dirigenten.

Gustav Mahler, der sich sehr für Eugen Onegin stark gemacht hat, brachte sie in Hamburg und Wien erstmals heraus – der damaligen Praxis entsprechend auf Deutsch. In Wien hat es dann tatsächlich bis 1988 gedauert, bis Eugen Onegin auf Russisch gespielt wurde. Können Sie einer Landessprachlichkeit etwas abgewinnen?

TOMÁŠ HANUS Mitunter wird Eugen Onegin in einzelnen Theatern ja nach wie vor in Landessprache gespielt. Ich persönlich finde aber, dass es sich um eine Sache der Farbigkeit handelt: Tschaikowski schöpfte gewissermaßen aus dem Farbidiom des Russischen, daher ist die Melodik entsprechend geprägt. Ich persönlich gebe immer der Originalsprache den Vorzug. 

Im Gegensatz zu Komponisten wie Strauss oder Puccini hat sich Tschaikowski in puncto Dynamikbezeichnungen stark zurückgehalten. Eröffnet eine solche Kargheit dem Dirigenten eine ungeahnte Freiheit?

TOMÁŠ HANUS Diese Sparsamkeit in den Dynamikbezeichnungen ist vielleicht so etwas wie eine Eigenheit der slawischen Komponisten. Bei dem von Ihnen genannten Strauss stünden innerhalb von 30 Takte zahlreiche Anmerkungen, bei Tschaikowski findet sich nur eine. Das bedeutet aber nicht, dass man 30 Takte lang im ewig gleichen Piano verbleibt, es bedeutet nur, dass der Interpret sich ganz in die
Geisteswelt des Komponisten versenken muss, um herauszufinden, wie er zu differenzieren hat. Und mitunter werden sich auch mehrere, unterschiedliche Wege anbieten. Man muss also situationsbedingt entscheiden.

Das betrifft auch Aspekte wie zum Beispiel, dass Tschaikowski in der zentralen Passage des 1. Aktes, der nächtlichen Szene Tatjanas, beim folgenreichen Briefschreiben der Protagonistin, nach d-Moll wechselt?

TOMÁŠ HANUS Zweifellos. Der Einsatz von bestimmten Tonarten hatte in der Musikgeschichte oftmals sehr klar definierte Bedeutung, wenn wir nun daran denken, dass d-Moll sehr oft mit einer düsteren Stimmung verbunden ist – mir fällt da das unvergleichliche, sehr dunkel grundierte Klavierkonzert KV 466 von Mozart ein – dann drängt sich der Gedanke auf, dass diese intime, aber eben auch später Schmerz
hervorrufende Briefszene nicht zufällig in dieser Tonart stehen kann.

Tschaikowski hat die Kompositionsarbeit an der Oper mit genau dieser Szene begonnen. Lässt sich das im Nachhinein heraushören?

TOMÁŠ HANUS Wenn man der Musik einfach so lauscht, ohne sich mit den Hintergründen genau beschäftigt zu haben, dann würden ich sagen: nein. Aber die Briefszene ist ein in sich komplettes Stück, das nicht nur das Herz der Oper ist, sondern auch ganz unabhängig vom Rest funktioniert. Man könnte sagen, eine Symphonie für Orchester und Stimme. Und eine jener Viertelstunden, die als Topos in die Musikgeschichte eingegangen sind.

Tomáš Hanus ist Music Director der Welsh National Opera. An der Wiener Staatsoper dirigierte er neben der Premierenserie von Eugen Onegin auch noch Rusalka und Hänsel und Gretel.

Das Gespräch führte Oliver Láng.