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Mehrdeutigkeit als Antwort auf alle Fragen

Jan Lauwers: ein großer Theatermacher und universeller Künstler, der seit vielen Jahren in den unterschiedlichsten Sparten die internationale Kunst prägt. Seine wundersam-faszinierenden Theaterabende – wie Monteverdis L’incoronazione di Poppea an der Staatsoper – sind so berückend wie sie zum Nachsinnen einladen. Nun stellt er sich György Ligetis Musiktheater-Markstein Le Grand Macabre. Wie die Welt ohne Tod und als ewiges Fest aussähe – das erzählte er Oliver Láng.
 

OL Nach der Uraufführung von Le Grand Macabre las man Unterschiedliches, die einen sprachen von einem Meisterwerk, die anderen hatten eine »Porno-Oper« entdeckt. Gerne wird das Werk auch ein großes Welttheater genannt. Was ist diese Oper für Sie?
JL Welttheater?

OL In dem Sinne, dass es ein Panoptikum des gesamten Lebens, der Welt entwirft. Also alles enthält.
JL Ich würde sagen, dass jede Kunst, die ich mache, im Idealfall genau das erfüllen sollte. (lacht) Wissen Sie, es gibt eine gewisse Tendenz der Spezialisierung, die entsprechende Definitionen produziert. Allerdings führt eine Spezialisierung auch zu einer Verarmung. So hörte ich, dass es jetzt auch eine Schule ausschließlich für Opernregie gibt. Das halte ich für falsch. Es ist falsch, sich immer weiter zu spezialisieren und zu spezialisieren: das führt eben zu einer Einengung. Wenn es in der Kunst keine Mehrdeutigkeit gibt, dann ist sie für mich nicht interessant. Denn wenn man das Mehrdeutige in den Vordergrund bringt, schafft man neue Möglichkeiten, entstehen neue Fragen. Und in der Kunst geht es um Fragen. Nicht um Antworten. Um Fragen. Das ist für mich die Definition von Kunst. Auch Le Grand Macabre ist mehrdeutig.

OL Ligeti hat zumindest definiert, dass es sich um eine Anti-Anti-Oper handelt.
JL Damit sagt er nicht, dass er gegen Oper ist. Nein, er ist gegen das, was gegen die Oper ist. Eine doppelte Verneinung! Ligeti war ein ungemein positiver Mensch, der sein Fach sehr gut beherrschte. Für mich war er einer der größten Komponisten aller Zeiten. Er kannte die Operngeschichte und ihre Meister extrem gut, er kommentiert laufend und er zitiert aus der Geschichte. Und Ligeti hatte eine radikale Form des Humors, eine radikale Form der Freude – ich kenne viele, die ihn erlebt haben: Er war so etwas wie ein unübertroffener Clown, ein Narr – im besten Sinne! Das schätze ich sehr.

OL Weil wir über Humor reden: Ist Le Grand Macabre eine Komödie oder Tragödie?
JL Ligeti selbst sprach von einer tiefen Tragödie und sah das Werk nicht nur als Komödie. Er verwendete Humor als Waffe. Ich persönlich setze zu viel Humor in meinen eigenen Werken, in meinen Schriften ein. Manchmal denke ich: Ich mache das, weil ich ein Feigling bin. Und dann denke ich mir: Humor ist eine Möglichkeit zu überleben. Ligeti schrieb die Oper in den 1970er-Jahren, als die sexuelle Revolution stattfand, man fühlte sich frei, die Zukunft war strahlend. Heute ist die Welt viel dunkler geworden, denken wir nur an die Ukraine, an Israel oder den Klimawandel. Auch die Gender-Diskussion ist ernsthafter und ernster als die sexuelle Revolution in den 1970ern war – und ich unterstütze sehr vieles, was ich in diesen Diskursen höre, sehr. Man kann Einflüsse der Epoche, in der man ein Kunstwerk schafft, nicht gänzlich ignorieren – selbst wenn man versucht, sich von ihnen zu lösen und einer Ambiguität Raum zu geben. Daher ist Le Grand Macabre heute düsterer als in der Uraufführungszeit und daher betont meine Sicht auf Ligeti mehr das Groteske. Es ist naheliegend, dass ich aus diesem Grund in den Stimmen der fantastischen Sängerinnen und Sänger unserer Produktion nach den dunklen Seiten suche. 

OL Während wir sprechen, zeichnen Sie. Sie haben zu Le Grand Macabre auch zahlreiche Bilder angefertigt. Hat das mit der Unteilbarkeit der Kunst zu tun? Ist es eine umfassende Annäherung an ein Werk?
JL Als wir mit dem Gespräch anfingen, zeichnete ich einen Teufel, nun einen Clown. Keine Ahnung, warum… Aber ich mache das immer so. Immer. Ich denke mit meinen Händen, das schon mein ganzes Leben lang. 

OL Wie sieht das Verhältnis des Bildenden Künstlers Lauwers zum Regisseur Lauwers aus? Das Verhältnis des Regisseurs zum Bühnenbildner?
JL Ich schaffe auch bildende Kunst, die von Theaterproduktionen ganz unabhängig ist, aber selbst das, was im Zuge von Produktionen entsteht, ist ein autonomes Kunstwerk. Es existiert aus sich heraus. Und wenn ich ein Objekt für die Bühne entwerfe, wie die riesigen Puppen in Le Grand Macabre, dann müssen sie dreidimensional »funktionieren«. Es ist also nicht so, dass sie nur Fassade, also nur von einer Seite ausgeführt wären. Sondern sie sind rundum ausgestaltet, egal, ob das Publikum es sehen kann oder nicht – eben als autonomes Objekt. Das hat damit zu tun, dass ich ein Künstler bin, der Oper macht. Und nicht Opernregisseur. Ich entwickle ja auch meine eigenen Bühnenbilder. Der Bühnenbildner Lauwers ist übrigens nicht der Regisseur Lauwers, es gibt beides: den Bühnenbildner und den Regisseur. Ich sehe mich als einen Theatermacher, als einen Künstler, der Oper macht. 

OL Le Grand Macabre spielt im imaginären Breughelland, hier auf der Probebühne sind zahlreiche Gemälde des flämischen Meisters zu sehen. 
JL Breughel war ein Lügner. Er hat durch seine Bildern betrogen, denn was war zu seiner Epoche? Die kleine Eiszeit. Die Pest. Menschen starben in großer Zahl. Wenn man die Winterlandschaften von Breughel anschaut, sieht man fast keine Leute. Und dann hat er diese großen Gemälde gemalt mit all  den Köstlichkeiten. Warum? Weil das so in Auftrag gegeben wurde, weil der Herrscher in seinem Schloss Bilder mit Essen haben wollte, Essen, das es in Wahrheit gar nicht gab. Und schon wieder sind wir bei der Vielschichtigkeit von Kunstwerken! Es ist fantastisch, was alles in nur einem Gemälde steckt, wie viele Ebenen, Wahrheit, Lüge. Jeden Tag, bevor wir proben, sage ich daher den Sängerinnen und Sängern, den Tänzerinnen und Tänzern: Schaut euch die Breughel -Bilder, die wir aufgehängt haben, an! Und dann singt! Dann tanzt! Es ist so inspirierend…

OL Sie haben einmal über Ihre persönliche Beziehung zu Breughel erzählt. Es gibt sogar eine örtliche Nähe.
JL Ich bin in der Region geboren und aufgewachsen, in der Michel de Ghelderode, der das der Oper zugrundeliegende Schauspiel schrieb, lebte und aufwuchs. Ich wohnte in dem Dorf, in dem Breughel geboren wurde, ich wurde in der Kirche getauft, die auf seinen Gemälden zu sehen ist. Vom ersten Tag an fühlte ich mich ihm sehr nahe, und wissen Sie, manchmal denke ich, ich wäre seine Reinkarnation. Ich wünschte es! (lacht) Breughel ist mir in vielem nahe, ich würde sagen, dass wir bereits in unserem allerersten Zugang zur Kunst ähnlich sind: Denn im Katholizismus, in den ich hineingeboren wurde, war für lange Zeit das erste Kunstwerk, mit dem man als Kind konfrontiert wurde, die Abbildung des Leidens Christi, das Blut, die Nägel. Und je dunkler die Gemälde waren, desto beliebter waren sie. Dieser Leidende war also meine Vorgeschichte als Künstler, mein erstes wahrgenommenes Gemälde. Und das war auch das erste Bild, das Breughel sah, das Ghelderode sah. Hier gibt es eine Verbindung. Wir alle traten in eine Welt, in der ein gefolterter Mensch ein Symbol ist – und das macht natürlich etwas mit einem. Es hat Jahre gedauert, bis ich das akzeptiert habe. Es gibt bei Breughel, Rubens und so weiter eine Sehnsucht nach Grausamkeit. Eine andere Art der Dunkelheit und Grausamkeit, als Sie sie etwa in Wien bei phänomenalen Künstlern wie etwa Thomas Bernhard, Michael Haneke oder Hermann Nitsch erleben können. In Antwerpen fühlte ich eine andere Dunkelheit, auch wenn der Hintergrund derselbe ist. Es ist interessant, dass die beste Kunst oft auf so dunklen Gedanken der Menschheit basiert. Mit Le Grand Macabre vermeidet Ligeti diese Dunkelheit irgendwie, um zu einer Absurdität zu finden. 

OL Und Ihre Beziehung zu Ligeti?
JL Von Ligeti lerne ich jeden Tag. Es gibt Musik von anderen Komponisten, in denen man vielleicht ein bisschen kürzen kann. Bei Ligeti: keine Sekunde. Es ist einfach unmöglich. Ligetis Werk ist einfach zu perfekt. Man kann nur der bescheidene Diener sein. Und es passiert im Rahmen von Le Grand Macabre übrigens etwas Faszinerendes: Die Menschen werden auf der Bühne nicht so gehen, wie sie üblicherweise gehen. Sie werden auf der Bühne nicht so singen, wie sie üblicherweise singen. Alles wird anders sein! 

OL Stets findet man Opernfiguren, die einem näher oder ferner stehen. Gibt es in Le Grand Macabre eine Figur, mit der Sie sympathisieren?
JL Jede Person in der Oper ist wichtig, ich habe keine Präferenzen. Auf dem Papier war ich zunächst alarmiert, weil das Bild von Mescalina so zerbrechlich und verstörend ist, und so war ich anfangs auf sie fokussiert. Aber im Probenprozess merke ich, wie komplex alle, wirklich alle Charaktere sind. Wir haben großartige Sängerinnen und Sänger, von Georg Nigl bis Sarah Aristidou, und sie alle sind sehr gefordert: Denn dieses Werk ist in vielem ganz anders als viele andere, es ist nicht Mozart. Aber wir haben ganz großen Spaß an der Arbeit. Fest steht für alle: Le Grand Macabre ist eine Herausforderung. 

OL Kommen wir zum Ende der Oper. Was soll es uns sagen? Dass es gar keine Grenze mehr gibt? Nichts Fixes mehr? Nicht einmal der Tod gibt einen Rahmen vor?
JL Es gibt eine Mehrdeutigkeit. Das ist auch das, was Ligeti sagte. Man kann einerseits meinen, dass es ein nihilistisches Ende ist: der Tod ist tot. Jetzt gibt es keine gültigen Regeln mehr. Andererseits kann man es als tragisches Ende betrachten, stellen Sie sich vor, dass es keinen Tod mehr gibt! Was würde das für das Leben bedeuten?! Ich lasse das Finale, vier Wochen vor der Premiere, noch offen. Aber ich ringe durchaus mit dem Ende: Vielleicht ist das 4. Bild bei uns noch zu schön? Vielleicht muss es dunkler sein? Dann aber denke ich mir: Manchmal wollen wir alle auch etwas Trost in der Kunst finden! Kann dieses Stück Trost spenden? Vergleichen wir es mit Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea, eine Arbeit, die ich an der Staatsoper gemacht habe. Trotz der Grausamkeit von Poppea und Nerone gibt es eine Tröstung durch die Musik. Bei Grand Macabre ist das auch möglich, Ligetis Musik kann auch sehr berührend sein. 

OL Ist Nekrotzar überhaupt der Tod?
JL Nekrotzar ist ein Scharlatan, ein Clown, der Tod… wir wissen es nicht. 

OL Was ist Nekrotzar für Sie?
JL Ich denke, er ist der Tod. Und wenn er stirbt, dann fahren wir alle zur Hölle. Dann ist der Spaß vorbei. Und die Hölle, die ist dann auf Erden – und sie ist eine goldene Box, in der wir gefangen sind, ohne jede Hoffnung und Freude. Trotz des Alkohols, der getrunken wird, der Partys, die organisiert werden: kein Spaß mehr! Denn man kann trinken und trinken und trinken, aber es ändert nichts. Denn für einen Sinn muss das Leben zerbrechlich sein. Aber wissen Sie was: Ich erkläre Ihnen bereits zu viel! Das Publikum muss sich selbst Fragen stellen, es soll seine Ideen haben und die Verantwortung selbst übernehmen. Meine Sicht will ich keinem aufzwingen. Ganz bewusst ist das Ende der Oper bei Ligeti nicht ganz klar definiert und ich werde es auch zweideutig zeigen. Ich bin nicht dazu da einfach feststellen: So ist es und nicht anders! 

OL Die Frage nach dem Ende soll sich also jede Zuschauerin, jeder Zuschauer stellen?
JL Was ich dem Publikum der Staatsoper anbieten möchte, ist, sich dieses Meisterwerk anzuschauen und seinen Geist zu öffnen. Le Grand Macabre ist ein Werk, das immer neue Fragen aufwirft.

OL Interessanterweise wünschen sich viele Menschen gerade von der Kunst Antworten auf ihre Fragen.
JL Antworten – und Trost. In manchen Momenten ist es notwendig, genau das zu bekommen. Manchmal aber bekommt man einen Tritt in den Hintern. Mitunter verlässt man die Vorstellung und denkt sich: »Hm, heute habe ich nichts gefunden«. Oder aber: »Das hat mir sehr viel gegeben! Jetzt habe ich viele neue Fragen«. Und diese neuen Fragen sind gut, finde ich. Daher ist es auch gut, dass das Ende von Le Grand Macabre nicht klar ist. Wenn jemand sich also denkt: »Was soll ich mit dem Finale? Ich bin noch nicht zufrieden!«, dann ist das gut! Denn für einfache Befriedigung ist vielleicht Pornografie zuständig – Kunst hingegen sorgt für Mehrdeutigkeit und immer neue Fragestellungen. 

 

GYÖRGY LIGETI
LE GRAND MACABRE

11. 14. 17. 19. 23. NOVEMBER 2023

Musikalische Leitung PABLO HERAS-CASADO
Inszenierung & Bühne JAN LAUWERS
Kostüme LOTLEMM
Licht KEN HIOCO
Choreographie PAUL BLACKMAN & JAN LAUWERS
Dramaturgie ELKE JANSSENS/EMILY HEHL

Nekrotzar GEORG NIGL
Chef der Gepopo/Venus SARAH ARISTIDOU
Fürst Go-Go ANDREW WATTS
Amanda MARIA NAZAROVA
Amando ISABEL SIGNORET
Astradamors WOLFGANG BANKL
Mescalina MARINA PRUDENSKAYA
Piet vom Fass GERHARD SIEGL
Weißer Minister DANIEL JENZ
Schwarzer Minister HANS PETER KAMMERER