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© Wiener Staatsoper GmbH / Ashley Taylor
Hyo-Jung Kang & Brendan Saye
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Hyo-Jung Kang & Brendan Saye
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Hyo-Jung Kang & Brendan Saye

Lieben & Vergeben

Am 2. Oktober geben die beiden Ersten Solotänzer*innen Hyo-Jung Kang und Brendan Saye ihre Rollendebüts in Elena Tschernischovas Giselle. Im Interview mit Nastasja Fischer sprechen sie über ihre künstlerische Partnerschaft, die Besonderheiten der Wiener Inszenierung und über Liebe und Romantik.

NASTASJA FISCHER Ihr habt die Rollen der Giselle und des Herzogs Albrecht bereits in anderen Versionen getanzt. Ist es schwierig, das Körperwissen an eine neue Choreographie desselben Stücks anzupassen?

HYO-JUNG KANG Ich habe Giselle in einer Version von Reid Anderson und Valentina Savina beim Stuttgarter Ballett getanzt. Auch wenn ich mit der Choreographie nach Coralli, Perrot und Petipa vertraut bin, fühlt es sich fast so an, als würde ich ein neues Ballett tanzen. Für Tänzer*innen ist es schwer, Dinge neu zu lernen. Wenn man einen Schritt, eine Choreographie einmal einstudiert hat, bleibt sie im Körpergedächtnis. Giselle ist ein klassisches Ballett, das nicht nur technisch schwierig ist, sondern auch eine wunderschöne Geschichte erzählt, die in Tschernischovas Version auch durch Pantomime und andere theatrale Aspekte umgesetzt wird. Das reizt mich sehr und ich freue mich darauf, in diese Momente einzutauchen. Wir streben immer nach Perfektion und Fortschritt, und ich mache da weiter, wo ich in Stuttgart aufgehört habe. Ich bin reifer, in einer anderen Umgebung, ich höre und lerne weitere Dinge über das Ballett.

BRENDAN SAYE Bei Giselle mit seiner Geschichte und seinen moralischen Qualitäten handelt es sich um eine universell wunderschöne Erzählung. Es geht um Vergebung und ist nah am Menschen. Egal, welche Version, das Ballett ist immer großartig zu tanzen, die Musik ist immer da, die Geschichte ist immer da. Ich habe die Version von Sir Peter Wright beim National Ballet of Canada getanzt. Jetzt tauche ich in Tschernischovas Fassung ein und es ist großartig, einen anderen Blickwinkel auf das Stück zu entdecken. Es ist in gewisser Weise immer noch konventionell, es gibt einige Grenzen im Ausdruck der Figuren, an die wir uns halten müssen. In Wrights Version hatte ich mehr natürliche Freiheit, hier ist es anders, aber es bringt uns dazu, intensiver darüber zu sprechen.

H-JK In Stuttgart konnte ich die Positionen der Arme anpassen, auch die Pantomime, natürlich ohne zu viel zu verändern. In Wien müssen wir genau diese eine Version umsetzen. Das ist eine Herausforderung für mich, aber eine spannende. Meine Aufgabe ist es jetzt, die Freiheit in dieser bestimmten Choreographie zu finden. Ich habe die Schritte in mir, ich kenne die Pantomime und jetzt muss ich meine Giselle innerhalb dieses Rahmens entdecken.

NF Könnt ihr die Charaktere und Rollen von Giselle und Herzog Albrecht beschreiben?

H-JK Giselle ist sehr bodenständig. Sie ist das Mädchen von nebenan, das romantisch und unschuldig, aber keine Prinzessin ist. Sie ist ein Mädchen, das jede*r liebt und welches jede*n liebt. Sie ist krank, aber trotzdem voller Lebensfreude und neugierig darauf, sich zu verlieben und den Richtigen zu finden.

BS Im 1. Akt hat Albrecht einen Decknamen – Loys –, was interessant ist. Ich denke, in vielerlei Hinsicht er ist am meisten er selbst, wenn er als Loys auftritt. Er ist die Person, die er sein will, und er ist mit der Person zusammen, die er liebt. Das steht zur Diskussion. Es gibt Interpretationen, in denen Albrecht als ein Adliger gesehen wird, der sich nur mit Giselle amüsiert. Für mich ergibt es keinen Sinn, dass er so am Boden zerstört ist von dem, was mit ihr passiert, wenn er keine wahre Liebe in seinem Herzen für sie hat. Er sucht nach etwas außerhalb der Blase, in der er gefangen ist. Sie gibt ihm das Gefühl, lebendig und er selbst zu sein. Leider denkt er nicht an die Konsequenzen, mit seinem Herzen, aber nicht mit seinem Kopf, denn er ist an eine andere Person gebunden. Ich glaube nicht, dass Albrecht aus Unachtsamkeit gegenüber Giselles Gefühlen lügt, er tut es aus Sehnsucht nach dem, was sie zusammen haben.

NF Es gibt große Unterschiede in Bezug auf Technik, Stil und die Entwicklung der Charaktere zwischen Akt 1 und 2.

BS Die körperliche Dynamik beider Figuren verändert sich. Im 2. Akt verkörpert Giselle einen Geist. Es gibt einen Unterschied in der Art und Weise, wie sie sich zwischen den Formen des Menschseins und des Nicht-Menschseins bewegt. Bei Albrecht ist die Veränderung in seiner Körpersprache auf das Trauma zurückzuführen, das er erlitten hat. Im 1. Akt ist er strahlend, voller Leben und Freude, weil er diese beste Version seiner selbst erlebt. Im 2. Akt ist er völlig entkräftet. Alles ist zusammengebrochen, die Person, die er am meisten geliebt hat, ist gestorben. Das verändert die Körperlichkeit eines Menschen. Hier entsteht eine interessante Ironie, denn im 2. Akt ist er er selbst als aristokratischer Charakter, aber er ist emotional am meisten gesunken. Das spiegelt das wider, was im 1. Akt passiert, wo er am glücklichsten ist, wenn er jemand anderes ist. Als er in die Wirklichkeit zurückkehrt, ist er nicht nur durch die Tragödie, sondern auch durch die Konfrontation mit der Realität seines Lebens niedergeschlagen.

H-JK Der 1. Akt ist natürlicher und menschlicher. Der 2. Akt erfordert einen bestimmten Stil, die romantische Idee von Geistern und anderen fantastischen Wesen. Giselle ist leicht, sie muss fast fliegen, aber die Intensität beibehalten. Sie geht im Laufe des Balletts an verschiedene Orte, der diverse choreographische Stil der jeweiligen Akte unterstützt das. Auch das Timing ist ein anderes. Während der 1. Akt in »realer« Zeit verläuft, hat man im 2. Akt das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben.

NF Die Wahnsinnsszene am Ende des 1. Akts ist ein Schlüsselmoment des Balletts. Hyo, wie arbeitest du an dieser?

H-JK Die Szene ist etwas ganz Besonderes, weil es plötzlich nur noch um die Darstellung von Giselles Gefühlen geht. Das ist selten in einem klassischen Ballett. Die Wahnsinnsszene ist genauso schwierig wie die technischen Elemente. Man fühlt sich sehr verletzlich, weil man dieses Mädchen spielt, das den Verstand verliert. Man muss die Rolle und die Geschichte völlig verstehen und in sie eintauchen, um diese Szene zu spielen. Ich finde es fast schwieriger als die klassischen Schritte, da man an diesen jeden Tag arbeitet. In der Wahnsinnsszene muss man seinem Gefühl vertrauen, sich völlig darauf einlassen, ohne darüber nachzudenken, wer einen beobachtet, wer einen beurteilt. Man muss in seiner eigenen Welt sein, aber trotzdem diese Emotionen und Verzweiflung zum Publikum transportieren. Ich denke, die Wahnsinnsszene ist eines der Juwelen des Balletts. Man kann sehen, wie unschuldig dieses Mädchen war, und sie gibt Albrecht nicht einmal die Schuld an dem, was ihr passiert. Selbst als sie stirbt, liebt sie ihn noch. Die Szene ist die Vorbereitung auf das, was im 2. Akt passiert.

NF In Wien habt ihr gemeinsam als Tatjana und Onegin, Aurora und Prinz Désiré getanzt und nun folgen Giselle und Herzog Albrecht.

BS In der letzten Saison haben wir uns schnell als Tänzer*innen kennengelernt. Und dann lernten wir uns als Menschen kennen. Je mehr man zusammen tanzt, desto mehr kann man die Partnerin lesen und verstehen. Hyo erinnert mich an die Figur der Giselle, sie hat ein sehr reines Herz, sie ist ehrlich, es gibt nichts Falsches an ihr. Das Ballett Giselle ist emotional und dramatisch. Es ist eine gute Übung für das Partnering. Die Vorgaben in Tschernischovas Version, was die Pantomime betrifft, ermöglichen es einem, wirklich mit seiner Partnerin zu kommunizieren. Man muss sich zueinander wenden, um herauszufinden, wie es Sinn macht und wie wir uns mit dem Material verbinden können.

H-JK Ich habe eine andere Version getanzt, Brendan hat eine andere Version getanzt und jetzt tanzen wir zusammen eine Fassung, die für uns beide neu ist. Es ist eine Reise, die wir gemeinsam gehen, und ich vertraue ihm vollkommen.

NF Warum ist das heutige Publikum immer noch so begeistert von den romantischen Balletten wie Giselle?

H-JK Ich denke, es ist die pure und ewige Liebe. In unserer Generation ist es schwer, die Liebe zu finden, bei der man alles opfert. Das Ballett schenkt uns dieses Gefühl. Vielleicht ist das etwas, wonach wir alle suchen?

BS Ich glaube, jeder Mensch hat bereits die Erfahrung gemacht, von jemandem, den er geliebt und um den er sich gesorgt hat, verletzt und betrogen worden zu sein. Wenn man jemanden liebt, gibt man dieser Person so viel von sich selbst, man vertraut darauf, dass sie einen niemals verletzen würde. Es ist niederschmetternd, wenn dieses Vertrauen zerbricht. Das ist ein Problem, mit dem sich jede*r identifizieren kann. Das Gleiche gilt für den Verlust eines geliebten Menschen. Beides sind traumatische Ereignisse im Leben. Wir brauchen diese Geschichten von Liebe und Vergebung, um uns daran zu erinnern, dass Verzeihen und Akzeptanz besser sind als Verbitterung. Und wir können diese Geschichte ohne Worte erzählen.