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© Michael Pöhn
Zwei Seiten des Regiebuchs zur aktuellen Inszenierung von Strauss »Capriccio«
© Michael Pöhn
Oberspielleiterin Katharina Strommer an ihrem Schreibtisch, auf dem gleich vier unterschiedliche Regiebücher liegen.

Kostbare geistige Schätze - oder: Das zentrale Werkzeug der Regieassistenz

»Alles was ist, endet« heißt es so schön wie unbestreitbar in Wagners Rhein­gold. Bezogen auf die Kunst, ist die Gültigkeit dieses Satzes für den flüchtigen Augenblick eines Live-Erlebnisses – insbesondere im Theater – besonders augenscheinlich. Was immer das Publikum während einer Aufführung ergreift, erschüttert, erhebt, ist schon im nächsten Moment in dieser Form unwiederbringlich vorbei. Diese ephemere Wesenshaftigkeit ist freilich zugleich der besondere Reiz, der so viele immer wieder neu zum Besuch einer Vorstellung verführt. Die kauzige Figur des uralten Marchese Gritti in Franz Werfels Verdi-Roman, der Abend für Abend im Zuschauerraum eines Opernhauses verbringt, versucht durch das Archivieren der Besetzungszettel dieser unmittelbaren Vergänglichkeit ein Stück weit entgegenzuwirken (bis das Archiv eines Tages in Flammen aufgeht). Seitens der Theater sind es vor allem die oft zitierten Regiebücher, die zumindest die Ingredienzien, die ursprüngliche Idee und Intention einer Produktion konservieren sollen. Wenn auch das Eigentliche einer Aufführung unwiederholbar ist, so werden hier wenigstens die mit künstlerischem Leben zu erfüllenden Rahmenbedingungen von den Regieassistentinnen und Regieassistenten festgehalten.

Dass in dem gigantischen Repertoirebetrieb der Wiener Staatsoper, in dem so manche Inszenierung sogar mehrere Jahrzehnte auf dem Spielplan steht, Regiebücher zu den kostbarsten geistigen Schätzen gehören, versteht sich von selbst. »Im Musiktheater handelt es sich bei den Regiebüchern um soge­nannte durchschossene Klavierauszüge, also um Klavierauszüge, die neben jeder Notenseite eine leere Seite für Anmerkungen aufweisen«, erklärt die Chefin des szenischen Dienstes, Oberspielleiterin Katharina Strommer. »Während der sechswöchigen Probenzeit, in der eine Neuinszenierung mit dem Leading-Team erarbeitet wird, notieren die jeweiligen zwei Regieassistenten, die eine Produktion betreuen, jeden kleinesten Wunsch der Regisseurin bzw. des Regisseurs, jede Lichtstimmung, jeden Hinweis für die Bühnentechnik. Manches davon wird bis zum Schluss beibehalten, vieles während der Probenphase mehrfach geändert – Regiebücher bekommen dadurch von Anfang an etwas extrem Vielschichtiges und durch die unterschiedlichen Anmerkungs-Post-its zusätzlich Farbenfrohes«, so Strommer. Die Eintragungen müssen jedenfalls für die ganze Abteilung aufs erste verständlich sein. Schließlich sollten im Normalfall alle Regieassistenten in der Lage sein, das gesamte Repertoire – mit den stets wechselnden Besetzungen – regelmäßig neu einzustudieren. Dementsprechend gibt es standardisierte Zeichen, Kürzel und Buchstabenkombinationen, die jedes Szenarium, alle Auf- und Abtritte, Verwandlungen etc. wiedergeben. Der angesprochene Palimpsest-Charakter wird bei langer Laufzeit natürlich extrem verstärkt. Im Regiebuch der mittlerweile 65jährigen »Wallmann- Tosca« beispielsweise findet sich durchaus der eine oder andere interpretenbezogene Hinweis: Nicht zuletzt Scarpias Agieren im Umfeld seines Speisetisches im zweiten Akt variiert in manchen Details von Sänger zu Sänger, was für nachfolgende Vorstellungen entsprechend vermerkt werden muss.

Da Tablets im Vergleich zu den analogen Regiebüchern immer noch wesentliche Nachteile aufweisen, bleibt es dabei, dass in den Proben zu einer Aufführungsserie die Regieassistentin, der Regieassistent die anderthalb bis zwei Kilogramm schweren Regiebücher stundenlang in der einen Hand hält, während mit der anderen den Sängerinnen und Sängern die entsprechenden Aktionen angezeigt werden. Die daraus resultierende Sehnenscheidenentzündung ist gewissermaßen eine Art Berufskrankheit des Regieassistenten. (Einer der Benefits dieser Tätigkeit ist freilich ein überdurchschnittlich trainiertes Gedächtnis: 100 unterschiedliche Werke in diversen Sprachen praktisch jederzeit auswendig abrufbar zu haben, nötigt selbst entsprechend geübten Berufsschauspielern einigen Respekt ab.)

Ergänzt werden die Regiebücher bei manchen Produktionen von zusätzlichen Mappen mit komplexeren Szenarium-Zeichnungen und Sekundärliteratur sowie durch Video-Aufzeichnungen exemplarischer Aufführungen. Nichtsdestotrotz ist und bleibt das Regiebuch das wichtigste Werkzeug der Regieassistentin. Und wer im Archiv des Hauses Regiebücher alter, abgespielter Produktionen – gar noch versehen mit einem k.k.-Stempel aus den Zeiten der Monarchie – durchblättert, der vermag durchaus und mit etwas Übung und Kenntnis der Materie historische Inszenierungen vor dem inneren Auge auferstehen zu lassen. So gesehen haben diese schwergewichtigen, durchschossenen Klavierauszüge auch noch ein Nachleben. Ein Nachleben als Zeitdokument einer sehr vergänglichen Kunstform.