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© Neda Navaee
Patrick Lange

Interview mit Patrick Lange

Der erste moderne Klassiker

Patrick Lange dirigiert Piotr Iljitsch Tschaikowskis Dornröschen

Seit seinem Debüt mit Puccinis Madama Butterfly im November 2010 ist Patrick Lange regelmäßig an der Wiener Staatsoper zu Gast. In der aktuellen Saison stehen nicht nur Vorstellungen der Fledermaus und des Ballettabends Im siebten Himmel mit Musik der Strauß-Familie, Gustav Mahlers und George Bizets auf seinem Programm am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper, sondern auch die musikalische Leitung und Einstudierung einer großen abendfüllenden Tanzproduktion: Martin Schläpfers Dornröschen. Anne do Paço sprach mit Patrick Lange über Piotr Iljitsch Tschaikowskis Partitur und die Arbeit an Dornröschen.

Dornröschen gilt als die vielleicht perfekteste, meisterhafteste Ballettpartitur aus dem 19. Jahrhundert. Was zeichnet sie aus?

PATRICK LANGE: Piotr Iljitsch Tschaikowski ist der erste moderne Klassiker. Während Richard Wagner ja die Form der »Nummer« aufgegeben und seine Musikdramen durchkomponiert hat, hält Tschaikowski im Dornröschen an einer Nummerndramaturgie fest, versteht es aber, diese auf ganz eigene Weise mit einer Musik zu füllen, die nicht nur von einer faszinierenden Eleganz und Virtuosität, sondern auch einem großen Klangreichtum geprägt ist. Nach Adolphe Adam und Léo Delibes war es Tschaikowski, dem es gelang, die Ballettmusik aus der Ecke der »Gebrauchsmusik« herauszuholen und gleichwertig neben die Oper und die symphonische Literatur zu stellen. Nicht zufällig gibt es von Schwanensee, Dornröschen und Nussknacker auch Orchestersuiten, die heute zum festen Konzertrepertoire gehören.

Für die Dornröschen-Handlung spielen mehrere Zeitsprünge eine zentrale Rolle: Zwischen dem Prolog und dem ersten Akt sind es 15 Jahre, zwischen dem ersten und zweiten Akt hundert. Findet sich ein Spiel mit verschiedenen Zeitebenen auch in der Partitur?

PATRICK LANGE: Ja, und das ist interessant: Die Tänze sind nicht nur Walzer, Mazurkas und Polaccas, sondern es gibt auch Anklänge an ältere Formen wie Menuett, Gavotte, Farandole oder die klassische Rondoform. Und nicht zu vergessen – bevor es am Ende des dritten Aktes im vollen Orchester zum großen Finale mit Apotheose kommt – die meisterhafte Sarabande, die in der ganzen Anlage eine barocke Stilkopie ist, allerdings symphonisch gesetzt. Wir hören hier einen Klassizismus, der Tschaikowskis große Bewunderung für Mozart, aber auch Bach zeigt, jedoch durch rhythmische Verschiebungen und harmonische Erweiterungen eine neue, ganz eigene Färbung erhält.

In einem Brief an seine Freundin und Mäzenin Nadeschda von Meck schrieb Tschaikowski: »Ich habe mit besonderer Sorgfalt und Liebe an der Instrumentierung gearbeitet und einige ganz neue Kombinationen für das Orchester gewählt, die, wie ich hoffe, sehr schön und interessant klingen.«

PATRICK LANGE: Von den vielen Beispielen, die hier zu nennen wären, möchte ich zwei herausheben. Zum einen integriert Tschaikowski neben den Trompeten zwei Pistons, die wir aus dem französischen Orchester kennen. Dies verändert den Klang des hohen Blechs, rundet ihn ab. Und eine instrumentatorische Besonderheit fällt sofort ins Auge: der Einsatz des Klaviers. Zwar verwendet Tschaikowski auch in einer Oper wie Pique Dame das Klavier, aber im Dornröschen ist interessant, dass er es im dritten Akt die Harfe ablösen lässt. Für die Interpretation des dritten Aktes sollte man sich die Frage stellen, wieso er dies tut.

Leider ist mir keine Äußerung Tschaikowskis zu dieser Entscheidung bekannt. Im Kontext der Ballett-Handlung ist diese Klangverschiebung aber sehr interessant: Nach dem zweiten Akt ist die Geschichte ja eigentlich abgeschlossen, Aurora gerettet. Aus dem todesähnlichen Schlaf öffnet sich der Blick in eine neue Zeit – und im Orchester weicht die »rauschende«, volle, sehr romantische Harfe dem trockeneren, teils perkussiver eingesetzten Klavier, was dem Klangbild schärfere Konturen verleiht.

PATRICK LANGE: Also auch in der Klangsprache der Blick in ein neues Zeitalter, ein Sprung in Richtung Moderne ...

... zu Klang-Konstellationen, die Momente enthalten, in denen man einen Pulcinella Strawinskis bereits anklingen hört.

PATRICK LANGE: Interessant ist auch eine Nummer wie die des Katers und der Katze im dritten Akt, die mit Oboen, Englischhorn und Fagott zum einen sehr lautmalerisch angelegt ist. Aber hinein setzt Tschaikowski diese schneidenden Akkorde im schweren Blech und den Streichern. Auch das ist für 1890 wirklich modern. – Und dann ist es aber doch dieser ganz typische Tschaikowski-Klang, den man schon nach wenigen Tönen erkennt, der die gesamte Komposition durchzieht: weniger das Elegische, die großen Linien, die seine Symphonien so sehr prägen, als diese wunderschöne Eleganz des Tänzerischen. Und wie das Wiener Staatsopernorchester diese zu entfalten vermag, ist zum Niederknien. Es ist einfach ein unfassbar gutes Orchester mit einer sensationellen Tradition.

In Ihrer Orchesterprobe zu Dornröschen heute Morgen waren viele junge Musikerinnen und Musiker ...

PATRICK LANGE: ... die diese Tradition aber vollständig in sich aufgesogen haben, so dass man – auch wenn einige das Dornröschen noch nie gespielt haben – sehr schnell zu dem kommt, was man sich wünscht. Und selbst wenn das, was das Orchester mir anbietet, nicht der Idee entspricht, mit der ich in die Probe gegangen bin, so ist doch alles von einer derartigen Musikalität durchdrungen, dass es einfach eine Freude ist. Es geht darum, gemeinsam Musik zu machen – und dafür öffnet sich mit einer Partitur wie Dornröschen ein großes Feld: die vielen Nummern unterschiedlichsten Charakters, die vielen Töne, die in all diesen kleinen, sehr feinen Passagen zu spielen sind, alle Instrumentengruppen sind sehr anspruchsvoll behandelt, selbst im Becken gibt es eine Passage, deren Tempo für jeden Schlagzeuger eine große Herausforderung ist. Dornröschen erfordert ein hochvirtuoses, sehr präzises Orchester. Es ist alles andere als eine Partitur, die sich einfach so »wegspielt«, es braucht eine intensive Auseinandersetzung.

Bereits im Fall des Schwanensee musste Tschaikowski es ertragen, dass an seinem Werk Veränderungen, Umstellungen, Striche und Ergänzungen von fremder Hand vorgenommen wurden. Auch Dornröschen kam 1890 in der Choreographie von Marius Petipa nicht in seiner Originalfassung zur Uraufführung, sondern mit einer ganzen Reihe von Strichen: Aus dem zweiten Akt entfielen die Tänze der Baronessen, Comtessen und Marquisen, die Variation der Aurora sowie der als großes Violinsolo für den berühmten Geiger Leopold Auer konzipierte Entreacte. Und auch im dritten Akt gab es Striche.

PATRICK LANGE: Auch Martin Schläpfer hat sich im zweiten Akt zu einem radikalen Eingriff entschieden. Prinz Désiré tritt bei ihm nicht mit Tschaikowskis Jagdmusik ins Geschehen, sondern mit einer zeitgenössischen Komposition: Anahit von Giacinto Scelsi. Es ist eine großartige Idee, mit dem Prinzen zu dieser Musik in eine neue Zeit aufzubrechen. Anahit ist ein Violinkonzert, das in seinen mikrotonalen Reibungen eine ganz große Poesie entfaltet und sich schließlich – nachdem Aurora aus ihrem hundertjährigen Schlaf erlöst wurde – mit dem großen Violinsolo des Entreactes verbindet und so in Tschaikowskis Welt zurückführt. Abgesehen von diesem Einschub sowie einigen wenigen, sehr kleinen Strichen, spielen wir die Partitur aber im Original, wie von Tschaikowski konzipiert, denn in diesem stimmt einfach alles ...

... wofür auch Martin Schläpfer, der bereits bei seinem Schwanensee auf die so gut wie nie als Ballett zu erlebende Originalfassung zurückgriff, ein untrügliches Gespür hat. 

PATRICK LANGE: Für mich ist die Zusammenarbeit mit Martin Schläpfer so schön, faszinierend und inspirierend, weil er so unglaublich musikalisch ist, was man nicht von allen Choreographen sagen kann. Ihm geht es nicht um ein Setzen von Schritten, sondern um ein Musizieren mit dem Körper und entsprechend verlangt er auch von seinen Tänzerinnen und Tänzern, dass sie nicht zählen, sondern die Musik hören, auf ihre Motive und Farben reagieren.