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© Robert Workman
Simon Keenlyside als Rigoletto

Einmal KÖNIG, einmal HOFNARR

Karten Rigoletto

Karten Macbeth

Was Simon Keenlyside stimmlich wie darstellerisch auf der Bühne entwirft, sind Menschenbilder von unglaublicher Lebendigkeit. Er beglaubigt die von ihm dargestellten Charaktere durch hochintelligente
psychologische Tiefenbohrungen, Facettenreichtum, eine Meisterschaft im Nuancenbereich sowie durch eine die Kollegenschaft ansteckende Hingabe – all das ließ ihn zu einem der feinsten und bedeutendsten Interpreten seines Faches werden. Entsprechend groß ist seine Popularität auch beim Publikum der Wiener Staatsoper. Die Ernennung des britischen Baritons zum Österreichischen Kammersänger im Jahr 2017 war dann gewissermaßen die urkundlich gefasste Form jener Begeisterung, die ihm seitens des Auditoriums auch an diesem Haus Abend für Abend entgegenschlägt.
Nun kehrt er mit zwei wichtigen Partien des Verdi-Repertoires zurück: Als Rigoletto im Oktober und als Macbeth im November. 

So sehr das Publikum im Allgemeinen geneigt ist, Mitleid mit Rigoletto zu haben, so wenig Sympathien hegt es für Macbeth. Warum eigentlich? Spätestens ab seinen Rachegelüsten hat der Hofnarr wenig Einnehmendes, und wenn Macbeth am Ende innerlich verglüht seinem Untergang entgegensieht, müsste sich doch so etwas wie Mitgefühl regen.

SIMON KEENLYSIDE Weil durch die Erzählungen jeweils ganz unterschiedliche Dynamiken ausgelöst werden. Untersuchen wir die beiden Figuren separat: Rigolettos ganzes Streben gilt seiner Tochter Gilda. Der verzweifelte Versuch, das eigene Kind zu beschützen, wird nicht nur bei Vätern und Müttern im Zuschauerraum auf tiefstes Verständnis stoßen. Seine geliebte Frau ist gestorben, er ist Alleinerzieher – das ist schon heute kein einfaches Los, um wie viel weniger in früheren Zeiten. Zudem muss er in einem Umfeld agieren, das für ihn die Hölle ist – den Launen der Mächtigen ausgeliefert, missgestaltet, von
allen verachtet. Das macht Rigoletto zugleich schutzbedürftig. Dass er getrieben von seiner gesellschaftlichen Ohnmacht zur Rache schreitet, ist aus unserer heutigen Sicht vielleicht zu verurteilen. Aber noch vor 100, 150 Jahren galten andere Parameter, die ihn letztlich exkulpieren. Und Macbeth? Übertriebener Ehrgeiz ist an sich schon eher abstoßend, aber wenn jemand dann noch darauf aus ist, Kinder zu ermorden, hat er wohl jeden Funken Sympathie für immer verspielt. Außerdem wirkt er nicht unbedingt allzu intelligent, ein willfähriges Werkzeug in den Händen seiner Frau – auch keine besonders
einnehmenden Eigenschaften. 

Aber dieser Schutz, den Rigoletto Gilda angedeihen lässt, ist eher fragwürdig. Letztlich sperrt er sie ein, hindert sie am Leben, an der Entfaltung ihres Ichs. 

SK Zunächst einmal kennt er den Hof und die Umgebung des Herzogs, weiß also, was mit ihr passieren kann, und wie groß die Gefahr ist, dass sie in diesen Strudel hineingerät. Und dann… es gibt sehr unterschiedliche Ausformungen von Liebe, die von der Absicht her richtig sind, aber in eine falsche Richtung laufen. Ich kenne in Wales einen Bauern, dessen Liebe zu seinen Kindern ganz offensichtlich und eindeutig ist – trotzdem ist er ihnen gegenüber über die Maßen rau und hart. Geprägt von seiner Erziehung, seiner Vorstellungswelt meint er aber, genau das Richtige zu tun. In vielen Ländern des globalen
Südens existiert zum Beispiel Kinderarbeit mit dem Wissen der Eltern. Aber wenn man diese fragte, ob sie ihre Kinder lieben, würden sie mit einem eindeutigen »Ja« antworten, und zwar aus echter Überzeugung. Es sind die furchtbaren sozialen Umstände, die sie zu diesen Verbrechen zwingen. Und im Falle Rigolettos sind es gesellschaftliche Zwänge, diverse persönliche Traumata, die ihn auf diese Weise agieren lassen. Seine Gefühle der Liebe sind wahr, aber er weiß nicht, wie er diese umsetzen soll. Und so macht er Fehler. Und der Schlimmste ist natürlich, dass sein Racheplan schiefläuft und Gilda
ermordet wird.

Macbeth ist vielleicht auch von einem Trauma getrieben. Vom Trauma der Kinderlosigkeit. 

SK Glaube ich nicht. Es gibt, bevor er gewissermaßen zum Bösewicht mutiert, keinen einzigen Hinweis darauf, dass ihm Kinder wichtig wären. Und der Gedanke einer Dynastiegründung spielt ja am Beginn sowieso keine Rolle. Er ist Soldat, sein Leben ist der Krieg und der Sieg, der zu erkämpfen ist. Das ist seine Welt, dafür wurde er ausgebildet. Und seine intelligente, furchtbare Frau benutzt das für ihre Zwecke.

Liebt sie ihn?

SK Ich glaube, sie hat ihn geliebt. Andererseits: So wie andere Ehen in den vergangenen Jahrhunderten, speziell bei den Potentaten, war auch jene von Macbeth und seiner Frau wohl eine arrangierte Partnerschaft, in der es um Macht und Besitz ging, nicht um Zuneigung. Letztlich ist es aber unwesentlich, eine mögliche Liebe ist nicht das Thema dieser Geschichte.

Ist Rigoletto ein italienischer Wozzeck? 

SK Schwierige Frage. Es scheint einige Analogien zwischen den beiden Figuren und Schicksalen zu geben. Aber letztlich würde ich diese Frage verneinen. Denn ein fundamentaler Unterschied ist ganz offensichtlich: Berg zeigt uns in Wozzeck einen Menschen, der im Grunde daran zerbricht, dass ihm sein Lebenssinn genommen wurde. Er hatte als Ernährer seiner Familie eine Funktion, die ihn einigermaßen aufrecht erhält in seinem trostlosen Leben. Durch Maries Untreue fällt der mühsam aufgebaute und aufrechterhaltene Lebensentwurf in sich zusammen. Verdi hingegen erzählt uns eine
andere Geschichte. Rigoletto zerbricht ja nicht, nachdem Gilda in seinem Verständnis die Ehre verloren hat, er rebelliert vielmehr gegen das System. Zerbrechen wird er erst durch Gildas Tod, aber dieser ist nur bedingt seine Schuld.

Sowohl Verdi als auch Mozart haben ungemein vielschichtige Charaktere geschaffen, die sie zugleich ohne jede Wertung auf die Bühne stellten. Aber worin unterscheiden sich die diesbezüglichen Herangehensweisen der beiden Komponisten?

SK Vor allem die drei Da Ponte-Opern entstanden im zeitlichen Nahverhältnis zur Französischen Revolution, dadurch spielen Ideen wie Menschenrechte, Freiheit, Verantwortung bei Mozart immer, zumindest subkutan, eine große Rolle. In all seinen Figuren und den gezeigten Beziehungen werden außerdem allgemeinmenschliche Konflikte, Fehler, Stärken, Eigenheiten thematisiert. Verdi fragt sich hingegen
immer, wie ganz bestimmte Menschen in ganz bestimmten Situationen mit der Welt zurechtkommen. Anders gesagt: Verdi fokussiert auf ein ganz konkretes Individuum mit all seinen Verwerfungen.

Inwieweit ist Verdis Macbeth jener von Shakespeare?

SK Während der Proben zur Uraufführung von Benjamin Brittens A Midsummer Night’s Dream hat der berühmte Choreograph und Regisseur John Cranko einmal einen Sänger ermahnt, nicht zu viel Unterschiedliches zugleich zeigen zu wollen. Wer auf der Bühne vier oder fünf Botschaften auf einmal an das Publikum adressiert, so Cranko, würde keine einzige anbringen. Das ist eine fundamentale Weisheit. Umgelegt auf die Werke für die Opernbühne bedeutet das: Je komplexer die Komposition, desto weniger komplex darf das Libretto sein. Sonst sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Das Gewaltige an den Werken Shakespeares sind ja nicht die Geschichten selbst, sondern das, was in jeder Zeile ausgedrückt wird und wie es ausgedrückt wird. Diese literarische Höhe erreicht selbst ein Boito in Otello und Falstaff nicht, und schon gar nicht die übrigen Librettisten Verdis. Und das ist gut so. Verdis Kompositionen würden die Dichte der Shakespeare’schen Sprache gar nicht vertragen, es käme genau zu jenem Zuviel, das Cranko meinte. So gesehen ist Verdis Macbeth nicht jener von Shakespeare. Verdis Macbeth ist von Verdi.