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© Nora Heinisch / Win Village Agency

Eine unterschätzte Partitur - Ludwig Minkus’ »Don Quixote«

Das Wiener Staatsballett zeigt ab dem 14. September 2023 Rudolf Nurejews Don Quixote – zur Musik von Ludwig Minkus. Bis heute steht der gebürtige Wiener im Schatten anderer Komponisten, dabei ist sein Schaffen für den Tanz von außergewöhnlicher Qualität. Mit dem Dirigenten Robert Reimer, der in allen Vorstellungen der Produktion am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper zu erleben ist, sprach Dramaturgin Anne do Paço.

Explizit für Ballett konzipierte Musik wird oft mit den Kriterien symphonischer oder Opernmusik gemessen, was diesen Kompositionen meist nicht gerecht wird. Dies bekommt bis heute der 1826 in Wien geborene Ludwig Minkus zu spüren, von dem ausschließlich Ballettmusik bekannt ist – und davon nur noch wenige Werke aus einem umfangreichen Œuvre: Don Quixote, La Bayadère sowie seine Ergänzungen zu Paquita. Wie würden Sie Minkus’ Musik beschreiben?

ROBERT REIMER Ludwig Minkus war ein Komponist, der es verstand, Choreographen punktgenau das zu liefern, was sie für ihre Ballette brauchten. Das heißt aber nicht, dass er minderwertige Musik komponiert hätte. Nicht ohne Grund wurde er nach seiner ersten Zusammenarbeit mit Marius Petipa – dem 1869 am Moskauer Bolschoi-Theater herausgebrachten Don Quixote – zum Hauskomponisten des Kaiserlich-russischen Balletts gemacht. Die Partitur zeichnet sich durch eine große Stringenz aus, enthält viele wunderbare, ausdrucksstarke Melodien und musikdramatisch äußerst starke Passagen. Anders als bei Léo Delibes und natürlich Piotr Iljitsch Tschaikowski oder Igor Strawinski sind von Minkus jedoch keine Suiten im Konzertsaal heimisch geworden, was sicherlich dazu beigetragen hat, dass man sein Werk kaum kennt. Erklären kann ich mir das nur daraus, dass er ausschließlich Ballettkompositionen geschrieben hat.

Sechs Jahre vor Georges Bizets Carmen komponiert, ist Don Quixote ein sogenanntes »spanisches« Ballett und reiht sich damit in die Faszination für alles »Fremde« und »Exotische« ein, wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Künsten so en vogue war.

RR Wie Bizet ließ sich auch Minkus von spanischen Volksliedmelodien und Tänzen für seine Partitur inspirieren – und wie er diese integrierte, ist nicht nur meisterhaft gemacht, sondern mit einem überraschenden Augenzwinkern. Seine Musik trifft genau das komödiantische Timbre, welches das auf Cervantes’ Don Quijote-Roman beruhende Libretto auszeichnet. Grundsätzlich ist es bei Minkus sehr wichtig, dass man das richtige Tempo trifft. Ein schönes Beispiel ist die Szene im Reich der Schatten aus La Bayadère – komponiert 1877, also im gleichen Jahr wie Tschaikowskis Schwanensee: Im 12/8-Takt hat jedes einzelne Achtel Gewicht, man muss also ein sehr langsames Tempo wählen, nur dann entfaltet die Musik ihre ganze Qualität und es wird schnell klar, dass Minkus ein wirklich unterschätzter Komponist ist.

Nicht nur die Tänze der Don Quixote-Partitur haben durch ihre Charakteristik eine große Qualität, sondern auch die Scenes d’actions. Sie sind – wie beim späteren »Micky Mousing« der Filmmusik – ganz genau auf die Pantomime, die Gesten, Blicke und Schritte komponiert.

RR Das ist etwas, das mir in meiner Karriere in dieser Präzision erstmals in Kurt-Heinz Stolzes Partitur-Einrichtung für John Crankos Onegin begegnet ist. Es gilt aber bereits für Minkus’ Don Quixote: dass Musik für den Tanz nicht nur Emotionen transportiert und Rhythmen und Tempi liefert, sondern in einem musikdramatischen Sinn, der die Ballettkunst als Sprache begreift, jeden Ton für die Bühne sinnvoll macht, sodass man den Eindruck gewinnt, die Handlung bzw. Bewegung entstehe aus der Musik. Minkus beherrschte das meisterhaft – und in der Arbeit mit den Musiker*innen gilt es, dies immer wieder auch zu vermitteln, die – da mache ich mir nichts vor – anders an eine Minkus-Produktion herangehen als an eine, bei der Tschaikowski auf den Pulten liegt. Wenn man aber erst einmal entdeckt hat, wie viel schöne Musik es in diesen Partituren gibt, entsteht auch eine Lust am Spielen.

Rudolf Nurejew hat sich für seinen Don Quixote von dem englischen Dirigenten John Lanchbery, der vor allem für das Londoner Royal Ballet Partituren arrangiert hat – darunter auch die Musik zu Frederick Ashtons La Fille mal gardée – eine Bearbeitung anfertigen lassen.

RR Die Minkus-Quellenlage ist leider grundsätzlich problematisch. Die originale Partitur zu La Bayadère wurde z.B. erst 2002 im Archiv des Mariinski-Balletts wiedergefunden. Im Fall des Don Quixote weiß ich nicht, ob es ein »Original« überhaupt noch gibt – dem nachzugehen wäre eine sicher aufwändige, aber eventuell auch lohnende Forschungsarbeit. So, wie die Choreographie Petipas nur in den zahlreichen Überschreibungen, die das Werk im Lauf der Zeit erfahren hat, überliefert ist, ist auch die Partitur immer wieder überarbeitet, gekürzt und ergänzt worden. Ich habe Don Quixote bisher nur in Bearbeitungen dirigiert – darunter die Version Victor Ullates beim Berliner Staatsballett, in der das spanische Kolorit durch die Integration eines Flamenco-Gitarristen noch verdeutlicht wird.

Wie muss man sich Ihre Vorbereitungen für eine Ballettproduktion vorstellen?

RR Im Fall der aktuellen Don Quixote-Serie des Wiener Staatsballetts habe ich das Glück, dass ich in diesem Jahr noch ein anderes großes Minkus-Projekt hatte: Ich habe gerade La Bayadère mit dem Hong Kong Ballet und der Hong Kong Sinfonietta gemacht – in der Fassung, die Vladimir Malakhov 1999 für das Ballett der Wiener Staatsoper kreiert hat. Malakhov war in Hong Kong auch vor Ort und wir hatten intensive Proben mit den Tänzer*innen und dem Orchester – in der Beschäftigung mit Minkus für mich eine optimale Basis für den Don Quixote in Wien. Bei Repertoirewerken sind Videos für mich eine wichtige Grundlage bei der Vorbereitung. Mit ihnen studiere ich die Choreographie genau und arbeite dabei von Groß nach Klein: Ich sortiere zunächst alle Übergänge, Auf- und Abtritte, notiere mir die Stellen, an denen ich auf die Tänzer*innen warten muss und die, in denen ich eher frei bin. Dann gehe ich tiefer in die Choreographie hinein, schaue mir genau an, wie die Bewegungen mit der Musik korrespondieren. Für den Tänzer ist das Tempo immer entscheidend – und um dieses zu finden, muss man wissen, wie eine Choreographie auf die Musik gebaut ist: Reagiert der Tanz eher kleinteilig z.B. auf einzelne Notenwert oder bezieht er sich auf ein weiträumigeres Maß. Wichtig ist auch, die Schlüsselmomente zu kennen, an denen man – falls etwas doch einmal zwischen Bühne und Graben auseinandergeht – wieder zusammenfindet. Bereits während der Proben im Ballettsaal versuche ich, einen engen Kontakt zu den Tänzer*innen aufzubauen, sodass ich genau weiß, wo es für sie Momente gibt, in denen ich sie bewusst unterstützen muss. Je mehr ich spüre, was auf der Bühne passiert, desto sicherer bin ich in der Umsetzung des Tempos. Im Idealfall liest man als Dirigent die Choreographie bis ins kleinste Detail genau wie eine Sprache. Auf deren Nuancen kann man dann in der Vorstellung sehr flexibel mit einem Orchester, das dies auch mitmacht, reagieren. Wenn genau dies gelingt, entsteht diese besondere Magie einer Ballettaufführung. Dann bin ich sehr glücklich.

Sie verfügen auch über ein großes Opernrepertoire, dirigieren regelmäßig Konzerte. Was interessiert Sie am Tanz?

RR Ich komme ursprünglich von der Oper. Es war Vladimir Malakhov, der mich in Berlin zum Ballett gebracht hat – und ich möchte das nicht mehr missen. Jüngeren Kolleg*innen empfehle ich immer wieder, auch Ballett zu dirigieren, aber so, dass sie für die Tänzer*innen da sind. Ballett ist mehr als nur eine unglaublich gute Schule für Dirigent*innen. Es ist für mich die musiktheatralische Form, die wirklich lebendig, am Puls der Zeit ist, sehr oft genau auf all das reagiert, was uns gerade beschäftigt – in Wien zeigt das Martin Schläpfer in seinen Choreographien auf eine einzigartige Weise, die mich sehr fasziniert und berührt.