Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik

Die Rückkehr der Riesenpuppen

Anders als sein Landsmann Giuseppe Verdi liebte Gioachino Rossini Paris. Jenes Paris, das im 19. Jahrhundert unbestritten als Welthauptstadt der Musik galt, in der er zeitweise einflussreiche Funktionen ausübte – u.a. als Leiter des Théâtre Italien, als Hofkomponist oder als Generalinspekteur des Gesangs in Frankreich. Darüber hinaus brachte Rossini hier seine fünf letzten Werke für das Musiktheater heraus. Zwar handelte es sich beim ersten dieser Stücke, dem Viaggio a Reims, »nur« um eine ausgedehnte italienische Huldigungskantate anlässlich der Krönung von Charles X., bei den beiden Folgewerken um französische Neufassungen bereits früher geschriebener, italienischer Opern und beim vierten um eine französische Opéra comique, für die er viel Material aus dem Viaggio a Reims wiederverwendete. Doch mit dem letzten Werk, dem 1829 uraufgeführten Guillaume Tell, schuf er für Paris eine vollständig neue Partitur, die zu einem der entscheidendsten Beiträge der neu entstehenden Gattung der Grand opéra wurde und zahllose Komponisten beeinflusste.

Auf der Suche nach einem geeigneten Stoff hatte sich Rossini vom gerade vorherrschenden politischen Klima leiten lassen, das, wie der Musikpublizist Fedele D’Amico und die Musikwissenschaftlerin Sabine Henze-Döhring betonen, »Themen wie Freiheit und Unabhängigkeit begünstigte«. So entschied Rossini mit seinen beiden Librettisten, sich dem Wilhelm Tell-Stoff zu widmen.

Als Vorlage dienten, neben einigen Dramatisierungen der bekannten Legende, die Erzählung Guillaume Tell ou La Suisse libre des französischen Dramatikers und Fabeldichters Jean Pierre Claris de Florian, der, in derFranzösischen Revolution gefangengesetzt, seiner Freiheitssehnsucht Ausdruck verliehen hatte, und vor allem Friedrich Schillers Schauspiel Wilhelm Tell.

Schwerpunktverschiebung

Ist die Figur des Tell bei Schiller ein der Politik Fernstehender, der erst nach und nach zum Aufständischen wird, ist er in der Rossini’schen Oper von Anfang an der glühende Patriot, umgetrieben von der um »ihre Freiheit weinende Schweiz«. Guillaume Tell ist in der Oper somit gewissermaßen das Rückgrat des gesamten Aufstandes gegen die Unterdrücker. Eine innere Entwicklung ist dem Liebespaar Arnold und Mathilde vorbehalten, die aus den feindlichen Lagern kommen: Arnold gehört zu den Schweizern, Mathilde als habsburgische Prinzessin zu den Besatzern. Dennoch versuchen die beiden zunächst, allen Standesunterschieden und politischen Gegensätzen zum Trotz, ihrer Liebe eine Zukunft zu geben. Erst die Ermordung seines Vaters führt bei Arnold zum Umdenken, zu seinem Entschluss, sich auf die Seite der Freiheitskämpfer zu schlagen und auf Mathilde zu verzichten. Erst als Mathilde später, von der Brutalität der Besatzer entsetzt, die Seiten wechselt, kann sie die Verbindung doch noch retten.

Aber nicht allein der Freiheitskampf steht im Fokus. Rossini ging es auch um die Schilderung von Landschafts- und Naturereignissen, die immer wieder mit den Handlungselementen enggeführt werden. Beginnend in der mehrteiligen Ouvertüre (mit ihrem zum Schlager avancierten letzten Teil) und am deutlichsten im vierten und letzten Akt, in dem das gewaltige Unwetter symbolhaft für den Ausbruch des Aufstandes und die Erschießung des verhassten Tyrannen Gesler gesetzt wird, so, wie das nachfolgende Aufklaren des Himmels für die errungene Freiheit. Im abschließenden Hymnus erfahren schließlich beide Pole, Freiheitskampf und Natur, eine kathartische Verschmelzung.

Guillaume Tell und Wien

Dank Rossinis Popularität in Wien dauerte es nur ein Jahr, bis auch sein letztes Bühnenwerk in der Donaumetropole (in deutscher Sprache) zur Aufführung gelangte. Allerdings vorerst nur in einer für das heutige Verständnis einer Opernaufführung skurrilen Form: An drei Terminen Ende Juni 1830 gab man im Kärntnertortheater zunächst die ersten beiden Akte (als 1. Abteilung tituliert) und einen Monat später (!) den dritten und vierten Akt (2. Abteilung). Erst ab August 1830, nachdem das Publikum gewissermaßen häppchenweise an das Stück herangeführt worden war, konnte Guillaume Tell vollständig erlebt werden.

Die nächsten Jahrzehnte blieb das Werk mit kurzen Unterbrechungen dem Publikum erhalten –
wenn auch bald nur in diversen Strichfassungen. Eine umjubelte Vorstellung gab es sogar im Theater an der Josefstadt, und bald nach der Eröffnung spielte man den Tell auch im neuen Haus am Ring, der heutigen Staatsoper, wo er immerhin bis 1907 am Spielplan blieb. Danach wurde es die nächsten Jahrzehnte recht still um dieses Werk. Eine Stille, die an der Wiener Volksoper mit einer Neuproduktion im Jahr 1958 vorübergehend unterbrochen wurde. Erst mit der Staatsopern-Premiere der aktuellen Produktion 1998 wurde der Tell wieder repertoirefähig. Aber nun erstmals und endlich auch in Wien in der französischen Originalversion.

Extrem herausfordernd

Es war der frühere Staatsoperndirektor Ioan Holender, der Guillaume Tell in Wien aus der Versenkung holte und dem hiesigen Publikum die Möglichkeit gab, sich mit diesem Meisterwerk auseinanderzusetzen. Holenders Liebe zu dieser Oper rührte noch aus der Zeit, als er, frisch aus Rumänien nach Österreich emigriert, die Stehplätze aller Theater in Wien frequentierte. So auch jenen der Volksoper, wo er unter anderem die Publikumslieblinge Alexander Svéd in der Titelrolle und Karl Terkal als Arnold in der oben erwähnten Tell-Neuproduktion von 1958 erleben durfte. Eine spätere Aufführung in Deutschland, bei der übrigens Giuseppe Taddei im Rahmen einer deutschsprachigen Aufführung  den Tell auf Italienisch sang, verstärkte in ihm den Wunsch, diese Oper auch an der Staatsoper zu erleben. Und so war es naheliegend, dass er in seiner Amtszeit daranging, das Werk so bald wie möglich herauszubringen. Allerdings bereitete ihm vor allem die Besetzung der extrem herausfordernden Partie des Arnold ein gewisses Kopfzerbrechen. Erst nach der verbindlichen Zusage von KS Giuseppe Sabbatini, die Rolle zu wagen, wurde Guillaume Tell 1998 tatsächlich angesetzt.

Mit der Inszenierung wurde der Brite David Pountney betraut, der kurz vorher mit einem die Gemüter erhitzenden Rienzi am Haus debütiert hatte (später konnte er vor allem mit seiner Jenůfa-Regie begeistern). Pountney entschied sich in seiner Interpretation für eine symbolhafte Bildsprache, in der er bewusst auch das folkloristische Element des Werks parodierte. Zudem spielte er mit den Maßstäben. So schuf er beispielsweise, im bewussten Gegensatz zu maßstabgetreu verkleinerten Häusern im alpenländischen Stil, zwei mehrere Meter hohe Riesenpuppen, die als Überelternpaar fungieren, um die sich alle anderen scharen. Auf diese Weise soll der Eindruck einer Großfamilie suggeriert werden, die vereint gegen den Fremdherrscher auftritt. Zudem spannt Pountney einen Bogen von der scheinbaren Idylle am Beginn über Zerstörung, Chaos und Kampf zum tatsächlich idyllischen Schlusstableaux inklusive einer Miniaturdorflandschaft, die atmosphärisch mit dem oben angesprochenen kathartischen Hymnus korrespondiert.

In der nunmehrigen Wiederaufnahme am 8. März wird KS Juan Diego Flórez erstmals die gefürchtete Partie des Arnold übernehmen. Der der Wiener Staatsoper seit Jahren eng verbundene Tenor hat diese Rolle, die er als eine der schwierigsten der gesamten Opernliteratur bezeichnet, erstmals 2013 beim Festival Internacional de Ópera Alejandro Granda in Peru und etwas später beim Rossini-Festival in Pesaro gesungen. Schon damals fühlte er sich bereit, eine Partie in sein Repertoire aufzunehmen, die etwas mehr dramatischen Biss in der Stimme erfordert – nicht umsonst hätte man als Interpret des Arnold, so Flórez, das Gefühl, Rossini, Donizetti und Verdi gleichzeitig zu singen. Für die coronabedingt ins Wasser gefallene Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper im Frühling 2020 stand Flórez schon einmal auf der Besetzungsliste. Mit der bevorstehenden Wiederaufnahme sollte diesem Wiener Rollendebüt aber nichts mehr im Wege stehen.

Für seine Bühnengeliebte Mathilde konnte die amerikanische Sopranistin Lisette Oropesa gewonnen werden, die an der Staatsoper seit ihrem Debüt als Konstanze in Mozarts Entführung auch als Lucia, Gilda und zuletzt als fulminante Violetta zu hören war. Für sie ist es überhaupt das erste Mal, dass sie mit der weiblichen Hauptpartie in Guillaume Tell vor ein Publikum tritt, einer ebenfalls besonders schwierigen und heiklen Partie wohlgemerkt. Insbesondere ihre beiden Arien »Sombre forêt« und »Pour notre amour« gehören mit ihren raschen Koloraturkaskaden oder großen Tonsprüngen innerhalb von überaus langen Legatobögen zu jenen Klippen, deren Bewältigung nur den besten Sängerinnen gegeben ist. Wobei Oropesa betont, dass es sich hierbei nicht um bloßen Belcanto im Gewand einer Grand opéra handle, sondern um einen echten, unverkennbaren Rossini, wobei Passagen voller Chromatik, Oktavsprünge oder überraschende Akkordwechsel auf später geschriebene Opern Meyerbeers und sogar auf Wagner vorausweisen. Es gibt ein schönes Bonmot von Gaetano Donizetti, nach dem der erste, dritte und vierte Akte unleugbar von Rossini seien, der zweite aber vom lieben Gott.
 



Kurzinhalt Guillaume Tell

Die Schweiz steht unter der Gewaltherrschaft der Habsburger, doch unter der Führung von Guillaume Tell formiert sich ein Widerstand. Arnold, dessen Vater Melchtal eine allseits respektierte Persönlichkeit ist, stand im Dienste der österreichischen Besatzer. Zudem sind er und die habsburgische Prinzessin ein heimliches Liebespaar. Nachdem sein Dorf von österreichischen Truppen zerstört und sein Vater ermordet wird, wechselt Arnold aber schließlich doch auf die Seite seines Volkes.

Anlässlich der hundertjährigen Herrschaft in der Schweiz ordnet der grausame Landvogt Gesler Feierlichkeiten an, bei dem alle Anwesenden seinen Hut ehrfürchtig grüßen müssen. Als Tell die verlangte Verneigung verweigert, wird er festgenommen und muss zur Strafe mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen. Zum Jubel der Menge gelingt der Meisterschuss. Als Tell gesteht, für den Fall seines Scheiterns einen zweiten Pfeil für den Landvogt vorgesehen zu haben, wird er in Ketten gelegt. Arnold stellt sich an die Spitze der aufständischen schweizerischen Truppen.
In einem Boot möchte Gesler Tell nach Küssnacht verschleppen, wo der Freiheitskämpfer den Tod finden soll. Tell gelingt es, noch ehe Arnold mit den siegreichen Schweizer Truppen herbeieilt, Gesler zu erschießen. Ein Lobpreis auf die befreite Schweiz beendet die Oper.