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© Marco Borggreve
Bertrand de Billy
© Wiener Staatsoper GmbH / Ashley Taylor
Bertrand de Billy mit KS Elīna Garanča und KS Piotr Beczała bei der Eröffnung des Wiener Opernballs 2024

Der Sprung in die Zukunft

Er ist derzeit fast allgegenwärtig in der Wiener Staatsoper: Gerade erst leitete er eine Serie der zutiefst berührenden Dialogues des Carmélites und fast gleichzeitig Tosca-Vorstellungen mit Piotr Beczała, unmittelbar darauf erlebte ihn ein Millionenpublikum bei der Eröffnung des Opernballs. Und während andere noch ausschliefen, kümmerte er sich um die Vorbereitung der Wiederaufnahme von Gioachino Rossinis Guillaume Tell. Natürlich reden wir von Bertrand de Billy, jenem Dirigenten, der mehr als 250mal im Haus am Ring auftrat und dessen Repertoire einfach alles zu umfassen scheint. Von der Zauberflöte bis Carmen, von Don Carlos bis La traviata, von Faust bis zum Fliegenden Holländer. Über seine Aufnahmeprüfung in der Schweiz, den politischen Rossini und sein eigenes Verhältnis zu makellosen Helden spricht er mit Oliver Láng.

Sehr gerne würde ich dieses Gespräch mit einer allgemeinen Frage beginnen. Der britische Schriftsteller William Somerset Maugham sprach einmal davon, dass man im Schaffensprozess die erdachten Figuren ganz für sich hat, sie aber im Zuge einer Veröffentlichung an das Publikum verliert. Geht es Ihnen als Dirigent auch so? Im Studium gehört die Oper ganz Ihnen, bei der Aufführung auch den Zuhörerinnen und Zuhörern?

Der große Unterschied zwischen dem Schriftsteller Somerset Maugham und dem Dirigenten de Billy besteht ja darin, dass Letzterer kein Schöpfer ist. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass ein Autor Figuren kreiert, Persönlichkeiten erfindet, sie »besitzt« – und dann an die Leserin und den Leser, die sich mit Figuren vielleicht identifizieren, gleichsam übergibt. Ich aber schaffe nichts gänzlich Neues. Wenn ich eine Partitur öffne, ist alles schon da! Meine Aufgabe ist zu verstehen, was die Autoren wollten, um das dann bestmöglich zum Leben zu erwecken. Durch meine Interpretation, und das ist das Persönliche an meiner Arbeit, betone ich Dinge, hebe Aspekte hervor, unterstreiche manches. Ich kann Schwerpunkte setzen, die mir im Sinne der Deutlichkeit dessen, was nach meiner Sicht die Autoren wollten, wesentlich scheinen – eben interpretieren. Aber das Material, mit dem ich arbeite, hat ein anderer geschaffen.

Weil Sie von Identifikation sprachen: Gibt es diese auch als Dirigent? Sind Sie womöglich zeitweise ganz Wilhelm Tell? Arnold? Oder alle Figuren gleichzeitig?

Ich denke: nein. Ich identifiziere mich in meiner Arbeit nicht mit einzelnen Opernfiguren. Ich werde von ihnen berührt, oder genauer: Ich werde von Situationen und Emotionen berührt. Das betrifft jede Oper. Das Ungewöhnliche daran ist vielleicht, dass es Stellen in Werken gibt, die in mir seit der Kindheit immer dieselben Gefühle auslösen. Geradezu körperliche Zustände: Ich sehe Bilder, spüre Dinge – jedes Mal ein wenig stärker. Dass ich mich aber in eine Rolle verliebe oder mich in ihr wiederfinde, das ist mir noch nicht passiert und sollte mir in meinem Beruf auch nicht passieren, denn unsere Aufgabe ist es ja, in den Zuschauern die Emotionen auszulösen. Es kann schon sein, dass ich manchmal eine Person, die ich auf der Bühne sehe, sein möchte oder ich frage mich, wie ich mich wohl in einer entsprechenden Handlungssituation verhalten würde, aber das betrifft nicht nur das Musiktheater, sondern auch das Schauspiel, die Literatur, den Film. Oder auch das Leben an sich.

Sie sind gebürtiger Franzose, Schweizer Staatsbürger und dirigieren in Wien Guillaume Tell, eine Oper, die in Paris uraufgeführt wurde und in der die Habsburger vorkommen.

Ja, ja – auf ersten Blick eine interessante Situation. Nur was bedeutet das in der Realität? Natürlich kennt man sowohl als Franzose wie auch als Österreicher die Figur und die Legende von Wilhelm Tell. Für die Schweizer hat es noch eine andere Dimension. Dort ist er eine Persönlichkeit, die regelrecht verehrt wird. Eine Art Mythos. Er ist ein Idealbild, einer aus dem Volk, der für die Freiheit gekämpft hat. Als ich Schweizer wurde, musste ich eine Prüfung absolvieren – und eine der Fragen behandelte natürlich Wilhelm Tell. So wie es in jedem Dorf eine Tell-Statue gibt. Ich wohne in Lausanne, im Kanton Vaud, und der Wahlspruch dort lautet »Liberté et Patrie«. Genau auf der Linie von Tell! Und ich kenne etliche Leute, die darauf bestehen, dass Wilhelm Tell nicht nur ein Mythos ist, sondern tatsächlich gelebt hat. Ein idealisierter Held, fast eine Erlöserfigur. Wenn er in der Oper mit den Worten »Frauen, jagt die Männer aus den ehelichen Betten« zur Aktivität antreibt, dann ist er ja damit nicht weit von Christus entfernt, der seine Jünger anweist, alles hinter sich zu lassen.

Wie attraktiv ist ein so purer Held für Sie?

Ich finde Figuren, die nicht ganz perfekt sind, an sich immer interessanter. Im Falle von Tell kann man aber durchaus auch die Schattenseiten finden; er ist ja auch manipulativ, wenn er etwa Arnold, statt ihn nach dem Tod seines Vaters zu trösten, aufhetzt. Tell nützt also die Schwäche der Menschen. Auch die anderen Figuren haben ihre Untiefen: Mathilde etwa ist sich des Standesunterschieds zu ihrem Geliebten Arnold durchaus bewusst. Es gibt also auch zutiefst Menschliches, und das finde ich wichtig zu betonen. Das sind übrigens Aspekte, die mir diesmal stärker auffallen als bei meinen bisherigen Guillaume Tell-Dirigaten. Wenn wir diese Oper, die dem Genre der Grand opéra angehört, nun mit dem deutlich später entstandenen Don Carlos von Verdi vergleichen, dann sehen wir, dass zwar beide Opern politisch sind, Verdi aber die unterschiedlichen Charakterfarben einer Figur stärker hervorhebt. Rossini arbeitete diesbezüglich noch weniger psychologisch.

War für Rossini also das Politische an der Oper von Bedeutung?

Natürlich war sich Rossini der Tragweite bewusst. Das merkt man schon an der Tatsache, dass er den Chor einmal die »Marseillaise« andeuten lässt. Das ist selbstverständlich kein Zufall, sondern hatte in Frankreich eine Signalwirkung. Ich würde zusätzlich sagen, dass es für einen so enorm erfolgreichen Komponisten wie Rossini anziehend war, sich mit einem politischen Stoff zu beschäftigen, mit einem Stoff nach Friedrich Schiller. Sie haben vorher Frankreich, die Schweiz und Österreich erwähnt. Aber nicht Deutschland. Schiller war Deutscher und Tell ist in wesentlichsten Teilen auch ein deutsches Stück, das 1804 uraufgeführt wurde – in einem anderen politischen Umfeld und in einer neuen Theatertradition: Weimar! Doch dann passierte etwas: Das Ganze hat sich irgendwie verselbstständigt, wie das bei großen Kunstwerken immer wieder der Fall ist. 25 Jahre später, bei der Uraufführung der Oper, gibt es in Paris ein anderes Theaterverständnis, abgesehen von den eigenen Bedürfnissen der Gattung Oper, und die Librettisten waren Franzosen, die ein Libretto für die Pariser Oper geschrieben haben, das ein Italiener vertonte. Das Ende der Oper, die letzten zehn Minuten, sind ein Sprung in die Zukunft, wie man ihn selten erlebt hat. Was wir hören, grenzt beinahe an Wagner und Debussy. Rossini ist da seiner Zeit plötzlich um Jahrzehnte voraus. Er schreibt also ein Finale, das wie eine Vision ist, und merkt, wie er nach diesem Opernende auch nicht mehr zurückkann. Es ist wie ein Endpunkt. Wahrscheinlich war er selbst erstaunt über das, was da passiert ist. Wir kennen das ja auch von anderen Künstlern, die letzten Bilder von Monet sind quasi moderne Kunst. Ich lese in dieser Oper also eine musikalische Entwicklung heraus, wie man sie sonst nur selten erlebt. Vergleichen wir die Situation mit Verdi und seinem Falstaff: auch ein Meisterwerk, aber bei Verdi sehen wir eine laufende Entwicklung. Bei Rossinis Guillaume Tell: ein radikaler Sprung!

In der Oper werden mitunter originale schweizerische Melodien zitiert, Rossini setzt Echo-Effekte ein, die auf die schweizerische Berglandschaft hinweisen. Dienen diese Elemente als Farbtupfer oder sollen sie eine Atmosphäre erzeugen?

Es ist Stimmungszauber, wie ein Duft. In Guillaume Tell kreiert Rossini bewusst eine »schweizerische« Atmosphäre. Es gibt zum Beispiel auch Stellen, an denen die Soprane im Chor ein bisschen jodeln sollen. Nicht viel! Nur eine Andeutung, aber es ist vorhanden. Die Naturschilderungen, die in dieser Oper vorkommen, können auch an schweizerische Landschaften erinnern, sie stehen aber auch einfach für Tells Verbundenheit mit der Natur. Ich habe mich diesmal auch entschlossen, Namen wie Melchtal nicht in französischer, sondern in schweizerischer Aussprache singen zu lassen.

Und gibt Rossini den Schweizern und Habsburgern unterschiedliche Musiken?

Nein – so weit geht er nicht. Manchmal singen die Schweizer und die österreichischen Soldaten sogar dieselbe Melodie, da muss man dann mit Farben arbeiten. Denn es ist klar, dass es nicht gleich klingen darf. Durch die Farbe muss der jeweilige Charakter verständlich werden.

Wie klingt das in der Praxis?

Ich habe dem Chor gesagt, dass die Österreicher klingen müssen wie die Hexen in Verdis Macbeth, die Schweizer hingegen weicher. Das muss deutlich zu hören sein!

Das bedeutet aber auch, dass der Komponist wertete. Im Gegensatz etwa zu Verdi oder Mozart.

Finden Sie wirklich, dass Mozart und Verdi nicht gewertet haben? Ich denke, es ist zumindest klar: Gesler ist böse. Tell der Freiheitsheld. Also, Rossinis Position ist schon klar verständlich.

Die Gattung der Grand opéra, an deren Anfang Guillaume Tell stand, setzt gewisse formale Anforderungen voraus. Kann man diese als Korsett für Rossini sehen?

Man muss festhalten, dass es Rossini ja nicht primär darum ging, eine Form zu erfüllen. Die Struktur der Grand opéra war so noch nicht ausdefiniert, sondern gerade im Entstehen und Tell hat ja für die Entwicklung einen wesentlichen Beitrag geliefert. Rossini nahm ein Thema und fragte sich, was er braucht, um das Projekt umsetzen zu können. Natürlich mit den enormen Mitteln und grandiosen Sängern, die die Operá in Paris damals zu bieten hatte. Das Ballett etwa hat in Guillaume Tell eine dramaturgische Logik: Gesler befielt Tänze –
und dann wird eben getanzt. Das ist kein Korsett, sondern fügt sich in die Handlung ein. Man darf aber auch nicht vergessen, was es damals für eine Herausforderung für einen Komponisten war, für die Pariser Oper zu schreiben. Paris war damals der Opernmittelpunkt der Welt und da wollte Rossini – wie auch bereits Bellini und später Verdi – reüssieren!

Ist die Grand opéra mit ihren Regeln – es muss ein historisches Thema sein, es braucht zum Beispiel große Tableaux, Chöre, Ballett, Prunk und so weiter – heute überhaupt noch zeitgemäß?

Es ist wie in jeder Opernform zeitgemäß, wenn die Musik und das Libretto gut sind. Oftmals sind Elemente wie das Ballett eine Herausforderung für die Inszenierung. Ich finde aber: Wenn man eine Grand opéra macht, dann auch mit Ballett. Es gehört einfach alles dazu. Aber Meisterwerke in egal welcher Form überdauern die Zeiten.

Und inwiefern unterscheidet sich Guillaume Tell von anderen, sagen wir: heiteren Werken Rossinis?

Guillaume Tell ist wie eine lange Reise. Schließlich geht es in der Oper um nicht mehr und nicht weniger als um die Gründung der Schweiz, und das braucht seine Zeit. Die Oper beginnt sehr lyrisch, baut sich langsam und gemächlich auf. Der Chor singt über die Natur, preist Gott, das aber: sehr zurückgenommen, sotto voce, also gedämpft. Dann entfaltet sich schön langsam die Handlung: der erste Akt ist gewaltig! Rossini nimmt sich Zeit, bevor es so richtig losgeht. Das ist für ihn eher ungewöhnlich. Und wir finden keine Koloraturarien, sondern Arien mit Koloraturen – das ist ein Unterschied! Mich beeindruckt übrigens immer wieder, was Rossini den Sängerinnen und Sängern abverlangt: die Partie der Mathilde ist ungemein schwierig, wie eine Anna Bolena! Arnold muss große Höhen, aber auch eine gute Tiefe bieten können, dasselbe gilt für die Titelfigur. Dessen Rolle liegt anfangs, wenn er über die Situation seiner Heimat klagt, sehr tief, steigt dann aber stark an. Später, bei seiner großen Arie mit dem Solocello, wird es fast veristisch, am Ende der Oper singt er wiederum fantastische Linien in schönstem Belcanto. Eigentlich bräuchte man für jede Rolle gleich zwei Sänger. Aber auch jenseits der Hauptrollen: nehmen Sie zum Beispiel den Fischer gleich zu Beginn der Oper: sehr herausfordernd!

Und für das Publikum? Ist Guillaume Tell ein »schwieriges« Stück?

Nein, absolut nicht! Es gibt viel herausforderndere Werke der Pariser Operntradition, wie etwa Robert le diable. In Guillaume Tell kennt jede und jeder einige Melodien, wir haben ununterbrochen wunderbare Momente – oft zum Niederknien schön – und dann eben das Finale und der Schluss in C-Dur: Ich bin immer sehr bewegt, wenn ich das höre.