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© Sebastien Galtier
© Wiener Staatsoper GmbH / Ashley Taylor

Alles beginnt mit der Kamera

Der niederländische Choreograph Hans van Manen, einer der wichtigsten Ballettkünstler der Gegenwart, hat mit seinem Videoballett »Live« Tanzgeschichte geschrieben. Mit dem Wiener Staatsballett wird das Stück erstmals im Ballettabend »Mahler, live« aufgeführt.

Die Uraufführung von »Live« war 1979, seine Premiere ist also mittlerweile 43 Jahre her und das Wiener Staatsballett nun die erste Compagnie, die das Stück neben Het Nationale Ballet Amsterdam in ihr Repertoire aufnehmen darf. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Hans van Manen »Live« ist sehr besonders für mich, und es einer anderen Compagnie anzuvertrauen, hat mit Martin Schläpfer zu tun. Ich arbeite seit 35 Jahren mit ihm zusammen. Vom Tänzer bis zum Choreographen. Von Bern über Mainz bis Düsseldorf. Für Wien hat er mich gefragt, ob wir zusammen seine Eröffnungspremiere gestalten wollen. Es war sein Wunsch, »Live« zu zeigen. Wenn Martin Schläpfer sich etwas wünscht, dann sage ich ja. Und natürlich habe ich mit Wien auch eine Vergangenheit: Seit den 1970er Jahren habe ich immer wieder an der Wiener Staatsoper gearbeitet.

Wie ist es zur Entstehung des Balletts gekommen?

HvM Ich war schon immer sehr an der Videotechnik in all ihren Formen interessiert. Ich habe bereits früh eine Videokamera gekauft und Ende der 60er Jahre begonnen, meine eigenen Ballette aufzuzeichnen. Dann traf ich Henk van Dijk, meinen heutigen Partner, der diese Aufgabe übernahm und Videograf des Het Nationale Ballet Amsterdam wurde. Mein Interesse für Video und Fotografie war und ist immens. Für ein Programm im Amsterdamer Winterzirkus Carre kam ich auf die Idee, Video während einer Aufführung in einem Theater zu verwenden. Ich wollte verschiedene mediale Ebenen miteinander verbinden, sodass es den Tanz, der live gefilmt wird, auf der Bühne gibt, dann die Szene im Foyer, die das Publikum nur auf der Leinwand und durch die Kamera sehen kann und schließlich noch eine Art Rückblick oder ein Einblick in die Vergangenheit der Tänzerin und ihres Partners, was wir durch das vorproduzierte Material verwirklicht haben.

Können Sie den Einsatz der Kamera in »Live« genauer beschreiben?

HvM Durch die Kamera entsteht ein ganz anderes Gefühl von Nähe. Eingefangen durch die Kamera kann das Publikum körperliche Details, selbst minimale Bewegungen in den Gliedern der Tänzerin entdecken. Im zweiten Teil von »Live« gibt es einen sehr intensiven Moment, in dem die Tänzerin direkt in die Kamera blickt. Dort sind wir ihr ganz nah. Mir war es aber wichtig, den Prozess zu zeigen, was während des Tanzens mit einem Menschen geschieht. Auch wenn es einfache Bewegungen und Gesten sind – Haare, Arm, Hand, Füße – so nah ist das Publikum sonst nie, selbst mit einem Opernglas nicht. Das ist nur mit der Kamera möglich. In »Live« habe ich alle Möglichkeiten des Kameraeinsatzes eingebaut. Alles, was die Kamera kann, sieht man in dem Ballett. Für den Kameramann ist es nicht einfach, die Choreographie zu filmen. Die ersten 20 Minuten sind ein Shot und die Kameraführung muss sehr konzentriert sein.

Sie haben bereits den Blick der Tänzerin in die Kamera erwähnt. Blicke spielen in Ihren Balletten stets eine zentrale Rolle. Warum ist die Blickrichtung oder Entscheidung für einen Blick so relevant?

HvM Blicke sind bei mir nie zufällig. Ohne diese kann ich mir keinen Pas de deux vorstellen. Die Blickrichtung definiert die Beziehung und die Emotion zwischen zwei Menschen. Wenn beispielsweise einer von seinem Partner weg von der Bühne in die Kulissen läuft und sich noch einmal umschaut, bevor er geht, dann weiß jeder durch diesen Blick zurück auf die Bühne, dass es ein Abschied auf ewig ist. In meinen Arbeiten gibt es nie Blicke in das Auditorium. Die Augen sind, wenn man nach vorne tanzt, immer nach unten gerichtet. Tanz, der das Publikum sehen lässt, wie charmant und kokett die Tänzerin, der Tänzer ist, finde ich furchtbar.

In Ihren Balletten ist die Frau emanzipiert, Frauen und Männer agieren gleichberechtigt mit- oder auch gegeneinander.

HvM In meinen Balletten geht es um Beziehungen zwischen Menschen, nicht zwischen Geschlechtern. Die Frauen sind bei mir aber meistens die Gewinner. Jochen Schmidt schrieb einmal, ich hätte die Frauen im Tanz emanzipiert. Ob das stimmt, kann ich nicht sagen, aber Frauen gehen bei mir nie auf die Knie. Nie.

Das Verhältnis von Bühne – Zuschauer*innen, also die vierte Wand, wird in »Live« durchbrochen, indem auch das Publikum und dessen Reaktionen gefilmt werden. Was waren die Beweggründe für diese Entscheidung?

HvM Die Idee, das Stück zu eröffnen, indem zuerst der Kameramann auf die Bühne kommt, die Kamera einstellt und einige Menschen aus dem Publikum filmt, kam mir relativ schnell. Ab diesem Moment wissen alle Zuschauer*innen: was sie an diesem Abend sehen werden, ist live. Ich habe den Titel gewählt, weil jeder Mensch weiß, was Live-Fernsehen ist und mit dem Begriff umgehen kann. Das Publikum ist sozusagen hautnah dabei und wird nicht ausgeschlossen, im Gegenteil. Die Zuschauer*innen sind stille Teilnehmende und Beobachtende der Geschichte. Erst wenn die Tänzerin die Kamera mit ihrer Hand nach unten schiebt, wissen wir, jetzt ist Schluss. Außerdem hoffe ich, dass sich das Publikum auch in seinem eigenen Voyeurismus entdeckt fühlt. Eine definitive Antwort habe ich darauf allerdings nicht.

Das Interview führte Nastasja Fischer und ist vollständig im Programmheft »Mahler, live« abgedruckt.