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Premierenbesetzung (Christian Gerhaher, Anja Kampe)
Premierenbesetzung

EINER, der fürs Theater BRENNT

Informationen & Karten »Wozzeck«
 

Ziemlich genau ein Jahr nach der erfolgreichen Premiere ist Simon Stones Inszenierung von Alban Bergs Wozzeck erneut an der Wiener Staatsoper zu erleben. Stone zeigt die brennende Aktualität des Stoffes durch die Verlegung der Handlung in das heutige Wien, in dem letztlich dieselben menschen-verachtenden gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Mechanismen wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert zur finalen Katastrophe führen. Zugleich versteht der Regisseur die von allen gequälte und verachtete Titelfigur nicht bloß als Opfer, sondern – durch dessen Femizid an der Partnerin Marie – auch als Schuldigen, als Täter. In der nun bevorstehenden Aufführungsserie wird mit Johannes Martin Kränzle ein vielgefeierter Singschauspieler par excellence als Wozzeck sein schon lange fälliges Staatsopern-Debüt geben. Ein Künstler, der vokal und darstellerisch Charaktere zu formen versteht, die das Publikum lange nicht mehr loslassen.
 

Sie sind mehrfacher »Sänger des Jahres« und können auf ein Repertoire von über 130 Rollen verweisen. Dazu kommt aber noch, dass Sie Geige spielen, ein ausgebildeter Regisseur sind, Professuren auf unterschiedlichen Kontinenten hatten und auch noch als Opernkomponist erfolgreich sind. Wie geht sich das alles aus?

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE (lacht) Ich lebe ja nicht in diesem großen Takt, der mich nahezu jeden Tag auf eine andere Bühne bringt, sondern versuche konzentriert eins nach dem andern zu machen. Das gelingt natürlich manchmal besser, manchmal weniger gut, aber es gibt immer wieder Wochen und Tage, in denen auch Zeit für anderes bleibt. Als beispielsweise durch den Corona-Lockdown viele Auftritte wegfielen, konnte ich mich wieder ausführlicher dem Komponieren widmen. Und die beiden von Ihnen erwähnten Professuren ruhen derzeit – wenn ich also unterrichte, dann in zeitlich begrenzten Meisterkursen und ein paar Privatschüler. Nur die Geige, da haben Sie recht, sollte nicht zu kurz kommen. Schließlich trainiert sie als Melodieinstrument die für einen Sänger wichtige Legatokultur und Intonationssicherheit. Und es gab tatsächlich zwei, drei Rollen, bei denen ich sie auf die Bühne mitgenommen habe, um auf ihr zu spielen.
 

Was die Nervosität vor den Auftritten gesteigert hat?

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE Das Lampenfieber geht in so einem Fall fast vollständig aufs Konto des Geigenspiels, keine Frage.


Der Schriftsteller John Irving verglich den Schreibprozess mit einem Ringkampf, Viktor Frankl mit einem anstrengenden Geburtsvorgang. Wie empfinden Sie die Erarbeitung einer neuen Partie?

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE Von einem Ringkampf würde ich in meinem Fall nicht sprechen, eher von einer lustvollen Annäherung. Allerdings hat sich diese vor mittlerweile zehn Jahren insofern verändert, als ich mich heute zunächst nur mit dem Text auseinandersetze und erst in einem zweiten Schritt mit der Musik. Weil ich einerseits bei fremdsprachigen Rollen auf diese Weise die Syntax besser verstehe und andererseits bei den deutschsprachigen Werken manchmal eine andere oder zusätzliche Intention des Dichters erkenne, die vom Komponisten nicht in die Vertonung eingeflossen ist. Würde ich gleich mit der Musik beginnen, käme mir eine alternative Auslegung vielleicht gar nicht in den Sinn. Besonders auffällig ist dies etwa bei den Schumann-Heine-Liedern: Liest man die Dichtungen separat, fällt auf, dass Heine etwas anderes gemeint hat, als Schumann daraus gemacht hat. 
 

Aber läuft man da nicht Gefahr, gegen die Komposition zu interpretieren?

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE Zu wissen, dass ich einem Satz eine zusätzliche Färbung verleihen könnte, ist zumindest bereichernd. Und manchmal geht es sich ja aus, beispielsweise eine süßlicher komponierte Wendung etwas härter zu bringen oder eine Portion Ironie dazu zu packen.


Das bedeutet, dass Sie der Gleichung »Je bekannter ein Werk, desto ausgetretener die Interpretationspfade«, nicht zustimmen würden.

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE So ausgetreten können die Pfade gar nicht sein, dass es nicht Raum für Neues gibt. Wichtig ist für uns Interpretinnen und Interpreten, offen und neugierig zu bleiben. Wenn ich jetzt in die Wiener Inszenierung des Wozzeck einsteige, werde ich mit einer anderen Sichtweise konfrontiert sein als zuvor in der Inszenierung desselben Stückes in Paris. Ich werde mir Fragen stellen, wie diese andere Erzählweise der Geschichte von meiner Seite aus am besten umzusetzen sei und dabei vielleicht überraschende Aspekte kennen lernen. Aber selbst innerhalb derselben Inszenierung reicht schon eine andere Partnerin auf der Bühne, eine neue zwischenmenschliche Chemie, um einige Vorzeichen und damit die Interpretation zu verändern. Das macht ja meinen Beruf für mich so liebenswert.


Wozzecks Ausspruch »Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut« zeigt eine gewisse Verwandtschaft zu Hofmannsthals »Die Welt ist dumm, gemein und schlecht« aus dem Jedermann. Stehen solche Sätze nicht im Gegensatz zur Utopie der gesellschaftsverändernden Kraft des Theaters? 

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE Ich fürchte, dass diese Sätze sehr wahr sind und die Hoffnung, dass eine Aufführung die Welt im Großen verbessern könnte, eben Utopie bleibt. Andererseits gibt es immer Menschen im Publikum, die nicht die Unterhaltung allein im Blickfeld haben, die sich von einzelnen Momenten während der Vorstellung anrühren lassen, die die Katharsis eines Opernabends dazu bringt, über Themen nachzudenken, die sie bis dahin noch nicht beschäftigt haben. So manche potenzielle schlechte Erfahrung, die einem erst die Augen für bestimmte Probleme öffnet, könnte durch das Miterleben einer Aufführung eventuell umgangen werden. Zumindest im Kleinen ist also Veränderung durch die Kunst ein Stück weit möglich.
 

Theater als Substitut für die raue Wirklichkeit also.

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE Absolut! Daher ist es auch die Pflicht der Theater, den Unkenrufen vom aktuellen Publikumsschwund zum Trotz, alles zu unternehmen, um immer neue Teile der Gesellschaft für sich zu gewinnen.
 

Sind Sie selbst gelegentlich noch Publikum? Sie kennen den Betrieb hinter den Kulissen, die Leistungen von Kollegen werden Sie automatisch einer fachlichen Beurteilung unterziehen – kann Ihnen eine Aufführung noch ans Herz gehen?

JOHANNES MARTIN KRÄNZLE Was Sie sagen, stimmt: Ich kenne die Welt hinter der Bühne und ich höre Sängerinnen und Sängern anders zu als die meisten im Zuschauerraum. Trotzdem hat sich in mir – glücklicherweise – meine ursprüngliche Liebe zum Theater erhalten. Und selbst von einem sogenannten schlechten Abend, also einer qualitativ mäßigen Aufführung, können wir zumindest lernen, was anders gemacht werden sollte. Da ich möglichst viel Zeit mit unserem einjährigen Sohn verbringen möchte, habe ich den Vorstellungskonsum derzeit etwas eingeschränkt. Aber in absehbarer Zeit werde ich mein früheres Pensum, mindestens zweimal die Woche ein Schauspiel oder eine Oper zu besuchen, wohl wieder erreichen.


WOZZECK
29. März / 1. & 5. April 2023
Musikalische Leitung Philippe Jordan
Inszenierung Simon Stone
Bühne Bob Cousins
Kostüme Alice Babidge & Fauve Ryckebusch
Licht James Farncombe
Mit u.a. Johannes Martin Kränzle / Sean Panikkar / Jörg Schneider / Dmitry Belosselskiy / Sara Jakubiak / Daniel Jenz