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IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA
2. (Premiere) / 4. / 8. / 11. / 14. April 2023
Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado
Inszenierung Jossi Wieler & Sergio Morabito
Bühne & Kostüme Anna Viebrock
Ko-Bühnenbildner Torsten Köpf
Licht Reinhard Traub
Video Tobias Dusche
Mit u.a. Georg Nigl / Kate Lindsey / Josh Lovell / Isabell Signoret / Daria Sushkova / Hiroshi Amako / Andrea Mastroni / Anna Bondarenko / Katleho Mokhoabane / Daniel Jenz / Alma Neuhaus / Miriam Kutrowatz / Jörg Schneider / Helene Schneiderman / Robert Bartneck


Informationen & Karten 

Einführungsmatinee: 26. März 2023

Regieportrait: 25. März 2023



WER IST ODYSSEUS?

Vom »ritorno d’Ulisse in patria« – von der Rückkehr, der Wiederkehr, der Heimkehr des Odysseus erzählt das Stück, beginnend mit seiner ihm unbewussten Ankunft auf Ithaka, die im Schlaf geschieht, ermöglicht durch das freundliche Gastvolk der Phäaken – bei Homer ein rätselhaftes, in einem entrückten Jenseits angesiedeltes Volk, an dem in der Oper freilich ein groteskes göttliches Strafgericht vollzogen wird –, bis zu dem Moment, an dem Odysseus sich nach Täuschungen, Wiederbegegnungen und blutigen Kämpfen seiner Frau Penelope zu erkennen gibt und diese unfassbar lange zögert, den ihr in zwanzig Jahren Abwesenheit fremd gewordenen wieder(an)zuerkennen.

Der titelgebende »ritorno in patria« umschreibt in drei Worten den altgriechischen Begriff des »nostos«, der »Heimkehr«: Unter ihm wurden in der Literaturdiskussion der Antike die Gesänge 13 bis 23 von Homers Odyssee zusammengefasst, die von der eigentlichen Heimkehr des Trojakämpfers und Irrfahrers berichten. Als Wortbestandteil in »Nostalgie« ist der Begriff noch als Element unserer Alltagssprache wirksam. Unter der Mehrzahl von »nostos«, den »nostoi«, verstand man die von Seefahrern erzählten Märchen: Seemannsgarn. Wir entfernen uns mit dieser Zweitbedeutung gar nicht vom homerischen Epos, welches auch und besonders in der Schilderung der Irrfahrten eine Vielzahl fantastischer Märchenmotive und -gestalten aufbietet. Und so stellt sich die Frage: Wieviel ist wahr von dem, was der »Listenreiche« und vielleicht nur angeblich Schiffbrüchige, Flüchtige, Verschleppte, der – im doppelten Wortsinn also: – Verschlagene zu erzählen weiß? »Selbsterhaltung ist Selbstverleugnung«, so lautet die Quintessenz von Adorno/Horkheimers Lektüre der Odyssee, dieses »Grundtextes der europäischen Zivilisation«, in ihrer Dialektik der Aufklärung. Indem er seinen Namen mit »Niemand« angibt, überlistet Odysseus den Menschenfresser Polyphem: Der wendet sich, als Odysseus ihm sein eines Auge ausgebrannt hat, mit dem Hilfeschrei »Niemand hat mir ein Leid getan!« vergeblich an sein Zyklopenvolk. Dafür wird Polyphems Vater, der Meeresgott Neptun, den Odysseus mit unerbittlichem Hass verfolgen. Und mit jeder bestandenen Etappe im Überlebenskampf wird die Identität des Seeschäumers inhaltsleerer und brüchiger. Tatsächlich und anders als vermeint wird Odysseus zu einem »Niemand«: Bei Bertolt Brecht spielt er als Herr Keuner (= Keiner) eine schwer zu fassende Rolle, und in James Joyces Ulysses lässt er sich als Anzeigenakquisiteur Leopold Bloom durch Dublin treiben.

Aber lassen wir uns nicht täuschen: Die Entmythologisierung von Homers Epos ist kein Phänomen der Moderne. Gerade zur Entstehungszeit der 1640 erstaufgeführten Oper war die literarische Form des homerischen Epos nicht weniger als der Heldenstatus seines Protagonisten teilweise heftig und grundlegend in die Kritik geraten. Eine Kritik, die an antike Autoren anknüpfen konnte, die den Herrscher von Ithaka als listigen Betrüger (Pindar) und neidischen Schurken (Gorgias), feigen Ränkeschmied (Sophokles) oder grausamen Machtpolitiker (Vergil) in Verruf gebracht hatten. Im Mittelalter sah man Odysseus als klug, aber unedel an, und seine Irrfahrten galten in diesem Verständnis als Strafe eines ruhelos umhergetriebenen Mörders. Den Höhepunkt der Abwertung bildete schließlich die Höllenstrafe, die Odysseus in Dantes Inferno ereilt. Unter den Gelehrten der Renaissance mehrten sich die Stimmen derer, die auch den Dichter der Odyssee nicht mehr kritiklos anerkannten. Dabei spielte die Identifikation mit der eigenen Nationalkultur, die sich auf die trojanisch-römische Tradition berief, gewiss ebenso eine Rolle wie poetologische Kriterien, denen vor allem die mangelnde Einheit der Handlung der beiden Homer zugeschriebenen Epen Stein des Anstoßes war.
 

DIE KLAGE DER KÖNIGIN

Wenden wir uns dem großen Monolog der in Ithaka auf die Rückkehr ihres Mannes wartenden Penelope zu, der – im Anschluss an einen allegorischen Prolog – das von dem Dichter Giacomo Badoaro verfasste Stück eröffnet. Die Akteurin stellt die Tirade gleichsam unter eine objektivierende Überschrift: »Di misera regina / non terminati mai dolenti affani.« (»Einer unglücklichen Königin / niemals endende schmerzliche Qualen.«) Zwei weitere Verse genügen, um die Situation zu umreißen: »Der Erwartete trifft nicht ein / und zugleich fliehen die Jahre.« Und Penelope fährt fort: »Die Reihe der Leiden ist lang, ach, allzu lang; / die Zeit hinkt für denjenigen, der in Ängsten lebt.« Die Zeit– il Tempo – ist eine der drei Allegorien, die im Prolog die »fragilità humana«, die »menschliche Zerbrechlichkeit« bedrängt hatten. Dort hatte sich die Zeit mit den Worten charakterisiert »chè se ben zoppo / ho l’ali« (»wenn ich auch hinke / habe ich doch Flügel«): ein Oxymoron, in das die paradox-qualvolle Situation der schleppend-endlos und doch widerstandslos verrinnenden Zeit gefasst ist. Mit den nächsten vier Versen ihres Monologs sagt die Königin sich von der »trügerischen Hoffnung« los, um dann die zwanzigjährige »Vorgeschichte« des Stückes zu rekapitulieren, in deren Zeit-Raum sie sich gebannt fühlt: »Vier mal fünf Jahre ist es her, / dass an jenem denkwürdigen Tag / der übermütige Trojaner / seine Heimat ins Verderben rief.« Mit dem »übermütigen Trojaner« ist der trojanische Prinz Paris gemeint, der mit Entführung der Frau des griechischen Königs Menelaos, der schönen Helena, jenen Bündnisfall auslöste, der die Griechenfürsten verpflichtete, mit einer Flotte gen Troja auszurücken und die Stadt mit Krieg zu überziehen. Penelope vermeidet es hier wie im gesamten Stück, die Namen des ehebrecherischen Paares auszusprechen. Es ist kein Zufall, dass ihr die Namen »Paride« und »Elena« nicht über die Lippen kommen: Er ist für sie nur »il superbo troiano«, sie ist »la profuga greca« – »die flüchtige Griechin«. Man sollte in ihrer Gegenwart diese beiden Namen nicht aussprechen – was freilich das Erste sein wird, was ihr Sohn Telemaco, aus Sparta zurückgekehrt, wo er Helenas ansichtig wurde, zu Beginn des zweiten Teiles der Oper tut. Und nicht nur das: Er peinigt seine Mutter durch eine hingerissene Liebeserklärung an jene Frau, die durch ihren Ehebruch auch ihre Ehe, letztlich einen wichtigen Teil ihres Lebens zerstört hat. Telemaco solidarisiert sich mit Paris, um in einer erstaunlichen Hyperbel alle »Kolleratalschäden« von Paris’ Liebe – sprich: den trojanischen Krieg und damit auch das Leid seiner Mutter – durch die Schönheit Helenas mehr als gerechtfertigt zu sehen. Penelope beginnt, mit ihrem abwesenden Ehemann zu hadern: Ja, es war gerecht und richtig, die frevlerische Liebe von Paris und Helena als »delitto di fiamme« – »verbrecherische Flamme« – durch die Einäscherung Troias zu ahnden; »doch du, der dich rühmst, den Ehebruch zu strafen, / lässt dabei die eigene keusche Gemahlin im Stich. / Jede Abreise erwartet die ersehnte Rückkehr, / du allein hast den Tag deiner Rückkehr versäumt.« Hier deklamiert Penelope den später wiederholten Vers »Tu sol del tuo tornar perdesti il giorno« als schmerz- und vorwurfsvoll drängende, chromatisch aufsteigende Linie. »tornare« – wiederkehren, zurückkehren – damit ist das semantische, der Oper ihren Titel gebende Wortfeld erreicht. Penelope wird es bis zum Ende des Monologs nicht mehr verlassen. Es folgt die Zäsur einer Ergebenheitsadresse, mit der sich Odysseus’ alte Amme beim Namen ruft: »Unglückliche Ericlea, / trostlose Amme, / bemitleide den Schmerz der geliebten Königin.« Dies ist die erste ihrer beiden kurzen Repliken, mit denen sie sich in Penelopes Monolog einschaltet und von denen offenbleibt, ob sie von der Königin überhaupt bemerkt werden. Nach »il Tempo« – der Zeit – ruft Penelope mit Fortuna nun eine weitere der drei Allegorien an, denen die »menschliche Zerbrechlichkeit« im Prolog ausgeliefert war, die Göttin des Zufalls: Hat sie ihr »unbeständiges Rad« gegen einen festen Sitz vertauscht oder ist ihr vom sich stets drehenden Wind geblähter Schleier nur für Penelope erschlafft? Nur die Liebe – neben Zeit und Fortuna die dritte Schicksalsmacht des Prologs –, nur Amore wird Penelope in ihrem Monolog nicht anrufen. Sie spricht von der Liebe nicht als Allegorie, sondern schlicht als Verbrechen. Später wird sie den geflügelten Amorknaben als »idol vano«, »eitles Götzenbild« schmähen, dessen »Unbeständigkeit es ja nicht an Federn« mangele. Penelopes Zurückweisung der Freier geschieht in der Oper weniger aus Treue zu Odysseus oder weil sie unempfindlich wäre für deren Werbung, sondern aufgrund ihrer Verwundung durch die Liebe zu ihm, aus Angst, in ihrer Liebe wieder verletzt, wieder enttäuscht, wieder betrogen zu werden; auch dies eine bedeutsame Verschiebung, die die Autoren in der motivierenden Deutung ihres Verhaltens vornahmen. 


ZEIT DES SUBJEKTS

»Ich verteidige dich«, sagt Penelope in ihrem imaginären Gespräch mit Odysseus, »ich klage das Fatum an, um dich zu entlasten«, aber dabei wird deutlich: Diese Verteidigungsrede ist die bitterste aller Anklagen. Gerahmt wird ihr Plädoyer von dem Vers »torna, deh torna Ulisse«, »kehre, ach kehre zurück, Odysseus.« Ericlea greift nun das Wort »tornare« auf, und meint, »ein Scheiden ohne Rückkehr kann gewiss kein Stern bestimmen«. Woraufhin Penelopes gesteigerte rezitativische Deklamation sich erstmals in Gesang löst, und damit scheint sie nun doch auf das Stichwort ihrer alten Dienerin zu reagieren, die ihr vielleicht das nun folgende Lied in Erinnerung rufen wollte: »Die Stille kehrt zum Meer zurück / und der Zephir zur Flur, / sanft lädt die Morgenröte die Sonne ein / zur Rückkehr des Tages, der zuvor schied ...« Das Liedchen reiht weitere Naturgleichnisse an, das wiederkehrende Gras und die in den Ozean zurückfließenden Flüsse, ehe seine Melodie versiegt und Penelope, indem sie weiterspricht, auch die in den Himmel auffahrende Seele eines Verstorbenen als Heimkehrerin nach kurzer Erdenfrist bezeichnet, was zur insistenten Wiederholung des Vorwurfs führt »tu sol del tuo tornar, tu sol del tuo tornar perdesti il giorno«.Hans-Thies Lehmann, der international wirkungsmächtigste Theaterdenker der vergangenen Dekaden, hat aufgezeigt (in seinem Buch Theater und Mythos, Stuttgart 1991), dass die antiken Tragödien die mythische Überlieferung nicht einfach szenisch nacherzählen, geschweige denn diese »weltanschaulich« beglaubigen oder gar rechtfertigen. Durch die Herauslösung menschlicher Einzelstimmen und die Freistellung menschlicher Körper aus dem Fluss der auktorialen epischen Erzählung stellt die Tragödie den Mythos vielmehr grundlegend in Frage: In und gegen die überwölbende und sinnstiftende Zeit des Mythos wird so »die punktuelle Perspektive des Menschen eingeführt«. Galt »für die Welt Homers«, »dass die Zeit des Menschen in die Zeit der Götter eingeschrieben« war, so führte das Theater der Tragödie eine ganz am Körper orientierte Zeit des Subjekts ein«. Diese »neue Zeiterfahrung des Individuums steht im Kontrast zur Vorstellung der zyklischen Zeit des Mythos, der wiederkehrenden Zeit des Kosmos, der Jahreszeiten, der Feste.« Diese neue, irreversible Zeit weist auf den Tod: »Kehre zurück, denn während du / meinen bitteren Schmerz grausam verlängerst / sehe ich die Stunde meines Todes nahen«, mit diesen Worten beschließt Penelope ihren Monolog. Homers mythischer Kosmos ist bereits zu Beginn von Badoaros und Monteverdis Oper ein durch Ulisses Fernbleiben irreversibel zerbrochener. 


Text Sergio Morabito