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Gänzlich neue Hörerfahrungen

Helga Utz im Gespräch mit Matthias Pintscher, Justin Vivian Bond, Constance Hauman und Markus Noistering anlässlich der Uraufführung von Olga Neuwirths Orlando.

Utz: Eine Frage an Matthias Pintscher: Sie sind ja auch Komponist und unterrichten an der Juilliard School in New York. Was ist für Sie das Besondere an Olga Neuwirth?
Pintscher: Wie viel Zeit haben wir? (alle lachen) Olga und ich kennen uns schon lange – wir haben uns übrigens hier in Wien kennengelernt. Olga und ich waren in der Meisterklasse von Péter Eötvös eingeladen ... das war vor etwa 22 Jahren ... Heute ist es eine ungeheure Neugier, enormer Respekt und große Bewunderung für das Werk des jeweils anderen. Heute sind wir praktisch wie Geschwister füreinander. Wir stehen einander sehr nahe und ich habe – vor allem in den letzten zehn Jahren – viele von Olgas Werken dirigiert. Als ich als musikalischer Leiter des Ensemble Intercontemporain in Paris nominiert und ausgewählt wurde, war das unter anderem mit einem Stück von Olga Neuwirth. Sie ist also ein wichtiges Element in meinem Leben, als Kollegin, als Künstlerin, als Herausforderung in vielerlei Hinsicht, und daraus entsteht etwas wirklich Einzigartiges, besonders zwischen Komponisten. Heute existiert eine enorme Vielfalt von wundervoller Musik gleichzeitig. Wir anerkennen und schätzen die vielfältigen Stile und Ausdrucksformen. Dass ich als dirigierender Komponist/komponierender Dirigent hier dabei bin, ist also vielleicht hilfreich im Umgang mit dieser Masse an Informationen. Ich gehe also furchtlos daran – ich bin zuerst ein- mal nicht überwältigt.
Hauman: Ich denke, es ist eine andere Art von Respekt, wenn man zusammenarbeitet ...
Pintscher: Auf jeden Fall. Enormer Respekt. Für mich ist es so, dass der geschriebene Noten-Text der richtige Text ist. Und es ist für mich dasselbe, wenn ich eine Mahler-Symphonie oder eine Beethoven-Symphonie spiele, auch Boulez – denn heute, nach seinem Tod, spielen wir ständig seine Werke, doch nun ist es an der Zeit, sich die Partituren ganz genau anzuschauen. Und das Interessante ist, dass man jetzt Dinge findet, die er bei seinen eigenen Aufführungen kaum zuließ. Ein frischer Blick auf den geschriebenen Text ...

Wenn ich einen Aspekt herausgreifen darf: Olga Neuwirth komponiert ja stets eingedenk dessen, dass sie in einer langen Reihe von Komponisten steht. Das heißt, sie bezieht sich gerne auf Musik vergangener Tage.
Pintscher: Olga verweist in vielen ihrer Stücke, vor allem hier in Orlando, häufig auf die Vergangenheit; stilistisch steht sie in einer Reihe mit Luigi Nono und Helmut Lachenmann, vor allem Nono spielte eine wichtige Rolle. Nono wieder hat Verbindungen zu Monteverdi, zur italienischen Antiphon-Musik. Sie kommt also aus einer großen Tradition des selbst gewählten Kontexts. Es ist fast wie Venedig, wie die Nostalgie und der Verfall, doch sie ist – ich sage das so – eine Österreicherin, und sie trägt einen großen österreichischen Rucksack auf ihrem Rücken, mit Bruckner und Schubert und vor allem Gustav Mahler. Es hat viel von diesem aufgeladenen, verrückten, intensiven Nicht-Loslassen und Beharren auf dem, was getan werden muss, um die musikalische Absicht deutlich zu machen. Es gibt ein ganz klares Muss und nicht den Wunsch, sondern die Notwendigkeit, auszudrücken und zu Papier zu bringen, was gesagt werden muss. Es gibt keinen Umweg, sie geht direkt hinein, geradeaus. Sie ist sehr mutig. Und darunter liegt so viel Hingabe und Poesie und Liebe.

Welche Stimmfächer hat Olga Neuwirth für Orlando gewählt?
Pintscher: Sie deckt die ganze Palette ab – vom Knabensopran bis zum Bassbariton. Der Schutzengel ist ein Counter, und Orlando ist nicht einfach ein Mezzosopran, sie sagt sehr genau, welche Art von Mezzosopran sie sich vorstellt. Und immer wieder die Aufspreizung: die drei Damen Purity, Chastity, Modesty, oder die drei Doktoren oder die Dichter, und besonders in den Chören: Ein Kinderchor, und die Teilung in den Stimmen, das erzeugt ein faszinierendes Klangspektrum. Das ganze Spektrum des stimmlichen Ausdrucks, ich glaube, Fülle wäre das richtige Wort. Dazu kommt: Die Wiener Philharmoniker sind ein Orchester mit einem hohen Bewusstsein für das Phänomen der Verschmelzung, das ist sehr aufregend. Sie ist auch sehr, sehr genau, was den Vokalwechsel angeht, sie ist sehr anspruchsvoll und präzise, was die Arti- kulation betrifft, fast jede Note hat eine Linie oder einen Punkt oder einen Akzent.
Hauman: Und wann das Vibrato einsetzt und aufhört, wo es ein gerader Ton ist und wo sie eine Steigerung ganz am Ende haben will. Sehr interessant.
Bond: Eines meiner liebsten Erlebnisse hatte ich in einer der ersten Proben: Ich sang und der Korrepetitor sagte, ich sollte genauer sein, und ich sagte: „Aber da steht: frei.“ Und er sagte: „Es ist aber zu frei.“ Das ist nicht das erste Mal, dass mir jemand das gesagt hat. (alle lachen) Aber ich versuche wirklich mein Bestes, um es hinzukriegen.
Hauman: Bei dem hohen A, das sie mir in Szene 16 gegeben hat, musste ich wirklich lachen, weil sie in der Partitur „übertrieben opernhaft“ vorschreibt. Es ist, als ob sie einmal das genaue Gegenteil machen wollte. Das ist in diesem Fokus so geistreich!

Mx. Bond, in „Orlando“ stellt Virginia Woolf die These auf, dass zwischen Mann und Frau kein Un- terschied besteht, der eine Ungleichheit in der Be- handlung von Mann und Frau rechtfertigen wür- de. Olga Neuwirth war es ein Herzenswunsch, dass Sie die Rolle von Orlandos Kind übernehmen.
Bond: Es ist nicht so, dass ich diese Rolle übernehme – in gewisser Weise BIN ich Orlandos Kind. Bestimmt hat sie mich nicht wegen meiner Opernstimme gewählt! Ich war noch nie zuvor in einer Oper und habe noch nie in diesem Stil gesungen. Ich sehe mich fast als Konzept, denn die Geschichte von Orlando und die Gedanken, die Virginia Woolf den Menschen mit diesem Buch bewusst machen wollte, haben sich in den vergangenen fast hundert Jahren zu einem neuen, offiziellen Bewusstsein für nicht binäre Menschen entwickelt, und zwar sprunghaft in den letzten zwanzig Jahren. Ich bin ein Beispiel für die Menschen, die sich dafür entscheiden, nicht in den vorgegebenen Gender-Rollen von männlich oder weiblich zu leben, und durch unser Experimentieren mit dem Leben geben wir hoffentlich anderen Menschen neue Möglichkeiten, sich selbst zu sehen und sich freier auszudrücken.

Sind Sie aufgeregt, in der Wiener Staatsoper zu singen?
Bond: Ich versuche einfach, mein Bestes zu geben.

Und wie gefällt es Ihnen in Wien?
Bond: Sehr gut! ich bin noch keinem unhöflichen Menschen begegnet! Es gefällt mir, fix an einem Ort zu sein. Ich gehe in die Arbeit, komme nach Hause, zwei Monate lang besteige ich kein Flugzeug und keinen Zug, und das ist sehr angenehm. Ich liebe es, denn ich liebe es, zu singen, ja, das ist es, was ich liebe.

Eine Frage an Markus Noisternig. Sie firmieren unter „Electronics“ auf dem Besetzungszettel. Das ist ja eine Rolle, die man bei Verdi oder Mozart nicht findet.
Noisternig: Es handelt sich um elektronisch in Echtzeit verfremdete Instrumentalklänge und Gesangs- bzw. Sprechstimmen. Dabei wird die Elektronik ein Teil des Instruments oder auch selbst zum Instrument. Schon in Olgas Bählamms Fest (1997-1998), wurde unter Verwendung von Live-Elektronik eine Männerstimme in Echtzeit zur Frauenstimme oder eine Frauenstimme zu einer Männer- oder Kinderstimme gemacht, um einen Geschlechtswechsel zu vollziehen. In Olgas musikalischer Auseinandersetzung mit Raum und Räumlichkeit spielen akustische Raumprojektionen eine wesentliche Rolle. Die Strukturierung der Klänge findet nicht mehr nur in der Zeit, sondern auch im Raum statt. Es entsteht eine musikalisch mehrschichtige Räumlichkeit und Olga nutzt die Elektronik dazu, die „unsichtbare Wand“ zwischen Bühne und Zuschauerraum zu durchbrechen. Um das Publikum entsteht ein Klangraum, der das Auditorium in die Szene hineinzieht.

Sie arbeiten ja ebenfalls schon lange mit Olga Neuwirth zusammen.
Noisternig: Der Elektronik wird in Olgas Werken eine ganz besondere Bedeutung zuteil. Darauf beruht auch unsere Zusammenarbeit, die nun seit mehr als zwanzig Jahren besteht. Wir haben uns bei der Produktion von Bählamms Fest kennengelernt, wo wir gemeinsam an der Elektronik gearbeitet haben. Über die Jahre hinweg haben wir eine Art elektronisches Vokabular entwickelt.

Olga Neuwirth gilt als Grenzgängerin und Vordenkerin. Sie verwischt die Grenzen zwischen Genres und künstlerischen Rollenprofilen, und sie begann zum Beispiel bereits Anfang der 1990er-Jah- re, Musik mit visuellen Medien zu kombinieren.
Noisternig: Das ist das Spannende bei ihr, sie nimmt nie etwas von der Stange. Sie kommt und sagt: „Ich hab da etwas im Kopf. Ist das möglich?“ Und üblicherweise sage ich: „Nein, das ist nicht möglich.“ Und dann sagt sie: „Wir machen das trotzdem.“ Und ich denke, das ist der Schlüssel: ihre Vorstellungskraft in Klang und Bild. Ich würde sogar so weit gehen, es als „Olgas Anspruch einer Vereinigung zum Gesamtkunstwerk“ zu bezeichnen. Alles ist durchdacht. Die Bildschirme – sie wollte schon damals bei der Realisation von Lost Highway 2003 auf der Bühne, dass das gesamte Bühnenbild nur aus einem Bildschirm, der gesplittet werden kann, bestehen sollte. Kaum jemand dachte damals in diese Richtung von solch einer starken Verwebung von Ton und Bild, glaube ich. Und alles, die Entwicklung des Vokabulars, das Komponieren mit dem Raum verschob damals die Grenzen des musikalisch Machbaren. Vieles war auch technisch nicht machbar. Erst bei der Produktion von Lost Highway letztes Jahr in Frankfurt mit Yuval Sharon konnte das Videokonzept umgesetzt werden. Jason Thompson und Kaitlyn Pietras hatten hier großartige Arbeit geleistet. Die Bühne war vorne und hinten durch zwei Leinwände begrenzt. Die Sängerinnen und Sänger waren über weite Teile nicht sichtbar, spielten hinter der Bühne vor einem Green Screen, gefilmt von mehreren Videokameras und wurden in Echtzeit in das auf die Leinwände projizierte Video eingeblendet. Die Schauspielerinnen und Schauspieler auf der Bühne, zwischen den Leinwänden, wurden über Lichteffekte auf ganz natürliche Art und Weise in das Video integriert. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, imaginäre Welten entstehen, das Publikum wird in eine fiktionale „erweiterte Realität“ versetzt. Auch vieles von dem, was wir uns musikalisch für Lost Highway ausgedacht hatten, konnten wir damals nicht umsetzen. Die Technologie stand nicht zur Verfügung. Einige der Effekte finden sich in Olgas Ensemblestück Le Encantadas, an dem wir 2015 gearbeitet haben, und an einigen Effekten arbeiten wir noch heute. Und genau darin liegt für mich als Computermusiker und Forscher die große Herausforderung und Motivation. An Le Encantadas lässt sich gut zeigen, in wieweit Olga stets versucht die Grenzen des musikalisch Machbaren zu verschieben. In Anlehnung an Luigi Nonos Prometheus wollte sie einen modularen, immersiven und sich stetig verändernden Klangraum verwirklichen, aufbauend auf der Akustik der venezianischen Kirche San Lorenzo. Wir hatten damals am IRCAM gerade ein Forschungsprojekt zur akustischen Vermessung von Räumen zur Verwendung in immersiven Audiosystemen abgeschlossen. Diese Verfahren konnten wir anwenden, um die Akustik von San Lorenzo einzufangen. Olga wollte diese im Konzertsaal allerdings nicht nur abbilden, sondern das Spiel mit den konkurrierenden Räumlichkeiten als musikalisches Ausdrucksmittel verwenden, sie wollte Klanglichkeit und Räumlichkeit strukturell brechen. Wir mussten einiges an Forschung betreiben, um dies zu ermöglichen.

Worauf freuen Sie sich in Orlando?
Noisternig: Auf alles. Es ist ein sehr komplexes, vielschichtiges Stück, was die Musik, die Videos, das Bühnengeschehen betrifft. Ich habe das Videodesign noch nicht gesehen, aber ich bin schon sehr gespannt darauf. Und Olga Neuwirth ermutigt, ermöglicht, schafft, erdenkt gänzlich neue Hörerfahrungen.
Bond: Von der Philosophie her war ich überrascht, wie weit sie geht, als ich die Partitur gelesen habe. Es ist ein sehr konfrontatives Stück und fordert das Publikum definitiv. Ich bin nicht aus Wien, wie Sie wissen, und es heißt ja, dass ein Künstler sein Publikum kennen sollte. Aber ich trete seit fast dreißig Jahren als Varieté-KünstlerIn in New York auf und ich kenne mein Publikum. Und das hier ist etwas, das die Leute begeistern würde. Ob ein bürgerliches Opernpublikum genauso darauf abfahren wird, weiß ich allerdings nicht. Ich bin gespannt auf die Reaktionen, denn es ist eine direkte Konfrontation! Ich halte das für fabelhaft, und es ist notwendig. In politischer Hinsicht ist es ein sehr wichtiges Stück.
Pintscher: In Wien haben wir die einzigartige Situation, dass es nicht das Publikum gibt, das in die Staatsoper geht. Das ist besonders interessant hier, dass es vielleicht einer der letzten Orte der Welt ist, wo es so ein vielfältiges Publikum gibt. Und die Leute sind äußerst gut informiert. Und nach der Aufführung diskutiert man und viele Leute warten am Ausgang, und jeder, der kommt, teilt seine Meinung mit. Die meisten Zuschauer diskutieren auch untereinander. Das Publikum ist sehr gemischt. Wir haben konservative Opernbesucher, aber dann haben wir auch junge Menschen, die offene Formen suchen.

Frau Hauman, Sie singen die Queen, Purity und den Freund/Freundin von Orlandos Kind. Was an Neuwirths Musik berührt Sie am meisten?
Hauman: Die Arbeit an Lost Highway war eine der besten Erfahrungen meines Lebens. Es war so wild, und so viele Dinge gingen schief. Und letztlich war es großartig. Und es wirkte sich nachhaltig auf meine Entscheidung aus, wie ich meine Stimme künftig einsetzen wollte, denn bis dahin hatte ich – ich meine, ich hatte viele Lulus gesungen, ich hatte viele Ariadnes gemacht, viel Mozart, alles. Olga ermöglichte mir, meine Stimme auf jede erdenkliche Art einzusetzen, zuerst als sprechende Akteurin, dann, indem ich mich voll reinhauen musste wie bei einem Britney-Spears-Popsong und dann mit dem Wechsel vom Pop zum Barock, um am Ende dann wie Salome zu singen. Dadurch erkannte ich, dass ich die Technik habe, meine Stimme in vielfältiger Weise zu verändern. Und ohne dass ich es damals bemerkt hätte, inspirierte es mich später dazu, mein eigenes Plattenlabel zu gründen, meine eigene Musik zu schreiben und den Mut zu haben zu sagen: Ich mache das jetzt. Deshalb ist es wirklich spannend für mich, jetzt dieses Stück zu machen, mit vielen Menschen, die ich bewundere und mit denen ich schon zusammengearbeitet habe – zum Beispiel Matthias und Vivian – und viele andere Leute kennenzulernen, mit denen ich zusammenarbeiten wollte. Kate und Eric sind fantastisch. Aber was mich so bewegt, ist, dass die Klangwelt von Lost Highway sich zu einem noch tiefgründigeren Stil entwickelt hat. Und in Hinblick zu ihrer Verbindung zu Nono und dem Einbeziehen von Barockelementen, scheint es mir ihr intensivstes Werk zu sein. Ich bin vom ganzen Werk berührt und sehr ergriffen, dass ich ein Teil davon sein darf. Wirklich.

Freut ihr euch schon auf eure Kostüme von COMME des GARÇONS?
Bond: Sehr sogar. Natürlich. Mit einer gewissen Nervosität, weil ich keine Ahnung habe, wie mein Kostüm sein wird, und ich bin etwas heikel in Bezug darauf, wie ich gesehen werden will. Es wird also hoffentlich alles gut ausgehen.
Hauman: Ja, ich bin sehr aufgeregt, schließlich trage ich schon seit Jahren COMME des GARÇONS – und so bin ich voller Ehrfurcht, ja geehrt, Rei und ihr Team zu treffen.

Zum Schluss noch eine letzte Frage an Herrn Pintscher. Für Olga Neuwirth hat der Raum, das Komponieren des Raumes, eine ganz besondere Bedeutung, sie denkt den Raum mit jedem Musikstück, das sie komponiert, neu.
Pintscher: Sie erweitert die bekannte Oberfläche der Klangproduktion – also eine Erweiterung der quasi erfahrenen Höroberfläche, Instrumentaloberfläche, durch alles, was passiert und alles, was elektronisch ist – das umfasst die Gitarre und die Keyboards und die Samples, die wir haben. Wir haben viele Spielzeuge und Musiker, die auf allem Möglichen spielen, reiben und klimpern und ... Und ja, wir haben einen Kinderchor im Luster. Es geht darum, dass sie das Gesicht, das Interface dessen, was Musik sein kann, neu definiert.
Hauman: Das ist so schön gesagt. Die perfekte Beschreibung.
Pintscher: Und es findet auch in der Seele des Orchesters statt. Was sie fordert und wie sie das Gefüge verändert, auch mit sehr traditionellen Instrumenten.
Hauman: Der Klang.
Pintscher: Ja, es ist eine Artikulation, wie eine Neuerkundung, eine neue Definition des Klangs. Und es sind nicht nur die Vierteltöne. Das wäre für jeden so einfach zu verstehen. Aber ich möchte die Vierteltöne nicht so sehr hervorheben, weil dann immer die Reaktion kommt: „Oh, das ist die neue große Sache. Es ist nichts Neues an etwas, das wir in anderen Kulturen schon vor fünfhundert Jahren hatten. Es gibt also keine Avantgarde mehr, kein Avant-quoi. Also vor was? Hier geht es also darum, das menschliche Klanggewebe neu zu definieren. Das ist es, was sie tut.
Hauman: Ich höre an einigen Stellen Ravel. Und manche Harmonien und Voicings sind von Ornette Coleman oder John Coltrane inspiriert, was mir jetzt mehr auffällt als in Lost Highway. Wenn man bestimmte Tempi verlangsamt und diese wirklich anspruchsvollen Jazzmelodien hört, dann ist das wirklich aufregend. Dazu kommen Elemente traditioneller Artikulationen, die sie durch Mischen des Orchesters mit elektronischen Instrumenten erreicht – es ist faszinierend und vereinigt alle Jahrhunderte. Ich glaube, die größte Herausforderung für das Publikum – und die Leute sollten es sehen und hören, mehr als nur einmal – ist, dass es einfach so viel Information gibt, es gibt so viel aufzunehmen. Auf allen Ebenen, da es sich schließlich um ein Gesamtkunstwerk handelt.
Pintscher: Die Musik ist unglaublich vielfältig und dicht.
Bond: Und dann noch die Texte: Das Libretto zitiert Popsongs. Vor allem in unserer Szene. Und das ist auch schön, denn diese Popsongs, die da zitiert werden, klingen archetypisch wie die Botschaft der ganzen Produktion: Humanität. Noisternig: Der Klangraum setzt sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Klangebenen zusammen, die teils miteinander konkurrieren, teils harmonisch ineinander übergehen. Alles ist in sehr durchdachter Weise aufeinander abgestimmt. Das Interessante ist, dass es oft schwer zu erkennen sein wird, ob es sich um Instrumentalklänge, Samples, Live-Elektronik oder ganz einfach um Geräusche handelt.
Pintscher: Das stimmt.
Noisternig: Ja. Und ich denke, das Publikum sollte gar nicht erst versuchen, die Komplexität dieser Musik zu erfassen, während sie gespielt wird. Man sollte ihr einfach aufmerksam zuhören. Sie würdigen. Wenn Sie sich z.B. irgendeinen Popsong zum ersten Mal anhören, dann sagen wir wahrscheinlich auch nur selten: „Hey, das ist jetzt gerade aber eine unglaubliche Basslinie.“ Es ist einfach ein guter Song.

Helga Utz ist die Dramaturgin der Uraufführungsproduktion von Orlando


ORLANDO
Oper in 19 Bildern | Auftragswerk der Wiener Staatsoper
Musik: Olga Neuwirth | Libretto: Catherine Filloux und Olga Neuwirth

Uraufführung: 8. Dezember 2019
Reprisen: 11., 14., 18., 20. Dezember 2019

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