© Victor Santiago

UTOPIE UND REALITÄT

Die Madama Butterfly-Inszenierung von Anthony Minghella und Carolyn Choa zählt mit ihrer eindringlichen Bilderwelt, der stringenten Dramaturgie und ihrer poetisch-visuellen Feinkörnigkeit zu den großen Erfolgen der letzten drei Jahre. Mit neuer Besetzung ist die Puccini-Oper, die vom Aufeinanderprallen zweier Kulturen, menschlichem Egoismus und großer Liebestragik erzählt, nun wieder zu erleben. Sonya Yoncheva, die ihr Rollendebüt als Cio-Cio-San gibt, spricht im Interview über Träume, das emotionale Ausgeliefertsein und den großen Unterschied zum Lieben in La bohème.

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Sie haben ein reiches Puccini-Repertoire, das von Musetta und Mimì bis Manon Lescaut und Tosca reicht. Cio-Cio-San fehlte bislang noch. Worin liegt für Sie die Faszinationskraft dieser für Sie neuen Rolle?

SONYA YONCHEVA Es erschien mir irgendwie logisch und naheliegend, diese Partie nun in mein Repertoire zu nehmen. Vor allem aber war ich von der Partitur, von der Handlung, der erzählten Geschichte beeindruckt: Noch nie habe ich eine solche Rolle von Puccini gesungen! Die Partie wirkt über weite Strecken wie ein langer Monolog, besonders im zweiten Akt. Und sie birgt etwas sehr Verinnerlichtes, man blickt auf einen psychologischen Zustand einer Figur. Das war und ist ungemein faszinierend für mich.


In der nächsten Zeit singen Sie die Cio-Cio-San oft und an unterschiedlichen Opernhäusern. Kann man das als ein »Wenn schon, dann richtig« verstehen? Also: wenn schon eine neue Partie, dann wirklich intensiv und häufig? Oder gab es einfach so viele Anfragen?

SONYA YONCHEVA In diesem Fall ist es so, dass ich den Opernhäusern vertraue, die mich in dieser Rolle hören wollen und die mich nach dieser Partie gefragt haben. Oft ist es ja anders: Man meint, dass man dieses oder jenes gerne machen würde, und hört dann ein »Oh, wirklich?«, dem aber kein Angebot folgt. Bei der Médée von Cherubini war es etwa so. Im Grunde wollte es niemand so richtig auf die Bühne bringen, bis Daniel Barenboim kam und die Oper in Berlin verwirklichte. Diesmal, mit Cio-Cio-Sa, war es exakt andersherum. Ich hatte die Partie nicht geplant, weil es so viele andere spannende Rollen gibt, auf die ich mich sehr gefreut habe und die ich machen wollte: zum Beispiel Manon Lescaut oder Tosca. Aber es fragten so viele nach der Cio-Cio-San, dass ich schließlich meinte: Okay, wenn ihr glaubt, dass ich es kann – dann mache ich es auch!
 

Wenn Sie sich einer neuen Partie, wie eben nun der Cio-Cio-San annähern: Fokussiert der erste Blick zunächst die Musik oder den Bühnencharakter? Oder wollen Sie das in dieser Form gar nicht trennen?

SY Es geht sicherlich um beides. Im Falle dieser Rolle ist die Psychologie der Protagonistin von entscheidender Bedeutung – was aber natürlich wiederum mit dem Schauspielerischen eng gekoppelt ist: Wie stellt man eine Figur, die auf geradezu selbstzerstörerische Weise an Dinge im Leben glaubt, dar? All das Psychologische und Darstellerische hat selbstverständlich größte Auswirkungen auf das Gesangliche und Musikalische.


Eine ganz zentrale Frage ist, wie die beiden Hauptfiguren die Lage wirklich einschätzen und wie viel Liebe von beiden Seiten im Spiel ist?

SY Oh, das ist eine schwierige Frage! Ich denke, dass beide, also Cio-Cio-San und Pinkerton, die Situation unterschiedlich, auch naiv, sehen. Er ist von ihrer Schönheit hingerissen und sie ist für ihn auch eine Art Fetisch. Es hat für ihn etwas Faszinierendes, mit jemanden wie ihr zusammen zu sein. Und für sie ist es, glaube ich, nicht nur Liebe. Es ist eine Art von Versprechen, im Sinne von: Sie verspricht etwas, was sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr aufgeben will.
 

Aber glaubt Cio-Cio-San bis zuletzt an ein Happy End, oder versucht sie nur, etwas festzuhalten, von dem sie weiß, dass sie es verloren hat?

SY Ich denke, dass sie von der großen Hoffnung beherrscht wird, dass er zurückkommt – so wie er es versprochen hat. In ihrem Kopf hat ein einmal gegebenes Wort eine große Bedeutung – und Pinkerton hat ihr zugesagt, wiederzukehren. Also glaubt sie bis zuletzt daran.
 

Cio-Cio-San verliert sich zwischen zwei Kulturen: Von jener, in der sie geboren wurde, distanziert sie sich, eine Amerikanerin ist sie doch auch nicht.

SY Ja, im zweiten Akt nennt sie ihre Götter sogar faul. Sie sieht sich als Amerikanerin, als Frau Pinkerton. Sie lebt vollkommen in der Utopie, Pinkerton und seiner Welt ganz anzugehören. Aber wenn man sehr verliebt ist – und ich denke, dass viele junge Menschen in ihrer Situation das verstehen würden – kann man einer Person ganz ausgeliefert sein. Man kann seine Familie, seine Herkunft und wer man überhaupt ist, vergessen. Und genau das ist es, was ihr passiert.
 

Was aber liebt sie an Pinkerton? Er ist ja kein sehr sympathischer Typ. Versuchen Sie in ihm etwas Positives zu finden, wenn Sie Cio-Cio-San darstellen? Oder ist es mehr das Traumbild des weltmännischen Amerikaners, das sie fasziniert?

SY Ich glaube, es geht doch sehr um die Welt, die er repräsentiert. Wissen Sie, als ich 13 Jahre alt war, schwärmte ich auf eine sehr platonische Weise für einen Musiker aus Los Angeles. In dieser Zeit träumte ich – und vielleicht widersprachen meine Träume zu hundert Prozent dem, wie das Leben wirklich läuft und wie seine Welt wirklich war. Aber dennoch war dieses Gefühl für mich wichtig, weil es mich in meinem eigenen Leben weitergebracht hat. Also, ich würde sagen, genau das ist es, was passiert: Sie ist beeindruckt von seiner Existenz, denn für sie ist er so etwas wie ein exotischer Vogel.
 

Wenn Sie sich in eine Zuhörerin hineinversetzen: Was soll der Abend auslösen? Gefühle wie: Oh, die arme Cio-Cio-San! Oder: Ah, wie grausam ist Pinkerton! Was kann das Publikum mitnehmen?

SY Ich würde sagen, dass wir vor allem etwas über die Macht der Liebe lernen können und darüber, wie sehr wir an etwas glauben können, wenn wir uns jemandem wirklich und vollständig ausliefern. Dass Cio-Cio-San ein Kind mit Pinkerton hat, dass sie hofft, ihm dieses Kind zeigen zu können und dass sie denkt, wie stolz er auf dieses Kind sein wird – das sind schöne Empfindungen, sehr menschliche Empfindungen. Das ist etwas, was man mit nach Hause nehmen kann. Dass die Geschichte aber leider vollkommen in eine falsche Richtung läuft, das ist uns allen natürlich klar.
 

Lässt sich für Sie Giaccomo Puccinis musikalische Sprache in Madama Butterfly genau definieren? Es ist ja kein echtes Verismo-Stück, also keine Oper, in der unverstellte Emotionalität und ein fast reportagehafter Umgang mit dem Stoff gezeigt wird. Oder?

SY Nun, es gibt ein paar Momente, in denen die Partitur eine Art Versimo bietet, auch wenn Madama Butterfly – ebenso wie Turandot – keine veristische Oper ist. Aber in einzelnen Augenblicken kann man seine Stimme mit diesem besonderen Klang- und Ausdruckscharakter einsetzen. Ich denke da etwa an den Beginn des 2. Aktes, wenn Cio-Cio-San ruhig scheint – das betrifft auch das Stimmliche –, dann aber plötzlich ein Moment der Hysterie, des Aufschreis aufblitzt: »Ah! Schweige, oder ich werde dich töten!«, ruft sie Suzuki heftig zu. Dann kehrt sie wieder zu ihrer Selbstbeherrschung zurück. Hier kann ich als Sängerin meiner Stimme den oben angesprochenen Verismo-Charakter geben. Aber ganz allgemein gesprochen: Madama Butterfly ist ein so interessantes Werk, weil es so vieles bietet und ein bisschen ein Mix ist. Ich kann ein wenig Debussy hören, ab und zu auch Wagner. Enorm vielschichtig!
 

Eine andere von Ihnen sehr oft gesungene Puccini-Rolle ist Mimì in La bohème. Lassen sich die beiden Frauenfiguren vergleichen? Sind sie in ihrem Unglück, in ihrem Tod verwandt?

SY Puccini war dafür bekannt, dass er sich in die weibliche Psyche einfühlen konnte, er, der die Frauen liebte und bewunderte. Beide Bühnenfiguren ähneln sich insofern, als dass sie sehr zerbrechlich sind und viel Liebe schenken können. Natürlich, die Handlungen sind anders, aber ich sehe auch gesangliche Parallelen – vor allem, wenn es um die längeren Monologe und Erzählungen geht. Wobei: Mimì ist die deutlich kürzere Partie.
 

Und wenn wir die Liebesszenen Mimì-Rodolfo im ersten Akt der Bohème und Cio-Cio-San-Pinkerton im ersten Akt Madama Butterfly vergleichen?

SY Der augenfällige große Unterschied besteht darin, dass es im Falle von Madama Butterfly 20 Seiten mehr Musik sind! (lacht) Aber um auf das Theatrale zu kommen: In der großen Liebesszene zwischen Pinkerton und Cio-Cio-San geht es ihm darum, sie zu verführen – das ist eine lange Szene, und er leistet gute »Überzeugungsarbeit«: wir hören das nicht in den Worten, aber in der Musik. Zwischen Mimì und Rodolfo ist es ein anderer Fall, es ist emotional-explosiv, wie eine Stichflamme. Sie setzt ihren Charme ein – und er verfällt ihr. Doch das Ganze spielt sich in der Welt der Pariser Studenten ab, eben in der Bohème: da brauchte man nicht viel Zeit, um zu entscheiden, mit wem man schläft oder nicht. Die japanische Geisha und der amerikanische Offizier, der sie zu verführen versucht: das ist eine ganz andere Welt. Das muss man anders spielen – und das hört man auch in der Musik.

MADAMA BUTTERFLY
20. / 23. / 26. / 29. Juni 2023
Musikalische Leitung Antonello Manacorda
Inszenierung Anthony Minghella
Regie & Choreographie Carolyn Choa
Bühne Michael Levine
Kostüme Han Feng
Licht Peter Mumford
Puppendesign und -regie Blind Summit Theatre Mark Down & Nick Barnes
Mit u.a. Sonya Yoncheva / Szilvia Vörös / Alma Neuhaus / Charles Castronovo / Boris Pinkhasovich / Andrea Giovannini / Hiroshi Amako / Evgeny Solodovnikov / Nikita Ivasechko


Das Gespräch führte Oliver Láng