Premiere »Die Kameliendame«
»Die Liebe macht den Menschen besser, von welcher Seite sie auch kommen möge…« …schreibt Alexandre Dumas d. J. in seinem 1848 erschienenen Roman Die Kameliendame und schuf mit der Erzählung von der tragischen Liebe der Kurtisane Marguerite Gautier und des jungen Mannes Armand Duval den Grundstein für vielfältige künstlerische Interpretationen – sei es in der Oper, im Film oder im Ballett. 1978 hat John Neumeier mit seiner Version der Kameliendame eines der bedeutendsten Handlungsballette des 20. Jahrhunderts geschaffen, das nun seine Premiere mit dem Wiener Staatsballett feiern wird.
Was hat Sie dazu inspiriert, ein Ballett aus Alexandre Dumas’ d. J. La dame aux camélias zu kreieren?
Für einen Roman, der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, ist La dame aux camélias unglaublich modern – vor allem durch die Tatsache, dass wir die Geschichte nicht chronologisch erfahren, sondern aus unterschiedlichen Perspektiven. Zum Beispiel zuerst durch Armand, der das Manon Lescaut-Buch, das er einmal Marguerite geschenkt hat, vom Erzähler, der es bei der Auktion bekommen hat, erstehen möchte. Er wird krank und erzählt während seiner Genesung seine Geschichte. Ein weiterer Teil wird vom Vater Armands berichtet. Das Ende der Geschichte erfahren wir aus dem Tagebuch Marguerites. Diese Perspektivwechsel reizten mich sehr, weil ich nach neuen Möglichkeiten in der Gestaltung des abendfüllenden Balletts suchte – und immer noch suche. Obwohl das Sujet aus dem 19. Jahrhundert stammt, wollte ich nicht die klassische Form des Handlungsballetts aus dem 19. Jahrhundert, sondern einen anderen Zugang wählen. Das Schwierige im Ballett ist, dass wir keine Möglichkeit haben, eine Vergangenheit oder Zukunft durch die reine Bewegung deutlich zu machen. Wir teilen zwar den Körper, das wortlose Instrument, mit unserem Publikum, was einen direkten Kontakt möglich macht, aber gewisse Raffinessen, die der geschriebene Text hat, z.B. das Spielen mit grammatikalischen Formen, die Möglichkeit von dreidimensionalen wörtlichen Bildern, sind im Tanz schwieriger zu gestalten. Ich suchte also nach Schichten, sodass die Figuren nicht plakativ dargestellt werden, sondern eine tiefere menschliche Dimension erhalten. Dafür habe ich mich bestimmter Tricks, bei denen man verschiedene Jetzt-Zeiten nebeneinanderstellt und miteinander vergleicht, bedient. So ist die Inszenierung poetischer und erinnert in ihren schnellen Szenenwechseln an die Kunstform Film. Auch die Etablierung der Manon als Figur, die ebenfalls im Roman suggeriert wird, war ein wichtiger Ausgangspunkt für mich.
Sie haben ausschließlich Musik von Frédéric Chopin für das Ballett gewählt – einen besonderen Stellenwert haben dabei das 2. Klavierkonzert im ersten Akt und das Largo aus der h-Moll Sonate, welches als leitmotivisches »Liebesthema« stets wiederholt wird. Was bedeuten diese beiden Kompositionen für Sie innerhalb der Kameliendame?
Das Largo ist der Kern des Stückes und wird auch mehrfach im Ballett wiederholt. Wir hören es fragmentarisch bereits im Prolog und am Ende. Der größte Wendepunkt geschieht, wenn Marguerite sich ihre Liebe zu Armand eingesteht. Im Pas de deux »auf dem Land« erklingt das Largo dann zum ersten Mal vollständig. Während die Komposition beginnt, verschwindet in der Introduktion alles um die beiden herum, Liebe ist losgelöst von Zeit und Raum. Das Largo ist wichtig und steht für die einzig glückliche, kurze Zeitspanne ihres Lebens. Das Klavierkonzert verbindet zwei wesentliche Aspekte Chopins: Zum einen das Komponieren für die Salons, die typisch für das 19. Jahrhundert waren. Es ist eine Musik, die gefallen hat, die aufregend ist, die auch die Gesellschaft aus jener Zeit musikalisch beschreibt. Zum anderen die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit. Dem zweiten Satz liegen eine Intimität und unterschwellige Melancholie inne, die diesen Gesichtspunkt widerspiegeln und die auch zum Subtext Marguerites gehören.
Wenn das Ballett, wie jetzt in Wien, neu einstudiert wird, verändern Sie noch Dinge?
Ich ändere meine Stücke immer. Die Veränderung ist dabei aber meist eine Form von Klärung. Wenn man älter wird, soll man aus der Erfahrung lernen und in der Lage sein, das, was man 45 Jahre lang sagen wollte, nun besser und deutlicher ausdrücken zu können. So handelt es sich nicht um essentielle Änderungen, das Konzept des Balletts bleibt stets gleich, es geht eher um Nuancen. Auch die Arbeit mit verschiedenen Tänzer*innen beeinflusst mich. Die Wiener Besetzungen von Marguerite und Armand sind persönlich wie physisch sehr unterschiedlich, darauf gehe ich ein. Es ist wie mit der Arbeit an einem Text, man muss diesen nicht ändern, um ihm eine andere Farbe zu geben, sondern es kommt darauf an, wie man ihn spricht. Solange ich lebe, werde ich meine Werke immer kritisch betrachten. Ist die Arbeit noch relevant und wahrhaftig? Oder gibt es einen anderen Weg? Wenn ich das Gefühl habe, ja, dann muss ich es ändern.
Wonach suchen Sie in einer Tänzerin, einem Tänzer bei der Besetzung der Rollen von Marguerite und Armand?
Um Marguerite zu tanzen, muss die Tänzerin eine Form der Verletzlichkeit sichtbar machen können. Das hat nichts mit der Größe oder dem Alter, sondern mit einer Ausstrahlungskraft zu tun. Kann ich, welchen Schritt auch immer sie tanzt, glauben, dass sie bestimmt ist zu sterben? Kann ich das in ihrer Bewegung und in ihrem Ausdruck lesen? Weiterhin muss ich einen Dialog, eine Chemie zwischen Marguerite und Armand spüren. Armand ist hingebungsvoll und gleichzeitig – das liest man auch im Text von Dumas – weiß er, was er tut und was er will. Diese Stärke muss für Marguerite deutlich sein. Man kann die Äußerlichkeiten der Beziehung unterschiedlich deuten. Auch der Altersunterschied ist interessant. Das historische Vorbild für Dumas d. J., Marie Duplessis, war 23 Jahre alt. Es gibt also verschiedene Lesarten, aber die menschliche Auseinandersetzung zwischen Marguerite und Armand ist entscheidend. Deshalb bin ich für die Besetzung auch einige Male nach Wien gereist. Ich habe Paare gebildet, sie wieder verändert, weil die Chemie besser oder das physische Zusammenspiel harmonischer oder spannungsvoller war. Auch das reizt mich an meiner Arbeit und der immer wieder neuen Auseinandersetzung mit einem Ballett wie Die Kameliendame: Es gibt so viele Möglichkeiten.
Nach über fünfzig Jahren beenden Sie im kommenden Sommer Ihre Direktion am Hamburg Ballett. Haben Sie schon Pläne, was Sie danach machen werden?
Ich werde freischaffend und mit vielen Compagnien arbeiten. Ich habe auch als Ballettdirektor mit anderen Ensembles gearbeitet, interessanterweise mit 51. Aber nun werde ich dies ohne ein schlechtes Gewissen, meine eigene Compagnie zu vernachlässigen, tun. Auch das Festival The World of John Neumeier in Baden-Baden führe ich weiter. Ich bin mehr oder weniger bis Ende 2027 ausgebucht.
Wie wird Ihr Erbe in Hamburg weiterhin gepflegt?
Lloyd Riggins, mein stellvertretender Ballettdirektor, ist der Kurator meiner Werke. Er schlägt vor, welche Stücke zu welcher Zeit und in welcher Form wiederaufgenommen werden könnten. Die Zeit wird zeigen, wie das funktioniert. Einige Ballettmeister, die mit mir gearbeitet haben, bleiben. Diese sind oft Tänzer, die Rollen in meinen Werken interpretiert haben. Wenn ich kann, werde ich selbstverständlich auch mit den neuen Besetzungen in Hamburg arbeiten.
Sie haben das Ballett in Hamburg zum Teil der Stadtgesellschaft, der Infrastruktur gemacht. Welchen Stellenwert muss die Pflege der Tanzkunst in einer Stadtkultur haben?
Als ich nach Hamburg kam, hatte ich eine Teilzeitsekretärin und ein kleines Büro, das ich mit meinem Ballettmeister teilte. Ich habe nie gesagt, das genügt mir nicht. Mein erstes Ziel war, etwas zu kreieren. Als Künstler muss man etwas ehrlich kreieren und hoffen, dass die Menschen es sehen wollen. Im Tanz geht es mehr um die Frage, was lerne ich über mich als Mensch, wenn ich ein Ballett zu Mahlers 3. Symphonie, die Matthäus-Passion oder die Odyssee nach Homer sehe? Die Tanzkunst ist aufgrund ihrer Wortlosigkeit für mich jene Kunst, die am nächsten am Menschen ist. Dieser ist Sujet und zugleich Instrument. Ich denke, hier muss man beginnen. Ich bin weder Politiker, Soziologe noch Stadtplaner, ich bin jemand, der Ballette macht und der versucht, diese so gut wie möglich zu machen. Dann, wenn Gott will, finden sie auch einen Platz in der Gesellschaft.
Das Interview führte Nastasja Fischer.