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© Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek
© Robert Newald, picturedesk.com

Pogrom und Prügel

Als Österreich 1955 das Ende der alliierten Aufsicht als eigentliche Neugründung des Staates inszenierte, war die Eröffnung der Staatsoper (neben jener des Burgtheaters) der prominenteste Anlass zur Selbstdarstellung und Selbsterfindung. Dass mit Karl Böhm ein prominenter ehemaliger Nationalsozialist im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, war ein klares Signal der Anknüpfung an die NS-Kulturpolitik, wie zeithistorische Forschungen in den letzten Jahrzehnten offengelegt haben. Böhm war schon einmal Direktor der Staatsoper gewesen, aber 1945 abgesetzt worden, was er jedoch in seiner Eröffnungsrede zehn Jahre später weder verschwieg noch herunterspielte. Vielmehr verdrehte er den Neuanfang zur Fortsetzung. Vor den Mikrofonen für das Publikum im Haus und an den Radiogeräten erklärte Böhm offen: »Mich [beflügelte] wohl auch der Gedanke, dass ich schon damals, als dieses Haus den Kriegsbomben zum Opfer fiel, als Direktor an der Spitze des Institutes stand. Dass also durch meine Person gewissermaßen eine Kontinuität hergestellt erscheint, die vom Gestern zum Heute hinüber führt.« Neben solchen personellen Verbindungen prägen die Produktion des Gründungsmythos nach der Staatsvertragsunterzeichnung auch musikalische Rückbezüge. Am Programm des Abends zur Eröffnung stand Beethovens Fidelio, der schon als Festvorstellung zum »Anschluss« an NS-Deutschland im März 1938 erklungen war.
Die ersten Takte, die öffentlich im neuen Haus am Ring erklangen, stammten aber nicht aus Fidelio: Am Vormittag des Eröffnungstages setzte Böhm zum
offiziellen Festakt vielmehr (nach kurzen Stücken von Franz Schmidt und J. S. Bach) Wagners Meistersinger zentral und schloss mit Johann Strauß’ An der schönen blauen Donau ab. In dieser Dreifaltigkeit von Wagner-Strauß-Beethoven spiegeln sich die drei zentralen Prämissen der Selbstdarstellung Österreichs am Beginn der Zweiten Republik. Die Referenz auf Strauß und (den austrifizierten) Beethoven betonte die Unterschiede zu Deutschland in den beiden Stereotypen österreichischer Gemütlichkeit bzw. kulturelle Überlegenheit. Als Gegenbild zum preußisch Exakten war Strauss und das Klischee der Wiener Walzerseligkeit nach 1945 unverzichtbar. Bis heute firmiert diese Selbstbeschreibung unter unterschiedlichsten Überschriften (»Ein Land, das zu leben versteht«, heißt es im aktuellen Markenkonzept der Österreich Werbung) als ein Kern von Österreichvorstellungen. Beethoven wiederum versinnbildlicht ideal als »großer Österreicher«, als einer der vielbesungenen »großen Söhne«, die »Kulturgroßmacht«. Aus heutiger Perspektive bedarf nur einer Erklärung, dass Böhm in einem so volatilen Moment der nationalen Selbstdarstellung (noch dazu für den feierlichen Höhepunkt nach der offiziellen Schlüsselübergabe) Richard Wagner wählte und aus dessen Werk noch ausgerechnet die Ouvertüre der antisemitischen konnotierten Meistersinger von Nürnberg. Dieses »deutscheste aller Werke« widerspricht dem Prinzip der österreichischen Abgrenzung zu Deutschland. 1955 schien das jedoch nur Theorie der Österreichideologie, deren Kanon noch nicht gefestigt war: Wagner symbolisierte die für das zeitgenössische Publikum weitgehend unwidersprochene Zugehörigkeit zu einer »deutschen Nation«. Entsprechend sah sich Böhm auch veranlasst, in seiner Eröffnungsrede die Entscheidung für Strauß zu rechtfertigen, nicht jene für Wagner (sein Argument war ganz im Gegenteil, dass Wagner selbst den Walzerkönig schon neben sich geduldet hätte). Es ist aber nicht einfach irgendein 1955 noch verbindliches, selbstverständliches Bekenntnis der Zugehörigkeit zur »deutschen Nation«, das die Meistersinger als ideale Wahl erscheinen ließ. Die Wiener Wagnervereine hatten zum Zeitpunkt der Staatsoperneröffnung 1955 schon 80 Jahre lang die Auseinandersetzungen um diese Oper in Wien zum großen Schauplatz zwischen »echter« – das heißt immer »deutscher« – Kunst und ihren angeblichen Feindinnen wie Feinden stilisiert – mit stark antisemitischen Untertönen. Unmittelbar nach der Schoa im Speziellen und der NS-Massengewalt im Allgemeinen hatte das Werk aber noch eine neue Dimension. Vielsagend klingt schon aus älteren Kritiken an Meistersinger Aufführungen heraus, dass die »gesetzte deutsche Festheiterkeit« untrennbar mit Gewalt verknüpft ist – die Neue Freie Presse bemängelte schon in ihrer berühmten Kritik der Wiener Erstaufführung 1870 etwa, dass die »Prügelszene« im zweiten Akt dem Charakter einer unterhaltsamen Oper widersprechen würde. Humor entsteht aus der Brutalität dann, wenn in Beckmesser eine sprichwörtliche Witzfigur gesehen wird, gegen die Gewalt legitim ja, notwendig sei. Beckmesser personifiziert die Angriffsfläche des Wagnerschen Antisemitismus in Reinform als das Gegenbeispiel von »Echtheit«, stellen doch seine Imitationsversuche auf niedrigem Niveau angesichts der dahinterstehenden Zerstörungsabsicht eine Bedrohung dar, so die klassische Täter-Opfer-Umkehr. (Die Intention des antisemitisch imaginierten Jüdischen, formuliert Wagner ausdrücklich, sei, sich der deutschen Geistesleistung »zu bemächtigen, aber nur, um [sie] zu zersetzen«.) In den Meistersingern legitimiert Wagner antisemitische Gewalt aber nicht allein mit den vorgestellten Angriffen auf die »deutsche Kultur« oder das »deutsche Wesen« (durch Zerstörung ihrer »Echtheit«). Ebenso erzählt Wagner vom Angriff auf die (sexuelle) Integrität der »deutschen Frau«, also die Bedrohung der rassistisch gedachten »nationalen« Reproduktionsfähigkeit. Zum Zeitpunkt der Aufführung der Meistersinger 1955 waren dem Publikum diese beiden Grunderzählungen des Rassenantisemitismus des 19. Jahrhunderts unmittelbar gegenwärtig: In der obszönen NS-Propaganda hatten sie eine Schlüsselrolle gespielt, um Massengewalt zu legitimieren. Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft aber verkannte oder verneinte die Kulturpolitik die Vorgeschichte und Legitimierung der Schoa in der antisemitischen Kulturproduktion des 19. Jahrhunderts grundsätzlich. Wagner blieb grosso modo in den Spielplänen präsent – auch in Wien. Dieser lange Atem verknüpft die Eröffnung der Staatsoper 1955 erneut mit dem vermeintlich »triumphalen« Moment der NS-Machtübernahme 1938: Das Nürnberger Vorbild lässt sich in der Kulisse des Heldenplatzes ebenso erkennen wie die lokale Färbung als »riesiger Heuriger« (Merz/Qualtinger). Unbestritten hatte der Festtaumel wie in den Meistersingern öffentliche Gewalt zur Voraussetzung: Im Schatten des Heldenplatzes wurde Wien zur ersten Stadt im nationalsozialistischen Deutschen Reich, in der massenhaft Menschen als Jüdinnen und Juden attackiert und durch Straßenwaschen gedemütigt wurden – mit Heidemarie Uhl gesprochen der »Auftakt zur Schoa«. Für den Zusammenhang zu den Meistersingern ist ein oft übersehendes Detail dieser Pogrome aufschlussreich: Die Gewalt zielte vor allem auf den Effekt der öffentlichen Erniedrigung ab, sie suchte die Satire in der Brutalität – entsprechend werden die Anschlusspogrome noch heute im Wiener Kontext euphemistischbelustigend meist als »Reibpartien« bezeichnet. Im einzigen bekannten Laufbildmaterial dieser Gewaltaktionen nimmt die Kamera die Heiterkeit der Umstehenden, des Publikums der Szene, auf. Die Künstlerin Ruth Beckermann (siehe Seite 39) hat diese Bilder von beinahe hysterisch lachenden Personen hellsichtig als Leerstelle im kulturellen Gedächtnis identifiziert und gefordert, dass das Bild der straßenwaschenden, erniedrigten Judenfigur eben um die unmittelbar und mittelbar Verantwortlichen ergänzt werden muss, um das Framing von Gewalt als Unterhaltung, des Pogroms als »Hetz« (Merz/Qualtinger) erklären zu können.
Dieses einzigartige filmische Dokument ist daher auch als zentrales Objekt zum März 1938 in der Hauptausstellung im Haus der Geschichte Österreich zu sehen.
So, wie die Nürnberger Festwiese das öffentliche Verdreschen der Beckmesser-Figur und ihre öffentliche Erniedrigung voraussetzt, ist der »Triumph« in der Neueröffnung der Wiener Staatsoper vor 79 Jahren nicht zu trennen von Nationalsozialismus und Antisemitismus, deren Vertreter und Vertreterinnen zu diesem Zeitpunkt wieder in die Büros und die Direktion dieses Hauses und in die Schaltzentralen der Kulturpolitik der jungen Zweiten Republik insgesamt zurückgekehrt waren. Dass das wichtigste Opernhaus des Landes mit jener Musik eingeweiht wurde, die auf ein regelrechtes Reenactment der Anschlussprogrome als erheiternde »Prügelszene« hinausläuft, zeigt, wie sicher sie sich ihrer Sache waren. Die Heiterkeit der Nürnberger Stadtbevölkerung spiegelte dem Publikum 1955, 17 Jahre danach, die Heiterkeit der Wiener Schaulustigen der »Reibpartien« 1938. Die legitimierende Inszenierung antisemitischer Gewalt wurde zu einem zentralen Moment im inoffiziellen Gründungsakt der Zweiten Republik als »Kulturnation«.


Die vollständige Rede von Karl Böhm zum Festakt anlässlich der Eröffnung der Staatsoper 1955 können Sie hier nachlesen und nachhören
→ hdgoe.at/oper1955
Der Autor dankt seinen Kolleg*innen aus dem Forschungsprojekt ACONTRA, die die erhaltenen Aufnahmen der österreichischen Radiosender 1945–1955 derzeit wissenschaftlich erschließen und bearbeiten, für Hinweise und Diskussion.