© Axel Zeininger

DAS MANONSYNDROM

Manon Lescaut ist ein faszinierender Archetyp, der uns auch in anderen bekannten Figuren begegnet, etwa in Pandora, Semele oder Lulu. Er erzählt uns viel über menschliche Schwächen und Leidenschaften. Manon ist ein junges Mädchen, das alles haben möchte und dadurch schuldig wird. Aber in diesem Schuldigsein ist doch auch sehr viel Unschuld enthalten. Manon ist jung und schön, alle begehren sie, und daher glaubt sie, alle Türen würden ihr offenstehen. Was sie aber lange nicht begreift, ist, was sie ihren Mitmenschen antut. Auch wir leben in einer Zeit, in der jeder alles haben will. Wir sind gezwungen, jung und schön auszusehen, und man versucht uns weiszumachen, dass wir durch den Besitz von Gütern, die als Statussymbole dienen, noch glücklicher werden könnten. Man könnte dies das »Manon-Syndrom« nennen. Doch bedeutet dieses »Manon-Syndrom« keineswegs, dass wir nicht mehr liebesfähig wären. Gerade das hat Puccini so wunderbar beschrieben. Manon giert zwar nach Luxus, aber sie ist kein Ungeheuer. Sie kann immer noch lieben. Auch wird sie von ihrer Umgebung ja geradezu dazu verleitet, ihre Hände nach dem Luxus auszustrecken. Sie wird rasch zu einer Berühmtheit, was durchaus Parallelen zur Gegenwart hat. In unserer oberflächlichen »Seitenblicke-Gesellschaft« werden immer wieder Menschen aus dem Nichts heraus zum Star und verlieren, kaum dass sie sich dessen versehen, auch wieder alles. Dass Manon erst am Schluss begreift, wohin ihr Leben sie getrieben hat, dass sie niemals lernte, die Liebe als das höchste Gut zu achten, das ist die Tragik ihrer Geschichte.

Die Oper Manon Lescaut macht uns außerdem auf einen anderen Gegensatz aufmerksam, den von Geld und Liebe. Mit Geld lässt sich vieles kaufen, daher ist es für viele Menschen auch so faszinierend. Bei der Liebe jedoch ist man auf sich selbst zurückgeworfen, Liebe lässt sich nicht kaufen. Manon ist von unbeschreiblicher Schönheit. Doch sie hat nicht genug Selbstwertgefühl, sodass sie glaubt, all den Luxus, die teuren Kleider und Schuhe, den Schmuck und das Parfüm zu brauchen, um in den Augen ihrer Mitmenschen wertvoll zu sein. Echte Liebe aber fragt nicht nach solch äußerlichen Dingen, sie ist das genaue Gegenteil dazu. Sie fragt nicht danach, was ich will, sondern was der geliebte Mensch will. Manon aber ist so mit sich selbst beschäftigt, dass sie Des Grieux vergisst. Freilich ist ein solches Verhalten nur allzu menschlich. Man wird nur selten auf wirklich selbstlose Liebe stoßen.

Manon Lescaut ist für mich auch aufgrund der dramaturgischen Anlage ein sehr modernes Stück: Die Handlung wird nicht lückenlos erzählt, es werden nur einzelne Stationen und Bilder aus ihrem Leben herausgriffen. In den vier Akten sehen wir Manon, wie sie zunächst war, dann, was aus ihr geworden ist, weiters, was man ihr antut und zuletzt, wie sie stirbt. Man hat das Stück oft seiner Brüche und Sprünge wegen kritisiert. Ich liebe es genau aus diesem Grund, genau darin liegt nämlich seine Stärke. Denn Puccini ist dadurch gezwungen, die einzelnen Bilder sehr stark zu verdichten, was wiederum dazu führt, dass er auf knappem Raum sehr viel erzählt. Er wiederholt sich nicht. Er ist eben ein echter Theaterkomponist, er denkt immer an die Bühne.

Als ich Manon Lescaut in Antwerpen inszeniert habe, orientierte ich mich mehr an der Atmosphäre des 18. Jahrhunderts, in dem Prévosts Roman nicht nur entstanden ist, sondern in dem er auch spielt. Für die Wiener Inszenierung habe ich mich entschlossen, es in die Gegenwart zu versetzen, was einen großen Unterschied ausmacht. Natürlich lese ich Manon Lescaut nicht gänzlich neu, aber in der Wiederbeschäftigung mit dem Stück sind mir doch auch andere Dinge stärker aufgefallen als früher, haben sich manche Akzente verschoben. Problematisch ist das Libretto, weil so viele Autoren daran beteiligt waren. Sieben Männer haben sich damit herumgeschlagen, sodass es schwierig war, eine einheitliche Linie hineinzubringen und das Ganze zu fokussieren. Vor allem der erste Akt hat Mängel. Er ist wie ein Filmskript geschrieben, in dem sich Close-ups und Totale ständig abwechseln. Dieser Akt setzt sich aus unglaublich vielen Einzelheiten zusammen. Die große Schar der Autoren ist sicher der Grund, warum der Verleger Ricordi die Namen der Librettisten in der Partitur und im Klavierauszug verschwiegen hat. Das war völlig ungewöhnlich. Aber Puccini gelang es, die disparaten Einzelszenen durch musikalische Motive zu verklammern, ja geradezu einen großen Bogen zu spannen. Musikalisch ist die Oper also ein Wurf. Es findet sich kein Takt, der uninspiriert wäre. Schon dieser relativ junge Komponist, der Puccini zur Entstehungszeit der Manon Lescaut noch war, verfügte über große Meisterschaft und einen unverwechselbaren Stil. Seine Musik ist »sexy«, voll von Erotik und Leidenschaften und setzt mit voller Absicht auf starke Kontraste zwischen tief empfundener Emotionalität und oberflächlichen Glamour.

Manon Lescaut ist ferner ein moralisches Lehrstück, zwar nicht im Sinne Brechts, aber doch in der Art, wie viele Stücke, Romane oder auch Bilder des 18. Jahrhunderts moralisch wirken wollten. Denken wir etwa an Henry Fieldings Tom Jones oder seinen Joseph Andrews, an Samuel Richardsons Pamela, an Daniel Defoes Moll Flanders, an Voltaires Candide, oder, im Bereich der zeichnerischen Satire, an William Hogarth, dessen Bilder Vorbild von Igor Strawinskis The Rake’s Progress waren. In dieser Tradition steht auch Prévosts Roman, was bedeutet, dass eine gewisse Distanz erforderlich ist – auch das nicht im Sinne Brechts, der auf Brechungen setzte, aber doch so, dass man sich nicht sklavisch einem naturgetreuen Realismus unterwerfen sollte. Würde man einen solchen zum Maßstab machen, dann wäre das Stück voller Fehler, zum Beispiel: Um New Orleans herum gibt es keine Wüste, wie uns das Textbuch weismachen möchte, nur Sümpfe. Wichtiger als die äußere Geographie ist es, die inneren Stationen von Manons Reise zu zeigen. Sie ist ein Mädchen vom Lande, das es in eine Großstadt verschlägt. Diese ist reich an Verführungen, denen sie nicht widerstehen kann. Im zweiten Akt sehen wir sie im Besitz all der verführerischen Dinge, die sie haben wollte. Im dritten Akt wird sie gedemütigt, und zwar durch die Öffentlichkeit. Das ist eine unglaubliche Szene. Puccini hat es großartig verstanden, gewisse Formen des Sadomasochismus in Musik zu setzen. In Turandot wird Liù gepeinigt, Scarpia lässt Cavaradossi physisch quälen und quält Tosca psychisch, ähnliche Stellen finden sich auch in La fanciulla del west. In Manon Lescaut wird Manon gedemütigt, und auch Des Grieux’ Haltung ist von Masochismus nicht ganz frei. Im vierten Akt verstehe ich diese Wüste als Symbol, als ein Sinnbild dafür, wohin Manons missglücktes Leben sie gebracht hat. Jetzt erst begreift sie, was sie Des Grieux angetan hat, was ihre Verantwortung, ihr Anteil an der Schuld ist. Puccini war kein Komponist, den ich von Anfang an zu meinen Favoriten gezählt hätte. Dann aber entdeckte ich seine musikalischen und dramaturgischen Qualitäten und musste mir eingestehen, dass er viel moderner ist, als ich ursprünglich gedacht hatte. Natürlich wurzelt er in der italienischen Tradition seiner Zeit, doch blickte er stets nach vorne. Man kann das auch in Manon Lescaut hören, seiner dritten Oper, aber seiner ersten, in dem seine musikalische Handschrift voll ausgeprägt ist. Was sich als roter Faden durch sein gesamtes Schaffen zieht, ist seine Vorliebe für starke Frauen. Ich dachte zunächst, Puccinis Figuren seien alle nur Opfer. Zum Teil sind sie das natürlich auch, aber trotzdem sind sie stark und wissen genau, was sie wollen. Mimì in La bohème zum Beispiel ergreift die Initiative: Sie klopft an Rodolfos Tür und knüpft den Kontakt. Und sie bekommt, was sie sich wünscht. Oder Cio-Cio-San in Madama Butterfly: Sie setzt sich über die starren Regeln der traditionellen japanischen Gesellschaft hinweg und geht die Ehe mit Pinkerton ein, an dessen Untreue sie letzten Endes zerbrechen wird. In dieser Linie muss man auch Manon Lescaut sehen: Auch sie bekommt, wonach sie verlangt. Es sind starke, unabhängige Frauen. Puccini war es, der diesen starken, unabhängigen Frauen auf der Opernbühne zum Durchbruch verhalf, genau zu jener Zeit, als die Frauen Europas für ihre Rechte und ihre Gleichberechtigung den Kampf aufnahmen.

→ Der Text basiert auf einem Interview mit Robert Carsen, das Peter Blaha 2005 anlässlich der Neuproduktion geführt hat.