Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik
© Manceaux / ÖNB-Bildarchiv

VERKLÄRUNG UND KLARHEIT

Im März 1953 hatte Francis Poulenc von der Mailänder Scala den Auftrag erhalten, eine Oper nach Georges Bernanos’ Theaterstück Dialogues des Carmélites zu schreiben. Am 31. August 1953 schrieb der Komponist an den befreundeten Sänger Stephane Audel: »Zwei Worte nur, denn Mère Marie versagt mir die geringste Ablenkung. Ich arbeite wie ein Verrückter, gehe nicht aus, sehe niemanden ... Ich schreibe eine Szene pro Woche. Ich kenne mich gar nicht wieder. Ich bin verrückt mit meinem Sujet, soweit, zu glauben, dass ich die Damen gekannt habe ...« Poulenc, der sich nach einem persönlichen Verlust dem Katholizismus zugewandt und eine Reihe geistlicher Werke komponiert hatte, hatte für seine erste (und, wie sich herausstellen sollte, einzige) abendfüllende Oper einen Stoff gefunden, der ihn uneingeschränkt fesselte und beanspruchte – so sehr, dass nach der erfolgreichen Premiere ein Sanatoriumsaufenthalt für den erschöpften Künstler nötig war. Den Schlüssel zur Faszination am Sujet um die sechzehn »Märtyrinnen von Compiègne« nennt Poulenc beiläufig in seinem Text Die Geschichte meiner Oper (erschienen 1957 zur Premiere der französischsprachigen Fassung), als er erwähnt, dass ihm Guido Valcarenghi, der Direktor des Verlagshauses Ricordi, die Dialogues des Carmélites als Grundlage für die Komposition einer Oper vorgeschlagen hatte, da er doch auf der Suche nach einem »mystischen Sujet« gewesen sei. Mit seinen Dialogues reihte sich Poulenc in die Reihe der Künstlerinnen und Künstler ein, die den historischen Stoff als Folie für die Auseinandersetzung mit dem Thema der individuellen Suche nach einer Verbindung zu Gott verwendeten.

GESCHICHTE ALS FOLIE

Das historische Ereignis, das den Hintergrund für Dichtung und Komposition bildet, fand in der späten Phase der jakobinischen Terreur in Frankreich statt: Am 17. Juli 1794 wurden sechzehn Nonnen des Karmel von Compiègne nahe Paris auf der Guillotine hingerichtet. Die Anklage lautete auf konterrevolutionäre Versammlungen und Konspiration, im Detail auch auf die Unterstützung von ins Ausland geflohenen Priestern und fortgesetzter Unterstützung des bourbonischen Königshauses, dem der Karmelitinnenorden traditionell nahestand. Die Unbeschuhten Karmelitinnen in der Nachfolge Teresa von Ávilas, die 1562 das erste Kloster des Ordens gegründet hatte, zeichneten sich zu dieser Zeit durch eine rein kontemplative, ganz auf das Gebet und die »Fürbitte für die Kirche« ausgerichtete Lebensform aus. Der Karmel von Compiègne war 1641 gegründet worden. Seit Beginn der Revolution 1789 waren in Frankreich eine Reihe von Gesetzen und 
 

DIE DICHTUNG DER »CARMÉLITES«

Der größte Teil dieser Dialogues basiert auf der Novelle Die letzte am Schafott der deutschen Schriftstellerin Gertrud von Le Fort. Der Titel Dialogues des Carmélites stammt von dem französischen Schriftsteller Georges Bernanos, der die Novelle zunächst als Filmszenario verarbeitet und einige eindrückliche Details hinzugefügt hatte. Bernanos wählte einen betont schlichten, deskriptiven Titel, der nicht treffender sein könnte. Die Dialoge, die Gespräche der Karmelitinnen sind es, in denen sich, schon bei Bernanos und dann, musikalisch pointiert, bei Poulenc, die Unruhe im Kloster abbildet, die Notwendigkeit, Absprachen zu treffen, Annahmen zu überprüfen, zu diskutieren und zu verhandeln. Das vordringliche Thema in diesen Gesprächen, jenes, das den religiösen und theologischen Auseinandersetzungen letztlich zugrundeliegt, ist das der Todesangst. Gertrud von Le Fort, die Autorin von Die Letzte am Schafott, beschreibt in einem Text über Bernanos’ Dramatisierung, wie sie dieses Thema an der Hauptfigur Blanche de la Force entworfen hatte (am Namen unschwer als Alter Ego der Autorin erkennbar): »Der Ausgangspunkt meiner eigenen Dichtung war nicht in erster Linie das Schicksal der sechzehn Karmeliterinnen von Compiègne, sondern die Gestalt der kleinen Blanche. Sie hat im historischen Sinn niemals gelebt, sondern empfing den Atem ihres zitternden Daseins ausschließlich aus meinem eigenen Innern und kann niemals von dieser Herkunft gelöst werden. Geboren aus dem tiefen Grauen einer Zeit, die in Deutschland überschattet wurde von den vorauseilenden Ahnungen kommender Geschicke, stieg diese Gestalt vor mir auf gleichsam als ›Verkörperung der Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche‹«. Die »Todesangst einer ganzen zu Ende gehenden Epoche« ist ein Selbstzitat, das nicht ganz einfach zu durchdringen ist. In Die Letzte am Schafott erklärt der Briefautor, der die Geschichte der Karmelitinnen erzählt, Revolutionen seien ihrem Wesen nach der »Ausbruch der Todesangst einer zu Ende gehenden Epoche.« Die Letzte am Schafott erschien 1932, im selben Jahr, in dem die NSDAP die Wahl zum Reichstag gewann. Von Le Fort, die während der Zeit des Nationalsozialismus im Allgäu lebte und weiter Erzählungen zu religiösen Themen publizierte, beschreibt ihre Protagonistin demnach – im Verhältnis zur zitierten Textstelle der Novelle etwas irreführend – als die gewissermaßen personifizierte Schockstarre am Ende der Weimarer Republik. Dabei denkt die Autorin allerdings eher nicht zeitgeschichtlich; ihr Gegenstand ist der »Sieg der Gnade über die Todesangst«, den sie an ihrer Protagonistin verhandelt. Im weitesten Sinne könnte man sagen, dass die Geschichte der jungen Blanche eine der Suche nach innerem Frieden ist, ein Thema, das Gertrud von Le Fort ebenso wie Georges Bernanos aus religiöser und theologischer Sicht faszinierte; im Fall des todkranken Bernanos kam noch eine persönliche Betroffenheit dazu, die in der Ausgestaltung der Sterbeszene der alten Priorin des Karmel ihren Ausdruck findet. Auch Francis Poulenc sollte diese Szene in seiner Oper besonders eindringlich gestalten.

POULENCS ERNST UND FREUDE

Der Komponist Francis Poulenc wurde vom französischen Musikkritiker Claude Rostand mit der wunderbaren Doppelbezeichnung »Moine et voyou« – »Mönch und Strolch« geadelt. Was damit gemeint ist, lässt sich auch musikalisch beantworten. Poulenc, der in seinen frühen Jahren der »Groupe des six« zugerechnet wurde, jungen Komponisten, zu denen unter anderen Arthur Honegger und Darius Milhaud zählten, begeisterte sich für Chansons, Music Halls, Revuen und Cafés-Concerts. Die frühen Kompositionen des Autodidakten lassen Spuren dieser populären Vorlieben erkennen – ebenso wie den Einfluss Erik Saties, dem Poulenc sein Erstlingswerk widmete, die Rhapsodie nêgre. Dem lebensfrohen Liedkomponisten, der viele Texte von Guillaume Apollinaire und Paul Éluard vertonte, steht der katholische Komponist geistlicher Werke aber nicht entgegen – »moine« und »voyou« sind vielmehr zwei einander eng verwandte Seiten des Künstlers. Vielleicht in ähnlicher Weise, wie der bekennende Homosexuelle Poulenc an die Violinistin Hélène Jourdan-Morhange schrieb, er sei »in meinem Glauben ebenso ernsthaft wie in meiner Pariser Sexualität«. Und so klingt aus Poulencs erstem Liedzyklus Le Bestiaire où Collège d’Orphée (1919) auf Texte von Apollinaire ebenso viel Ernsthaftigkeit und Freude wie aus seinem Gloria von 1959.

Für die Dialogues des Carmélites beschreibt Poulenc im erwähnten Text Die Geschichte meiner Oper ein Erlebnis, das eine erstaunliche Ähnlichkeit zur zweifelhaften Anekdote Giuseppe Verdis aufweist, wonach das zufällig just an der Stelle von »Va, pensiero« aufgeschlagene Nabucco-Libretto die Entscheidung zur Fortsetzung der Komponistenlaufbahn des Meisters besiegelt haben soll. Im Fall Poulencs sind es die ersten Worte der todkranken Priorin, an der er – auf gut Glück – das Buch aufschlägt, von dem er inhaltlich auch schon überzeugt ist, ohne noch sicher zu sein, ob es sich zur Komposition eignen wird. Auf einen Schlag findet der Komponist die Vokallinie, und die Entscheidung zur Komposition der Oper ist gefallen. Tatsächlich sind die Dialogues des Carmélites eine ausgesprochene Gesangsoper geworden, und das dezidierte Komponieren für die Stimmen, um das sich der passionierte Liedkomponist Poulenc so bemüht hatte, erwies sich als Stoff und Libretto ausgesprochen angemessen und hat wohl auch zum großen Erfolg der Oper beigetragen. Poulenc ordnete, wie er wiederum in der Geschichte meiner Oper beschreibt, den fünf weiblichen Hauptrollen zur Orientierung fünf große Frauenpartien der Opernliteratur zu: Amneris, Kundry, Desdemona, Thaïs und Zerlina. Von diesen Stimmvorstellungen ausgehend kreierte er die Charaktere der Mère Marie, Madame de Croissy, Madame Lidoine, Blanche und Constance mit je individueller rhythmischer Diktion und Melodik und ließ sie miteinander in die titelgebenden Dialogues treten. Die Lebendigkeit  des Werks verdankt sich auch der ausgeprägten Arbeit mit wiederkehrenden Motiven, die das Seelenleben der Figuren musikalisch ausgestalten: So finden sich etwa mit den Themen »peur« »anxieté« und »crainte« gleich drei verschiedene Schattierungen des zentralen Topos der Angst. Die auffällige thematische Arbeit fügt sich in eine Partitur nicht nur der Stimmen, sondern auch der Stimmungen, die Poulenc für die jeweiligen Stücksituationen maßschneiderte, wobei er sich auch als bemerkenswerter Improvisationskünstler auszeichnete: Nach der erfolgreichen Uraufführung in Mailand zeigte sich bei den Vorbereitungen der Uraufführung der französischen Fassung, dass die Dimensionen der Pariser Bühne zahlreiche Umbaupausen nötig machen würden. Poulenc komponierte eilig neun kurze instrumentale Präludien nach, die das Werk in seiner heutigen Gestalt mit ihren jeweils sehr unterschiedlichen Stimmungen eigentümlich bereichern. Effektvoller Höhepunkt der Oper ist das Finale, das die Karmelitinnen bei ihrem Gang auf das Schafott zeigt: Das Salve Regina wird angestimmt, und mit jedem Fallen der Guillotine (das Poulenc in der Partitur jeweils exakt mit einem Pfeil markiert hat) fällt eine Stimme weg, bis als letzte Blanche alleine singt. Ganz leise endet die Oper dann, und dabei ausnehmend eindringlich: Im pianissimo der Streicher lässt Poulenc noch einmal das Thema des »Apaisement« erklingen, der Beruhigung oder auch Befriedung, das schon früh im Werk den Weg Blanches zur inneren Ruhe im Karmel andeutet. Die Klarheit der Komposition scheint den Weg der Verklärung vorzugeben. Aber in keiner der genannten Verarbeitungen der Geschichte der Blanche de la Force und der Märtyrerinnen von Compiègne bleibt so viel Spielraum für die Interpretation gerade dieses entscheidenden Moments wie in Francis Poulencs bemerkenswerter Komposition.

ZUM INHALT

Während im April 1789 in Paris die Reveillon-Unruhen den Beginn der Französischen Revolution ankündigen, verkündet die junge Blanche de la Force ihrem Vater, dem Marquis, einen nachhaltigen Entschluss: Sie möchte in den Orden der Karmelitinnen von Compiègne eintreten. Dort erhofft sich die junge Frau, die seit ihrer Kindheit von unerklärlichen Ängsten geplagt ist, Erleichterung und Klarheit. Im Kloster erlebt Blanche, die den Ordensnahmen Sœur Blanche de l’Agonie du Christ (Schwester Blanche von der Todesangst Christi) wählt, den Todeskampf der sterbenden Priorin Madame de Croissy aus nächster Nähe mit und wird von der junge Novizin Sœur Constanze de St.-Denis mit der Vision beunruhigt, dass sie beide jung und am selben Tag sterben würden. Die neue Priorin, die bürgerliche Madame Lidoine, schwört die Karmelitinnen in Zeiten der beginnenden Terreur auf das Gebet ein und warnt vor eitler Sehnsucht nach dem Martyrium. Als Madame Lidoine nach Paris gerufen wird, veranlasst die Novizenmeisterin Mère Marie de l’Incarnation eine Abstimmung, die die Schwestern zum Martyrium verpflichtet. Blanche ist dem Druck und ihrer Angst nicht mehr gewachsen und flüchtet sich in das Haus ihres inzwischen hingerichteten Vaters, wo sie als Magd der neuen Besitzer lebt. Nach dem Verbot der Orden werden die Karmelitinnen zunächst zu Bürgerinnen erklärt, dann aber wegen konterrevolutionärer Konspiration zum Tod verurteilt. Die Priorin geht als erste auf das Schafott, während Mère Marie, die zum Zeitpunkt der Verhaftung nicht im Kloster war, dem angestrebten Märtyrertod entgeht. Als die Nonnen, das Salve Regina singend, auf das Schafott gehen, erscheint Blanche in der Menge. Sie stimmt in den Gesang ein und betritt als Letzte das Schafott.

ZUR WERKGESCHICHTE

Die Uraufführungsproduktion (26. Jänner 1957, in italienischer Sprache) dirigierte Nino Sanzogno, die Blanche sang Virginia Zeani. Die Uraufführung der französischen Fassung am 21. Juni 1957 in Paris dirigierte Pierre Chervaux, Denise Duval sang (auf Poulencs Wunsch) die Blanche. Die Uraufführungsproduktion in der Regie von Margarethe Wallmann wurde zum internationalen Erfolg und in zahlreiche Häuser übernommen. Auch in die Wiener Staatsoper, wo das Werk am 14. Februar 1959 erstmals aufgeführt wurde (in deutscher Sprache, Dirigent: Heinrich Hollreiser, Blanche: Irmgard Seefried). Die Produktion wurde 20 Mal gespielt, letztmalig am 24. April 1964. Das war zugleich die bislang letzte Aufführung von Dialogues des Carmélites an der Wiener Staatsoper. Die Neuproduktion ist demnach zugleich die Erstaufführung der französischsprachigen Fassung am Haus.

Text Nikolaus Stenitzer