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© Victor Santiago

Unterwegs in der GEMÄLDEGALERIE

Wie nur wenige andere seiner Kollegen hat sich der italienische Dirigent Michele Mariotti – auch – einen Namen als Belcanto-Meister gemacht. Sein Staatsopern-Debüt gibt der international vielbeschäftigte Musiker nun mit der Premiere von Il barbiere di Siviglia. Warum für ihn dieses Werk keine reine Opera buffa ist, beschreibt er im Gespräch mit Oliver Láng.

Mit Rossinis Barbiere gaben Sie Ihr Debüt als Operndirigent, Sie leiteten das Werk im Laufe der letzten eineinhalb Jahrzehnte unzählige Male. Was kann Ihnen diese Oper noch verraten, was Sie nicht schon wissen? Welche Geheimnisse birgt Rossini noch?

MICHELE MARIOTTI Ja, ich habe tatsächlich mit dieser Oper debütiert, 2005 in Salerno. Seither ist viel Zeit vergangen und ich habe viele unterschiedliche Barbiere-Produktionen erlebt. Nageln Sie mich nicht fest, ich glaube, das ist inzwischen mein elfter oder zwölfter Babiere. Und dennoch bin ich jetzt gerade dabei – obwohl ich die Oper natürlich sehr gut kenne – sie erneut genau zu studieren: für Wien, für diese  Neuproduktion. Das mache ich jedes Mal, wenn ich sie wieder hervorhole und immer entdecke ich Details und Aspekte, die mir so noch nie aufgefallen sind. Im Grunde ist es bei allen Begegnungen mit der Oper eine jeweils andere Reise, die ich unternehme.

Und was haben Sie diesmal auf der Reise gelernt?

Eine Million Dinge! Vor allem aber habe ich erneut das Wichtigste entdeckt: dass es nicht nur eine Interpretation vom Barbiere gibt, einen sogenannten "richtigen" Weg, den Königsweg zu Rossini gewissermaßen, sondern sehr viele unterschiedliche. Eben: Verschiedene Reisen, verschiedene Reiserouten. Und wissen Sie was? Genau darum ist der Barbiere ein Meisterwerk. Weil er so vielgestaltig ist, ein so enormes Potenzial beinhaltet. Diese Oper kann einen auf so viele Arten ansprechen, man kann so vieles aus ihr herauslesen. Sie ist gar nicht auszuschöpfen. Selbst wenn ich sie jeden Tag und nur sie dirigieren würde, wäre es nie langweilig, sie stimuliert mich immer wieder aufs Neue. Und da sprechen wir noch gar nicht von der Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Regisseuren, die ja ebenso stets eine neue Sicht auf das Werk mit sich bringt. Das ist übrigens etwas, das mich besonders interessiert und motiviert, die szenische Interpretation durch meine Kollegen am Regiepult.

Das Meisterwerk Barbiere: Gibt es etwas, das ganz »barbierisch« ist, das diese Oper von ihren Rossini’schen Verwandten abhebt?

In meinen Augen ist dieses Werk keine reine Opera buffa, zumindest ist es nicht die reinste Opera buffa Rossinis. L’italiana in Algeri oder Matilde di Shabran – ja, Barbiere: nein. Warum? Weil das musikalische Material dieser Oper nicht homogen ist. Ich würde das Werk wie eine Ausstellung großartiger, kostbarer, aber sehr verschiedenartiger Bilder beschreiben. Jede Szene hat ihren eigenen, ganz speziellen Charakter, eine besondere Farbe, einen Stil. Man schreitet durch diese Ausstellung und erlebt eine Gemälde-Abfolge, man geht durch Stimmungen, Atmosphären, Befindlichkeiten, Darstellungen. Ein Maler hat sie gemalt, aber der Stil und die Aussage weisen nicht in eine einzige Richtung.

Das bedeutet, auch die einzelnen Charaktere werden laufend aus verschiedenen Blickwinkeln beschrieben?

Nehmen wir als Beispiel den Grafen zu Beginn der Oper. In seiner Kavatine »Ecco ridente in cielo«, die er für Rosina singt, verwendet er eine sehr poetische, gepflegte, dichterische Sprache. Ein ganz spezielles Italienisch. Aber gleich nach diesem Ständchen wechselt er seine Ausdrucksweise und wendet sie nie wieder an. Er wird zu einem durchschnittlichen Menschen, der ein gewöhnliches Vokabular einsetzt. Es sind zwei Schichten derselben Figur, man erlebt eine Mehrdimensionalität und eine Wandlungsfähigkeit. Rossini bietet damit einen sehr differenzierten Blick auf die Figur, einen, der in die Tiefe geht. Er schafft keine Schablone, sondern einen echten Charakter.

Diese Vielschichtigkeit betrifft auch die Durchlässigkeit der Grenze von Opera buffa und Opera seria? In dem Sinne, dass Rossini Elemente der einen Gattung in der anderen anwendet?

Absolut. Das Genreübergreifende ist ein ganz wichtiges Element bei Rossini und beim Barbiere. Zum Beispiel: Don Basilios Verleumdungsarie ist der dunkelste Moment der Oper, er ist absolut nicht rein-buffa, sondern konnte auch in einer Opera seria stehen. Auch die Figurenzeichnung eines Don Bartolo ragt über das einfache Buffoneske hinaus: Er ist kein tumber, klischeegeprägter Alter, ein Pantalone der Commedia dell’arte, sondern das respektierte Bürgertum, ein Mann mit Bildung, ein Arzt. Es ist nicht der Typus, der komisch wirkt, sondern es sind die Situationen, in die er gerät. Das reizt zum Lachen. Auch Rosina ist nicht nur eine Schablone, sondern weist in ihrer Charaktertiefe auf die kommende Gräfin in Figaros Hochzeit hin.

Und Figaro? Worin liegt die Mehrschichtigkeit seiner Persönlichkeit?

Er ist eine ganz besondere Figur. Er ist der Mann der neuen Zeit. Ein »Selfmademan«, der seine Karriere, sein Glück macht. Musikalisch gehört sein »Largo al factotum« zu den bekanntesten Nummern der gesamten Opernliteratur, wobei man feststellen muss, dass in diesem Falle das Orchester eigentlich die Hauptmelodie übernimmt und nicht der Sänger. 

Nicht er, sondern der vorhin angesprochene Graf Almaviva stand bei der Uraufführung im Zentrum der Oper. Das zeigt sich szenisch, aber auch musikalisch.

Und er ist immer noch das Zentrum. Der originale Titel lautete ja nicht Il barbiere di Siviglia, sondern Almaviva, o sia L’inutile precauzione. Und er hat in Summe mehr musikalische Auftritte als jede andere Figur in der Oper. Rosina und Figaro sind ihm nachgereiht. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, das Verhältnis zwischen dem Grafen und Figaro richtig zu verstehen. Figaro ist der Intelligente, wohingegen der Graf eher langsam begreift – was Figaro ja fast zum Wahnsinn treibt. Der Barbier denkt, dass er durch seine Erfindungsgabe den geheimen Schlüssel besitzt, der alle verschlossenen Türen öffnet. Dass die Ideen dann nicht so gut funktionieren, ja zum Desaster werden, steht auf einem anderen Blatt. Wir haben also, etwas vereinfacht ausgedrückt, einen Gescheiten und einen Dummen. Wie aber werden die komplexen Situationen gelöst? Letztlich durch Macht, Einfluss und Geld des Grafen. Das finanzielle und machtpolitische Vermögen sorgt für das Happy End.

Die Almaviva-Partie wird immer wieder dadurch beschnitten, dass das Tenor-Rondo am Ende der Oper, also »Cessa di più resistere«, weggelassen wird. Diesmal allerdings erklingt diese virtuose Arie.

Abgesehen davon, dass diese Arie in der Darstellung der Persönlichkeit des Grafen wichtig ist und noch einmal Inhaltliches verdeutlicht, nämlich dass Almaviva der eigentliche Protagonist der Oper ist, hat sie auch musikalisch großen Wert. Allerdings ist »Cessa di più resistere« ein zweischneidiges Schwert. Wenn ein Tenor sie nicht in einer entsprechend hohen Qualität singt, dann besteht die Gefahr, dass sie zu einem Stocken der Handlung führt. Allerdings: Wenn man einen herausragenden Tenor hat, und mit Juan Diego Flórez haben wir einen der allerbesten der Welt, dann wird dieses Rondo zu einem Feuerwerk, zu einem gesanglichen und inhaltlichen Höhepunkt, dann braucht man diese Arie unbedingt und es ist undenkbar, sie wegzulassen. 

Interessanterweise steht im Gegensatz zur Vorlage von Beaumarchais eine neu erfundene Szene am Beginn der Oper, in der die Nebenfigur Fiorello eingeführt wird. Worin sehen Sie den Sinn dieser Eröffnung?

Für mich ist diese Episode eine gelungene, augenzwinkernde szenische Einführung des Grafen. Er singt in der Dunkelheit für Rosina die wunderbare Serenade »Ecco ridente in cielo«, über die ich schon sprach, und stellt dann die Frage an Fiorello: »Siehst du sie?« Die Antwort: »Nein«. Alles, die wunderbare Atmosphäre, die aufgebaut wurde, wird in einem Augenblick zerstört. Ein Gag, oder sagen wir: Ironie. Wir stehen vor einem Adeligen, doch all seine Macht bringt ihm vorerst nichts.

Rossini schrieb die einzelnen Partien für Sängerinnen und Sänger, die er kannte und er schrieb ihnen die Rollen mehr oder weniger in die Stimmbänder. Das bedeutet aber, dass heutige Interpreten Partien singen, die womöglich Eigenheiten historischer Vorgängerinnen abbilden.

Wissen Sie, warum ich darin kein Problem sehe? Weil die Sängerinnen und Sänger der heutigen Generation einfach so gut sind, oftmals sehr viel besser als in der Geschichte. Sie können so vieles anbieten, zunächst einmal gesanglich, mit Stimme, Technik, Timbre. Daher werden sie mit Eigenheiten, die die Partien fordern, fertig. Gleichzeitig können sie (im Gegensatz zu früheren Zeiten) auch alles weitere, das man braucht, um auf einer Bühne zu stehen, anbieten. Sie wissen sich zu bewegen, zu spielen, Figuren in ihrer Gesamtheit abzubilden. Und sie können zwischen den einzelnen Repertoires, die früher doch immer wieder durch feste Grenzen voneinander getrennt waren, wechseln. Eine Sängerin, die Rossini singt, beherrscht heute auch Mozart, Händel, Verdi. Es gab einmal eine Zeit der Spezialisten, der Rossini-Spezialisten, die schienen aus einer anderen Welt zu kommen, weil sie eben so genau auf einen Bereich fokussiert waren. Heute ist das Wissen breiter gestreut – in jeder Hinsicht.

Rossini setzte seine Arien beziehungsweise Teile aus ihnen gelegentlich in unterschiedlichen Opern ein. Muss man das als Indiz nehmen, dass manches dann doch austauschbar ist?

Ja, er kopierte sich selbst, doch ich gebe zu beachten, dass es nur die reinen Noten sind, die sich wiederholen. Die Färbung, der Charakter, ihr Theater-Potenzial und ihr Einsatz, der wechselt und wird an die jeweilige Situation angepasst. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Im Finale seines Otello, vor dem Mord, hören wir das Crescendo, das Rossini auch Don Basilio in seiner Arie im Barbiere gab. Die Menschen waren empört. Wie kann das sein? Wie kann ein Buffa-Element in der Trag.die vorkommen? Doch für Rossini war es kein komisches Element, sondern es war eine schreckliche Musik. Die Streicher spielen sul ponticello, also ganz nahe am Steg, was einen metallischen, harten Klang ergibt. Genau der Situation angemessen. Also: Rossinis Musik hat kein definiertes Geschlecht, die Noten sind nicht per se komisch oder tragisch, sondern wechseln je nach dem Kontext. 

Und die Geschwindigkeit, in der er schrieb? Ist es für Sie vorstellbar, dass er in den wenigen Wochen, die er für den Barbiere benötigte, wirklich Muße hatte, dramaturgische Finessen zu erdenken?

Wenn man sich Autographe von Mozart anschaut, entdeckt man kaum Umarbeitungen, Striche oder Anpassungen. Das ist verblüffend. Wohingegen das Manuskript vom Barbiere – ich hatte es in der Hand – voller Korrekturen und Überarbeitungen ist. Rossini war kein Mozart,  er schrieb nicht alles im Kopf oder durch Gottes Hand, sondern erarbeitete sich das Ergebnis durch konsequente Auseinandersetzung mit der Materie, mit einem großen Willen zur Durchsetzung seiner Gedanken und Ideen. An der Vielzahl der Änderungen erkennen wir, wie intensiv die Arbeit war, wie genau seine Vorstellungen waren, die er zu erreichen versuchte. Das merkt man übrigens auch in der Präzision, mit der er sich an die Verknüpfung von Text und Musik machte. Faszinierend ist, wie er es schaffte, einen solchen Komplexitätsgrad und eine solche Intensität in so geringer Zeit umzusetzen!

In der mechanisch-inszenierten Rhythmik, die Rossini mitunter einsetzt, erkennen manche den Einfluss der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Können Sie dieser Sicht etwas abgewinnen? 

Mir fallen da manche Finali ein, die wie eine große Maschine losrattern. Etwa in Italiana in Algeri: Das berühmte Finale mit »Din din! Crà crà! Bum bum«. Im Barbiere gibt es diesen Effekt ebenso, wenn auch etwas weniger auffällig. Und immer, wenn ich das genannte Italiana-Finale dirigiere, denke ich sofort an Charlie Chaplin, an seinen wunderbaren Film Modern Times, an das Fließband und die riesige Maschine. Das ist zwar ein anderes Jahrhundert, aber man kann Parallelen entdecken. Vielleicht hat Rossini da eine Spur gelegt.