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SPONTANEITÄT UND FARBEN

Karten & Informationen Il ritorno d’Ulisse in patria


Ulisse ist wie L’incoronazione di Poppea ein Spätwerk Monteverdis. Wie lässt sich der Stil des Komponisten in dieser Schaffens- und Lebensphase beschreiben?

PABLO HERAS-CASADO Gegen Ende seines Lebens folgt Monteverdi einem allgemeinen kulturellen Trend in Venedig und befasst sich mit breiteren, rhapsodischen Strukturen, wobei er eklektische Elemente einsetzt und mischt, um Ideen verwirklichen zu können – und er stellt lieber Fragen, als Aussagen zu tätigen. Wir finden in seinem Schaffen mehr Impulsivität und Spontaneität. Er absorbiert alle ihm zur Verfügung stehenden Stile und schafft ein Kontinuum ohne Grenzen zwischen ihnen, passt mit enormer Flexibilität die musikalische Sprache an die dramaturgischen Notwendigkeiten an.
 

Inwiefern unterscheidet sich Ulisse von der ungefähr zwei Jahre später uraufgeführten Poppea?

PH Poppea ist eindeutig »desorganisierter«, radikaler in dem Sinne, den Sängerinnen und Sängern mehr »Redefreiheiten« zuzugestehen. Hier geht Monteverdi noch weiter, indem er den handelnden Personen mehr Freiheit für Reaktionen gewährt. Die Oper Ulisse, die einer sehr berühmten Mythos-Handlung folgen muss, hat eine klarere Dramenstruktur, auf welche Monteverdi musikalisch reagiert. Dennoch basiert – wie bei Poppea – die Auseinandersetzung trotz des »Konstruktionsaspekts« auf einer Spannungs- und konstanten Licht-/Schatten-Dramaturgie.
 

Ulisse wird etwa im Gegensatz zu Poppea und Orfeo international mitunter stiefmütterlich behandelt. Warum?

PH Vermutlich, weil Orfeo und Poppea extremer sind und daher »klarer« in ihrer Identität. Bei Ulisse ist es schwierig zu erkennen, wo die Komödie und wo die Tragödie beginnen. Die Oper ist »sfumato«, die Grenzen sind verschwommener, alles ist mehrdeutiger. Aber mitunter liegt der Grund einfach auch darin, dass es aufgrund von Moden in Bezug auf die Interpretation weniger prägende Referenzen gibt. Ulisse wurde bisher seltener gespielt und ist daher weniger vertraut. Ich bin sicher, dass sich das in Zukunft ändern wird und wir dieses geniale Meisterstück häufiger auf der Bühne sehen werden.
 

1637 wurde in Venedig das weltweit erste öffentliche Opernhaus gegründet. Ist bei Ulisse, drei Jahre später in Venedig uraufgeführt, der Einfluss dieser öffentlichen Oper spürbar? Im Gegensatz zum bislang gepflegten höfischen Musiktheater?

PH Natürlich. Es gibt zahlreiche Tanzfragmente, szenische Effekte, karikatureske Bezüge innerhalb einer ungewöhnlichen Struktur. Das führt laufend zu Überraschungen und Kontrasten, die die Aufführung beleben. Die bewegte Handlung, die Lebendigkeit der Musik, die Menschlichkeit der Figuren und die emotionale Wirkungskraft rissen das Publikum, das nicht notwendigerweise darauf vorbereitet war, Formen und Dramen-Proportionen zu genießen, mit.
 

Die erhaltene Partitur ist sehr karg, sie besteht teilweise nur aus zwei Notenzeilen. Wie erschafft man daraus eine angemessene Instrumentation?

PH Die erhaltene Notation war eine damals übliche, um Musik zu lesen und die Musiker waren natürlich in der Lage, sie unmittelbar zu spielen. Wir wissen, wie damals musiziert wurde: Monteverdi schrieb Accompagnati, Arien mit Orchester, Colla-parte-Abschnitte, Ritornelli selbst, fügte aber auch externe Stücke hinzu – oder strich wiederum ganze Szenen. Er ließ aber auch absichtlich Raum für die Musiker, die Komposition mit Ornamenten, Kadenzen, Ritornelli usw. zu »vervollständigen«. Man muss also beim Musizieren ganz im Augenblick und aufmerksam sein: Künstlerische Impulsivität und Kreativität sind für diese Musik enorm wichtig – und genau dazu lädt uns Monteverdi ein. Daher muss auch ich in dieser Produktion, mit dieser Partitur, mit diesen Musikerinnen und Musikern und mit den akustischen Gegebenheiten der wunderbaren Wiener Staatsoper spontan sein. Wir haben übrigens ein sehr mächtiges Instrument, von dem Monteverdi nur träumen konnte: einen großen Klangkörper, der es mir erlaubt, zahllose Farben und Texturen zu präsentieren. Schließlich wissen wir, dass Monteverdi für die wichtigen Produktionen und Feste große Ensembles bevorzugte.

Das bedeutet aber auch, dass Sie als Dirigent hier eine größere Rolle, quasi als »Mitschöpfer«, spielen.

PH Bis zu einem gewissen Grad muss ich das sein. Natürlich folge ich der Praxis der damaligen Zeit. Wobei die Möglichkeit, zwischen endlosen Kombinationen von Instrumenten zu wählen, zu einer bestimmten Auslegung der Komposition führt. Das gehört zum barocken Spiel. Und das Werk wird so für das Heute neu geschaffen. Es handelt sich um eine gewissermaßen gelernte und geplante Spontaneität.
 

Begründen Sie Ihre gewählte Instrumentation auch mit dem, was in anderen Werken Monteverdis aus dieser Periode zu hören ist?

PH Ja, wir kennen seine klanglichen Vorlieben und seine Freude an der Variation in der Continuo-Gruppe. So erwarb er beispielsweise zwei Psalterien für die Basilika San Marco – und darum verwenden wir sie auch. Es gibt Gemälde aus der Zeit, die verraten, welche Art von Ensemble und Instrumente er zur Verfügung hatte. Und wir haben Aufzeichnungen über die Rechnungen, die Instrumentalisten in San Marco stellten, aber auch aus den ersten öffentlichen Theatern, die Hinweise auf die Orchesterbesetzungen liefern. Hier haben wir also einen historischen Bezug, den ich als Inspiration für unsere eigene Produktion nehme.
 

Einer der beiden Regisseure der Produktion, Sergio Morabito, erzählte uns, dass Sie in der musikalischen Gestaltung auch dem szenischen Spiel große Aufmerksamkeit gewidmet haben.

PH Man muss unbedingt in Abstimmung mit der szenischen Setzung und den entsprechenden Notwendigkeiten arbeiten, denn schließlich liegt ein Dramma in musica vor. Zuerst brauchen wir einen Überblick über die allgemeine Struktur, eine Entscheidung, was wir streichen oder hinzufügen, eine Festlegung des dramatischen Rhythmus, bevor wir die Instrumentierung und Interpretation ausarbeiten können. Und letztendlich kommen zahlreiche musikalische Entscheidungen über Charakter, Tempi etc. dazu, die ich nur treffen kann, wenn ich mit der Bühne interagiere.
 

In Ulisse gibt es mehrere Ebenen: Götter, Allegorien, Menschen. Werden diese einzelnen Bereiche musikalisch unterschiedlich behandelt?

PH Ja, sie unterscheiden sich deutlich in der Art, wie sie musikalisch ausgeführt werden. Monteverdi benützte nicht nur das zu seiner Zeit vorhandene musikalische Vokabular, sondern erweiterte es auch noch unglaublich stark und erfand neue Wege, für die Gesangsstimme zu schreiben. Damit baute er die theatralen Möglichkeiten aus, überraschte und »schockierte« auch die Zuhörerschar mit Effekten und Tricks.
 

Und gibt es eine musikalische Trennung von Hauptrollen und komischen Rollen?

PH Ich bin überzeugt, dass Monteverdi nicht in diesen Kategorien gedacht hat. Die Prima donna oder der Primo tenore waren damals noch nicht »erfunden«. Jede einzelne Person hat eine große Bedeutung in dem Drama. Der Beweis: Egal wie lang die Figur sich auf der Bühne befindet, die technischen und musikalischen Anforderungen sind immer sehr hoch. Es ging vor allem um das Theater, und alles, was die Aufführung lebendig machte, war wichtig. Ulisse oder Poppea: ohne die komischen Rollen würden sie ihren theatralen Wesensgehalt komplett verlieren.
 

Wieviel Freiheit geben Sie den Sängerinnen und Sängern, etwa in Bezug auf musikalische Verzierungen?

PH Die »Freiheit« der Interpretation steht hier in einem Zusammenhang mit der damaligen Praxis der Ornamentierung. Ulisses Gesang benötigt keine Extra-Effekte, also bleiben wir bei der Hinzufügung von ein paar Trillern und Variationen in einigen Kadenzen. Und das gilt auch für den Rest der Rollen. Ganz wichtig ist, dass die Ornamentierung ohne Unterbrechung des Textflusses erfolgt.

Das finale Duett der Oper – inwiefern lässt es sich mit jenem in Poppea vergleichen? In beiden Fällen erleben wir das zentrale (Liebes-)Paar der Oper.

PH Auf den ersten Blick, in Bezug auf die Handlung, ist es vergleichbar: Das Hauptpaar beendet die Oper. In Poppea zeigt dieses Duett (das wahrscheinlich von Ferrari stammt und von Monteverdi eingefügt wurde) den klaren Triumph der Liebe – jeder Art von Liebe. In Ulisse ist dieses Duett zweideutiger. Die Textaussage ist zwar grundsätzlich positiv, aber sie meint auch: »Meine vorangegangenen Qualen führten zum Segen«, also: Glück entsteht aus Leiden. Monteverdi zeigt diese bittere Aussage durch komplexe Modulationen, asymmetrische Konstruktionen und durch eine Isolation der beiden Stimmen: erst ganz am Ende des Duetts singen Penelope und Ulisse gemeinsam. Der Eindruck ist, dass beide nicht mehr wissen, wer sie sind, aber die Kraft haben, nach vorne zu blicken. Die Musik eröffnet ihnen einen Lichtstreif am Horizont. Das weiche, schöne und zarte (wenn auch etwas rätselhafte) Ende setzt ein Fragezeichen...
 

IL RITORNO D’ULISSE IN PATRIA
2. (Premiere) / 4. / 8. / 11. / 14. April 2023


Das Gespräch führte Oliver Láng