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© Wiener Staatsoper GmbH / Ashley Taylor
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Gustav Mahler & Der Tanz

»Im siebten Himmel« war Gustav Mahler, als er an seiner 5. Symphonie arbeitete. Gezeigt hatte ihm diesen seine große Liebe und spätere Frau Alma Schindler, der er dann auch das Adagietto widmete – jenen berühmten langsamen Satz aus der zwischen 1901 und 1904 komponierten Fünften, der im Herbst 2021 für den Choreographen Marco Goecke zum Ausgangspunkt seiner ersten Zusammenarbeit mit dem Wiener Staatsballett wurde. Als Zentrum des tänzerisch wie musikalisch ebenso abwechslungsreichen wie anspruchsvollen Ballett-Triptychons »Im siebten Himmel« mit Martin Schläpfers Wiener Tanzfolge Marsch, Walzer, Polka sowie George Balanchines choreographischem Kristallpalast Symphony in C ist Marco Goeckes Fly Paper Bird vom 9. Jänner bis 13. April wieder am Spielplan der Wiener Staatsoper.

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Die Musik Gustav Mahlers hat zahlreiche Choreograph*innen zu Auseinandersetzungen auf der Tanzbühne inspiriert – in der Wiener Staatsoper waren bisher von diesen allerdings nur wenige zu sehen: Maurice Béjarts 1971 für Rudolf Nurejew und Paolo Bortoluzzi kreierte Lieder eines fahrenden Gesellen, die Nurejew zwischen 1977 und 1986 mit wechselnden Partnern auch in Wien zeigte und die 2015 und 2022 mit Friedemann Vogel auch in der Nurejew-Gala zu sehen waren, sowie Kenneth MacMillans Lied von der Erde, das von 1995 bis 1998 auf dem Spielplan im Haus am Ring stand. Außerdem fand das Adagietto aus Mahlers Fünfter 1997 Eingang in Renato Zanellas Alles Walzer zu Musik der Strauß-Familie. Neue Akzente in der Auseinandersetzung mit Mahler setzte Martin Schläpfer mit seinem Antritt als Direktor im Repertoire des Wiener Staatsballetts. Für alle Tänzer*innen seines Ensembles schuf er als sein erstes Wiener Werk die Uraufführung 4 zu Mahlers 4. Symphonie und eine Saison später konnte er mit Marco Goecke einen weiteren herausragenden zeitgenössischen Choreographen für ein Mahler-Ballett gewinnen: Fly Paper Bird.

Der gebürtige Wuppertaler, am Stuttgarter Ballett groß gewordene Marco Goecke hat in den vergangenen 20 Jahren ein erstaunliches Œuvre von um die 90 Werken vorgelegt, wurde mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet und leitet seit 2019/20 das Staatsballett Hannover. Als einer der wenigen Tanzkünstler der jüngsten Zeit ist es ihm gelungen, eine unverwechselbar eigenständige Bewegungssprache zu entwickeln. Horst Koegler sah bereits in Goeckes ersten Werken mit ihrer von einem geheimnisvollen Flattern, surrealen Zittern und beunruhigendem Vibrieren geprägten Bewegungssprache, die sich ganz auf die Oberkörper der Tänzer*innen konzentriert, während die Beine mit flinken Bewegungen und nur seltenen Sprüngen der meist huschenden Fortbewegung dienen, ein »Système Goeckien«. Aus einem geheimnisvollen Dunkel lässt Goecke seine Stücke entstehen, deren Intensität sich stets ganz direkt auf den Betrachter überträgt und diesen dabei geradezu physisch spüren lässt, wie zeitgemäß der Tanz als Sprache ist.

So auch in Fly Paper Bird, für das sich Goecke zwei Sätze aus Mahlers 5. Symphonie wählte: das Scherzo »Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz« sowie das spätestens seit seiner Verwendung in Luchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Der Tod in Venedig überpopuläre »Adagietto. Sehr langsam«: »Musik, die schon derart durch die Mangel genommen wurde, dass man ihre Schönheit gar nicht mehr erlebt«, so Goecke, den aber gerade dies interessiert, denn: »Wenn es mir gelingt, mit meinen eigenen Bildern solche Werke neu zu besetzen, kann man sie auch wieder neu hören – und neu sehen.«

Mit Fly Paper Bird steht Goecke an einem völlig anderen Punkt der Mahler-Rezeption als jene Choreographen, die in der Entdeckung des Komponisten für die Tanzbühne zunächst Pionierarbeit leisteten – über viele Jahre hinweg immer wieder auch gegen massive Widerstände. Mahler selbst hatte keine einzige Note für den Tanz komponiert und räumte ihm auch grundsätzlich in seinem Kunstverständnis keinen Stellenwert ein – weder in seiner Zeit als Kapellmeister und Operndirektor an den Häusern in Budapest und Hamburg, noch als Direktor der Wiener Hofoper, wo er während seiner Amtszeit zwischen 1897 und 1907 sogar »bewusst Entscheidungen gegen einige Ballettprojekte« fällte, zu denen immerhin – so Gunhild Oberzaucher Schüller – »Piotr Iljitsch Tschaikowskis Dornröschen, Johann Strauß’ Aschenbrödel sowie ein Werk von Alexander Zemlinsky mit einem Libretto von Hugo von Hofmannsthal« gehörten.

Umgekehrt spielte aber auch für den Tanz, der sich – seit Mikhail Fokin mit dem Ballet Blanc Les Sylphides zu Musik Frédéric Chopins die Tür zum abstrakten symphonischen Ballett des 20. Jahrhunderts aufgestoßen hatte – immer mehr das Konzert-Repertoire als Basis choreographischer Arbeit eroberte, Mahlers Schaffen zunächst so gut wie keine Rolle. Erst ab den 1960er Jahren, als jene legendäre, vor allem durch Dirigenten wie Leonard Bernstein und Rafael Kubelik geprägte »Mahler-Renaissance« einsetzte, entdeckten zunehmend auch Choreographen den Komponisten als Inspirationsquelle.

Als Kenneth MacMillan sich für eine Premiere des Royal Ballet London Das Lied von der Erde vornahm, wurde das Projekt abgelehnt mit der Begründung, Mahlers Musik sei für den Tanz nicht geeignet. John Cranko war es dann, der es 1965 MacMillan ermöglichte, seine Idee in Stuttgart zu realisieren – mit Marcia Haydée, Ray Barra und Egon Madsen. Die Wirkung war groß. Und bereits ein Jahr später war Das Lied von der Erde dann doch auch in London zu sehen. Als Eliot Feld 1967 in New York für das American Ballet Theatre At Midnight zu Mahlers Rückert-Liedern choreographierte, stand erneut die »wagemutige Musikauswahl« im Fokus der Rezensionen, ein Thema, das 1971 bei Maurice Béjarts Auseinandersetzung mit Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen zugunsten der Besetzung mit Rudolf Nurejew und Paolo Bortoluzzi in den Hintergrund trat. Nachdem Hans van Manen sechs Jahre zuvor wahrscheinlich erstmals in der Geschichte des Balletts zwei Männer in einem intimen Pas de deux hatte aufeinandertreffen lassen, schuf Béjart mit seinen Liedern eines fahrenden Gesellen eine weitere intensive Begegnungen zwischen zwei Männern: einem freiheitsliebenden Wanderer und seinem Kompagnon, von dem offen bleibt, wer dieser wirklich ist – Schutzengel oder Doppelgänger, Verkörperung des Todes oder des Schicksals oder doch nur ein Vertrauter, ein Freund?

Das Ringen mit dem Schicksal, aber auch das Zeigen von Menschen in der Krise blieb ein Thema, das viele Mahler-Choreographien bis heute durchzieht, meist gewonnen aus den Partituren des Komponisten, die auf so radikal subjektive Weise von einem Ausgesetztsein des modernen Menschen in der Welt sprechen: voller Brüche, Risse und Abgründe, voll innerer Bangigkeit, Unruhe, Zweifel und Trauer in einer Musik, in der Schönheit meist nur noch als flüchtige Imagination, berückend schöne Traumvision oder fragiles Echo eines längst abhanden gekommenen Paradieses aufscheint.

Geprägt davon ist auch jenes Werk, das als das erste Mahler-Ballett der Tanzgeschichte gilt: Dark Elegies, 1937 von Antony Tudor für das Londoner Ballet Rambert kreiert. Immer auf der Suche nach besonderer Musik – 1948 folgte für das New Yorker Ballet Theatre mit Tudors Shadow of the Wind auch eine erste Choreographie zu Das Lied von der Erde – schuf der Engländer in seiner Auseinandersetzung mit Mahlers Kindertotenliedern ein tief berührendes Ritual der Totenklage, das durch eine ganz eigene Beseelung der Gestik zu einer Wahrhaftigkeit des Ausdrucks fand, wie sie die Tanzbühne bis dahin nicht kannte.

»Mahler führt uns in Bereiche, die tief in unserem Inneren wurzeln. In seiner Musik scheint kein Eindruck menschlicher Existenz beständig. Aber auch keiner, den man jemals erlebt hat, geht dem Bewusstsein völlig verloren. Diese Gewissheit lässt mich Mahlers Musik intensiv fühlen«, schreibt John Neumeier, der als Jugendlicher von Tudors Dark Elegies zutiefst fasziniert war, allerdings vor allem von deren Choreographie, wie er in einem Interview verrät, während sein Interesse an Mahler dann als Tänzer des Stuttgarter Balletts durch die Arbeit an MacMillans Lied von der Erde geweckt wurde: »Ich tanzte in der Gruppe. Und wusste: Mahler ist meiner.« Mit geradezu enzyklopädischem Ausmaß widmete Neumeier sich in inzwischen 15 Balletten in seiner typischen, mit narrativen Elementen angereicherten symphonischen Arbeitsweise seither dem Schaffen des Komponisten, angefangen mit dem 1974 für eine Gala zum Gedenken an den gerade verstorbenen John Cranko zum 4. Satz der 3. Symphonie für Marcia Haydée, Richard Cragun und Egon Madsen kreierten Trio Nacht. Ein Jahr später entstand dann für das Hamburg Ballett die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler, gefolgt von Choreographien zu den Liederzyklen, allen weiteren Symphonien (bis auf die 2. und 8.) bis hin zu Purgatorio (2011) zum Fragment der 10. Symphonie in Kombination mit Liedern Alma Mahlers sowie – auch im Rückblick auf die intensive Mahler-Erfahrung in der Arbeit mit MacMillan – Das Lied von der Erde (2015), letzteres kreiert für das Ballet de l’Opéra de Paris.

Unter dem Titel 3Abschied setze sich mit dem Lied von der Erde 2010 auch Anne Teresa De Keersmaeker auseinander – und fand zu einem völlig anderen Zugang zu dieser Komposition als Tudor, MacMillan und Neumeier in ihren Balletten. Angeregt hatte De Keersmaeker ein Gespräch mit Daniel Barenboim, der sie eindringlich davor warnte, Mahlers Liederzyklus in die Sprache des Tanzes zu übertragen, denn dieser handle schließlich vom Sterben, also vom Verschwinden des Körpers. Genau dies aber reizte die belgische Tanzkünstlerin, die schließlich im Brüsseler La Monnaie zusammen mit Jérôme Bel und den Musiker*innen des Ictus Ensembles eine Performance auf die Bühne brachte, in der sie das letzte Stück des Lieds von der Erde aus drei verschiedenen Perspektiven untersuchte. Über alle »körperlichen Grenzen hinaus in die Musik« stürzend folgen auf eine Art Meisterklasse in Musikvermittlung verschiedene Arten des »Sterbens« und schließlich De Keersmaekers Versuch, Mahlers Abschied selbst zu singen – das Wissen, als nicht ausgebildete Sängerin daran zu scheitern, inkludierend unter der Setzung: »Wie Mahler im Angesicht des Todes haben wir vor nichts Angst.« Zu erleben war ein Endspiel, in dem das Verletzliche, Fragile und Unmaskierte, das der Musik innewohnt, auf radikale Weise zum Vorschein kam, aber auch das Publikum an seine Grenzen führte, genauso wie 2015 in Alain Platels Bewegungsfantasie Nicht schlafen: Zwischen Skulpturen von Pferdekadavern der Künstlerin Berlinde de Bruyckeres angesiedelt eine choreographische Häutung und verstörendes, jede Utopie negierendes Mahnmal des Schmerzes angesichts der Krise eines ganzen Zeitalters, zu dem Mahlers Musik nur noch fragmentarisch oder destilliert in den Soundscapes von Steven Sprengels den Soundtrack bildet.

In ihrer vollen Gänze erklangen dagegen die beiden Symphonien, mit denen sich Martin Schläpfer zuletzt auseinandersetzte: Mahlers Siebte, die dem Choreographen zur Partitur seines 2013 für das Ballett am Rhein entstandenen abendfüllenden Tanzstückes 7 wurde, sowie Mahlers Vierte, mit der Schläpfer im Herbst 2020 seine erste Arbeit für das Wiener Staatsballett schuf – zwei großdimensionierte Werke, in denen der Choreograph seine eigenen Bildwelten neben die Musik stellt und doch alles aus Mahlers Partituren schöpft. Sagte dieser einmal: »Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen«, so wurde Martin Schläpfer die Welt zu einer Bühne, auf der es die Herausforderungen des Lebens zu verkörpern gilt. In 7 erscheint eine auf Heimat ausgerichtete Wanderung der Erfahrung des Vagabundierens nicht mehr entgegengesetzt, sondern kommt in ihr zu sich selbst; 4 spiegelt dagegen die Zerbrechlichkeit des Daseins, wurde aber auch als »Entwurf gesellschaftlicher Bewegung« und »Metapher auf die vielschichtigen Energien der sozialen Kommunikation«, so Helmut Ploebst, gelesen.

Das Repertoire des Wiener Staatsballetts ist mit Martin Schläpfers 4 sowie Marco Goeckes Fly Paper Bird um zwei gewichtige Mahler-Choreographien reicher. Beiden ist es dabei gelungen, nicht nur ihre eigenen Tanzwelten auf die Bühne zu bringen, sondern im Sehen dieser auch Mahlers Musik »neu hören« zu lassen. Entwickelt Goecke in Fly Paper Bird zum »Stürmisch bewegt. Mit größter Vehemenz« der Fünften zunächst mit den gleichsam in Panik versetzten Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts einen verstörend-dystopischen Entwurf einer Welt in Katastrophenstimmung, so keimt zu Worten Ingeborg Bachmanns der Samen einer Hoffnung: wenn am Ende des Stückes der monumentale, zunächst wie erschöpft auf dem Boden liegende Vogel, der den Bühnenraum bestimmt, abzuheben beginnt, legt sich auch unter der Haut der Tänzer*innen jene ihre Körper erbarmungslos durchzuckende Anspannung, die so typisch für Goeckes Bewegungssprache ist. Was mit den letzten Tönen von Mahlers Adagietto schließlich zu Ende geht, schüttelt der Zuschauer mit dem Aufstehen aus dem Theatersessel nicht ohne weiteres ab. Wie De Keersmaeker in ihrer Mahler-Recherche weiß aber auch Goecke: »Tanz ist nichts anderes, als das Leben zu bejahen [...] – das Leben in seinem Absurden, seinem Schönen, seinem Traurigen. Es gibt kaum eine Metapher, die mehr gefüllt ist mit Energie als der Tanz. Tanz ist das Gegenteil von Tod.«

Text Anne do Paço


IM SIEBTEN HIMMEL

9. / 12. / 20. Jänner / 3. / 10. / 13. April 2023

Marsch, Walzer, Polka

Musik Johann Strauß (Vater & Sohn), Josef Strauß

Choreographie Martin Schläpfer

Kostüme & Bühne Susanne Bisovsky

Licht Robert Eisenstein

Fly Paper Bird

Musik Gustav Mahler

Choreographie Marco Goecke

Bühne & Kostüme Thomas Mika

Licht Udo Haberland

Symphony in C

Musik Georges Bizet

Choreographie George Balanchine

Einstudierung Patricia Neary

Musikalische Leitung Patrick Lange

Solisten & Corps de ballet des Wiener Staatsballetts

Orchester der Wiener Staatsoper