Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik
© Fernando Sancho

EINE NEUE kompositorische REALITÄT

Vor ziemlich genau einem Jahr feierte der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado mit der Premiere von »L’incoronazione di Poppea« seinen fulminanten Einstand an der Wiener Staatsoper. Nun setzt er mit der Orfeo-Erstaufführung im Haus am Ring die Monteverdi-Trilogie fort.


Inwieweit ist zu spüren, dass Monteverdi in Orfeo von seinen Madrigal-Kompositionen herkommt?

PABLO HERAS-CASADO Das Madrigal ist eine Art »Pro- fanierung« religiöser Musiktradition, bei der die Alltagssprache (und entsprechende Themen) in polyphoner Schreibweise verwendet werden. Das spiegelt unmittelbar die neue Weltanschauung der Renaissance wider. Monteverdi hat diese sehr spezielle und vielgestaltige Gattung häufig verwendet und dabei vor allem ihre Theatralik und ihr illustratives Potenzial entwickelt. In gewissem Sinne kann man daher Orfeo, insbesondere den Chören dieser Oper, sehr wohl eine Kontinuität des madrigalistischen Ausdrucks bescheinigen.


Wodurch unterscheidet sich Monteverdi im Orfeo von den davorliegenden ersten Opern-Versuchen der Florentiner Camerata? Was hat er übernommen?

PABLO HERAS-CASADO In Florenz wurde der sogenannte »Stile recitativo« entwickelt, der der mittelalterlichen Troubadour-Tradition folgt: Eine einzelne Gesangstimme, die von Instrumenten begleitet wird, erzählt, bestimmten deklamatorischen Mustern folgend, eine Geschichte. Jacopo Peri, einer der führenden Köpfe der Camerata, schrieb 1600 seine Euridice, ein Werk, das sicherlich das Orfeo-Projekt direkt inspirierte. Monteverdi verwendet aber in Orfeo eine so präzise Instrumentierung und schreibt so ausgefeilte Rezitative, dass er das florentinische Konzept (das mehr der Gelegenheits- und Praxistradition verpflichtet war) zu einer echten kompositorischen Realität weiterentwickelte.


Welche sonstigen Inspirationsquellen lassen sich ausmachen – inhaltlich wie musikalisch? Im zweiten Akt sind sogar außeritalienische Einflüsse zu finden: etwa französische Airs de Cour. Warum?

PABLO HERAS-CASADO Die Geisteswelt des französischen Hofes mit all seinen Ausprägungen hatte – von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – eine starke Signalwirkung in ganz Europa. Der französische Hof symbolisierte Raffinesse und Geschmack und konnte auf geradezu perfekte Art und Weise feierliche, monumentale oder idyllische Festivitäten ausrichten. Er wurde eindeutig zum Vorbild für alle europäischen Höfe. Die Einbindung der so entstandenen Musik, der Kostüme oder Tänze in andere, neue Ausdrucksformen war auch eine Möglichkeit, sich von den lokalen Volkstraditionen abzugrenzen.


Woher kommt der Gedanke, Instrumente bzw. Instrumentengruppen bestimmten Personen oder Zuständen wie Leben und Tod zuzuordnen? Hat Monteverdi dies hier bei Orfeo erstmals praktiziert? Wie viel in puncto Orchesterbehandlung entspricht der damaligen Tradition? Wie viel ist von Monteverdi erfunden worden?

PABLO HERAS-CASADO Schon in der Antike konnten bestimmte Instrumente mit Situationen, Emotionen oder Erzählmomenten in Verbindung gebracht werden. Aber in Orfeo bietet Monteverdi eine sehr klare Orchestrierung an – die in unserer kritischen Partitur-Ausgabe übrigens als fakultativ und nicht als ausschließliche Möglichkeit vorgeschlagen wird. Diese klare Orchestrierung, das Bedürfnis nach einem konkreten Ausdruck, kann als ein erster Schritt zu dem angesehen werden, was wir heute »Orchestrierung« nennen.


Kann man Orfeo als Synthese aus unterschiedlichen Elementen bezeichnen: Tragödie, höfisches Fest, Intermedien? Wie sieht der formale Aufbau von Orfeo aus?

PABLO HERAS-CASADO Auf jeden Fall haben wir eine Mischung vor uns, in der alle Zutaten ziemlich deutlich enthalten sind, wobei die Form der Tragödie den Rahmen absteckt: Die Szenerie ist sehr wichtig (wir wissen, dass die Platzierung der Musiker ein nicht zu unterschätzender Aspekt war und dass es bei der Uraufführung Probleme mit einer ausgetüftelten Bühnenmaschinerie am Ende des letzten Aktes gab), polyphone Elemente, Rezitative, Tänze, instrumentale Ausführungen, extrem ausgestaltete Bühnenfiguren. Die Tragödie ist somit letztlich ein Vorwand, um ein sehr ausgefeiltes höfisches Fest zu veranstalten und gleichermaßen ein dramatisch-musikalisches Bekenntnis abzugeben.


Darf man Orfeo als ein Frühwerk Monteverdis bezeichnen – zumindest ist es ja eine andere Schaffensperiode als Poppea?

PABLO HERAS-CASADO Ja, absolut. Ich würde sagen, dass Orfeo in gewissem Sinne eine Art Synthese des »Renaissance-Monteverdi« ist. Eine gute Synthese, weil sie neue Türen öffnet und beweist, dass Musik für diese Art von Ausdruck neue Regeln braucht – die sogenannte »seconda pratica« als Beginn des barocken Ausdrucks. Aber es wäre schwierig, die besondere Stellung des Orfeo zu verstehen und wertzuschätzen, wenn man nicht bedenkt, was davor schon existiert hat, worauf Orfeo rekurriert und reagiert. Poppea ist das Ergebnis eines völlig anderen Kontextes.


Und darum tauchte in der früheren Literatur gelegentlich der Vorwurf auf, dass Monteverdi die musikalische Individualisierung der Personen in Poppea klarer ausgefeilt hätte als in Orfeo?

PABLO HERAS-CASADO Die Situation war eine gänzlich andere. Poppea steht in direkter Verbindung mit dem venezianischen Drama, Orfeo hingegen ist der musikalische Ausdruck eines literarischen Textes. Die völlig unmoralische Geschichte der Poppea geht bedenkenlos auch in Richtung Karikatur und lebt von Kontrasten, Orfeo fokussiert nicht auf die einzelnen Charaktere, sondern sucht nach Einheit und Fluidität, verfolgt eher das in sich abgeschlossene fertige Ganze. Ich denke, dass es eigentlich unmöglich ist, die zwei Werke in ihrer dramatischen Erscheinungsform miteinander zu vergleichen, in beiden kommt genau die jeweils gesetzte Zielsetzung ideal zum Tragen.


Auf jeden Fall gab es eine Entwicklung Monteverdis von Orfeo bis zu Ulisse und Poppea. Kann man Poppea als reiferes Werk bezeichnen als Orfeo? Wo liegen die Besonderheiten, die Vorzüge im Orfeo?

PABLO HERAS-CASADO Reife ist ein komplexer Begriff. Sagen wir, dass Orfeo ein reifes Stück ist und dass Monteverdi ein reifer Mann war, als er Il ritorno d’Ulisse in patria und Poppea komponierte. Orfeo ist kontrollierter, in einem gewissen Sinn »klassischer«, ein Werk, mit dem Monteverdi eine Botschaft vermitteln will – eine typische Haltung eines jungen Künstlers. In Ulisse und Poppea kämpft Monteverdi nicht um etwas speziell Be- sonderes, er ist sicherlich weiser geworden und weiß, dass die Dinge nicht immer kontrolliert werden müssen, er lässt die Stücke sich selbst entwickeln. Das bedeutet nicht, dass er sich we- niger »kümmert«, er vertraut einfach mehr auf die theatralische Situation. Jede Lebensphase hat also ihre Vorteile.


Wir haben in Orfeo mehr Instrumentalmusik, mehr Chöre als in Poppea – ist Orfeo gar eine andere Gattung als Poppea? Was bedeutet das für den Dirigenten?

PABLO HERAS-CASADO Eigentlich wissen wir im Zusammenhang mit Orfeo einige Dinge (und 400 Jahre später hilft dieser Umstand), bei Poppea müssen wir fast alles verstehen (und 400 Jahre später ist das ziemlich schwierig). Nun hat man mit dem, was wir scheinbar wissen, vorsichtig zu sein. Selbst in den präzisesten Partituren gibt es immer viel Raum für Zweifel. Das ist ein Teil der Kunst, niemand hat eine Wahrheit gefunden... Bei Orfeo ist es für den Dirigenten vorrangig, den autorisierten, »klassischen« Aspekt des Stückes widerzuspiegeln, ohne jedoch die Flüssigkeit und Sinnlichkeit des Textes und der Musik zu stören, während man bei Poppea das zwanglose Wesen des Werkes bewahren muss.


Als Monteverdi Poppea komponierte, stand ihm in San Marco ein gewaltiger Orchesterapparat zur Verfügung. Bei Orfeo sah die Ausgangslage noch ganz anders aus – der Raum der Uraufführung war ja nicht so groß. Was bedeutet das für Wien, für die Instrumentation, für die Orchestergröße?

PABLO HERAS-CASADO Im Falle von Orfeo war zwar der Uraufführungsraum in der Tat klein, nicht aber das Orchester: 39 Instrumente, die von mindestens 25 oder 30 Musikern gespielt wurden! Ein Drittel des Platzes war also für die Musiker reserviert. Stellen Sie sich vor, wie es in der Wiener Staatsoper aussehen würde, wenn wir dieses Verhältnis einhalten würden...


Die Gonzaga-Fanfare, also gewissermaßen eine Art Ouvertüre, wurde bei der Uraufführung mit Dämpfer gespielt.

PABLO HERAS-CASADO Monteverdi schlägt in der Partitur vor, das Stück mit Dämpfer, also con sordino zu spielen – und das in einer anderen Tonart, die für die Instrumente leichter zu spielen war. Möglicherweise schrieb er die Dämpfer vor, weil diese Toccata ansonsten zu laut für jenen kleinen Raum gewesen wäre, in dem Orfeo uraufgeführt wurde. Mittlerweile sind wir an diese besondere Klangfarbe gewöhnt und führen es daher in der Regel mit den Sordini auf. Aber letztlich sind beide Optionen – mit und ohne Dämpfer – durchaus möglich.


Was bedeutet der von Monteverdi angesprochene Unterschied zwischen »Parlar cantando« und »cantar parlando« konkret?

PABLO HERAS-CASADO »Parlar cantando« bezieht sich direkt auf das Rezitativ, das den Gesang benutzt, um das Verständnis einer Geschichte zu fördern, und die »taoistische« Umkehrung »cantar parlando« soll an die deklamative Funktion der Musik erinnern, wobei Monteverdi sich den Regeln der »prima pratica« widersetzt: Harmonie, Klang und Farben müssen die Folgen einer Ausdrucksnotwendigkeit sein. Diese Klassifizierung darf also nicht wertend verstanden werden. Nach Zarlinos Traktat kämpft Monteverdi eindeutig für die Subjektivität von Musik.


Inwieweit ist sowohl die »prima pratica« wie die »seconda pratica« in Orfeo zu finden?

PABLO HERAS-CASADO Orfeo illustriert das Wechselspiel dieser beiden Kompositionsrichtungen auf perfekte Weise. Die Traditionen sind da, aber das aus diesen resultierende Ergebnis trägt sozusagen eigenständige Früchte.


»Possente spirto« gibt es in zwei Fassungen. Welche wird aufgeführt und warum?

PABLO HERAS-CASADO Eigentlich handelt es sich nicht wirklich um zwei Versionen: Monteverdi veröffentlichte Ver- zierungen der Arie, wahrscheinlich, um den Sängern die möglichen musikalischen Freihei- ten während einer Aufführung anzudeuten. Da die verzierte Version offensichtlich komplexer und damit herausfordernder ist, wird sie heute eher aufgeführt. In Wahrheit geht es aber bei diesen Verzierungen um den Gedanken der Aus- schmückung, also sollte der Sänger zusammen mit dem Dirigenten seine eigene Interpretation entwickeln. Sie werden also selbst sehen, was in Wien passiert.


Wo liegt der qualitative Unterschied zwischen Alessandro Striggio, dem Textdichter von Orfeo und Giovanni Francesco Busenello, jenem von Poppea?  Was unterscheidet die beiden? Warum hat Monteverdi in das Libretto von Orfeo eingegriffen?

PABLO HERAS-CASADO Die Komponisten haben jahrhundertelang häufig in die Libretti eingegriffen. Goldoni sagte einmal, dass Vivaldi keine Skrupel hatte, eine Handlung des hochgeschätzten Apostolo Zeno zu »massakrieren«. Natürlich besitzt die Zusammenarbeit mit Striggio und Busenello ihre jeweilige Besonderheit, aber gerade die diesbezüglichen Unterschiede spiegeln nur wider, wie sehr Musik, Bühnenbild und Text voneinander abhängen und das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit sind. Striggio kommt aus dem Milieu der Librettisten und Musiker und hält sich an die Raffinesse und Klarheit der Renaissance-Literatur, während Busenello als Mitglied der römischen Accademia degli Umoristi und der venezianischen Accademia degli Incogniti viel pragmatischer und direkter mit den Theatertraditionen verbunden war.


Carl Orff und andere Komponisten des 20. Jahrhunderts ließen sich viel eher von Monteverdis Orfeo, Arianna und Balle delle Ingrate inspirieren als von Poppea oder Ulisse. Warum?

PABLO HERAS-CASADO Ich denke, dass die Dramaturgie der Poppea eindeutiger mit der Entwicklung der Oper im 18. und 19. Jahrhundert verbunden ist. Orfeo ist eher eine Entwicklung des Madrigals. Vom rein musikalischen Gesichtspunkt aus bin ich jedoch der Meinung, dass es für Komponisten wie Carl Orff – der noch nicht über die Mittel verfügte, die für eine historische Aufführung notwendig waren – viel einfacher war, sich der früheren Periode objektiv zu nähern, da die Partitur von Orfeo sehr präzise und fein gearbeitet ist.


Sind Monteverdis Erfahrungen aus dem Feldzug gegen den Angriffskrieg der Osmanen in Ungarn, an dem er teilnahm, musikalisch in seinen Werken festzumachen?

PABLO HERAS-CASADO In gewisser Weise beeinflusst alles, was wir erleben, unsere Verhaltensweisen. In diesen Zeiten haben die zahlreichen Militärkampagnen, die nationale Traditionen oder exotische Volksmusik verbreiteten, sicherlich zur ästhetischen Entwicklung beigetragen. Und wir können sicher sein, dass Monteverdi, der die Möglichkeiten von Harmonie und Rhythmus so weit geöffnet hat, sich keiner Klangerfahrung verschlossen hat. Auf jeden Fall ist die wunderbare Moresca am Ende der Oper natürlich ein klares Beispiel für diesen Einfluss!


Das Gespräch führte Andreas Láng