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© Yan Bleney

»Eine der interessantesten Charaktere des Opernrepertoires«

Gerade eben hat die australische Sopranistin Nicole Car gemeinsam mit ihrem Ehemann Etienne Dupuis eine erfolgreiche Eugen Onegin-Serie an der Wiener Staatsoper gesungen – sie selbst war schon bei der Premiere 2020 die Tatjana und sang auch die Marguerite in Faust. Nun wird sie am 21. Mai zum dritten Mal in einer Staatsopernneuproduktion die zentrale Hauptpartie verkörpern – diesmal die Blanche in Poulencs Dialogues des Carmélites.


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Was hat es mit der Angst der Blanche auf sich? Ist ihr Eintritt ins Kloster der Karmelitinnen als Flucht zu verstehen, als Therapie oder als Suche nach dem Weg zur Wahrheit?

NICOLE CAR Ich denke, alles und nichts davon. Sie hat unbeschreibliche Angst vor dem Tod, vor dem Leben, vor allem und vor jedem. Somit ist das Kloster sicherlich ein Ort der Zuflucht für Blanche. Zugleich ist sie voller Hoffnung, dass sie einen Weg finden wird, ebendiese Ängste zu überwinden. Dass ihr die Kirche helfen wird, dass die Karmelitinnen ihr helfen werden, dass die anderen Frauen ihr helfen werden. Es ist schon interessant: Da wächst eine junge Frau ohne jeden weiblichen Einfluss auf – ihre Mutter starb bereits kurz nach Blanches Geburt – und dann kommt sie mit einem Mal in diese Gruppe von Frauen mit ihren so unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Wahrscheinlich hofft sie tatsächlich, im Kloster, in dieser Gemeinschaft eine Form der Wahrheit zu finden.


Aber könnte Blanche mit einem einzelnen Menschen eine Beziehung, eine Ehe eingehen? Oder wäre das bei ihr undenkbar?

NC Nein, das glaube ich nicht. Sie ist so unausgeglichen – man muss sich nur die gegensätzlichen Facetten ihrer Persönlichkeit ansehen. Nein, eine Beziehung wäre eine Katastrophe... für sie und für den anderen.
 

Warum entwickelt Blanche so eine Panik, als Constance vorschlägt, ihr Leben Gott für die sterbende Priorin anzubieten?

NC Weil Blanches wesentlichste Angst eben jene vor dem Sterben ist. Ihre Urangst. Die Angst vor dem Unbekannten. Das ist heute, das war zu allen Zeiten, bei vielen Menschen nicht anders: Was passiert danach? Interessant im vorliegenden Fall ist aber, dass diese Angst im unmittelbaren Umfeld der Religion so ein Thema wird – schließlich sind es gerade Religionen, die uns vermitteln, dass es ein Leben nach dem Tod gibt und dass der Tod nur einen Durchgang darstellt. Ihre Mitschwester Constance beispielsweise glaubt fest an dieses Weiterleben, alle Nonnen glauben daran. Nur Blanche hat Angst vor dem Ungewissen.


Zunächst flieht Blanche, aber am Ende eilt sie freiwillig auf das Schafott: Wie kommt es zu ihrer endgültigen Entscheidung, doch den Opfertod zu sterben? Reift diese Entscheidung Stück für Stück in ihr heran? Was gibt den Ausschlag? Der Tod des Vaters? Eine besondere Erkenntnis? Glaubt sie, dass der Tod weniger furchtbar ist als das Leben?

NC Nein, am Ende erkennt sie, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. Sie ringt sich nach und nach zu dieser Erkenntnis durch. Der Tod ihres Vaters, sein Gang zur Guillotine erschüttert sie natürlich bis ins Mark, ebenso der Tod der alten Priorin Croissy. Dabei zu sein, wenn jemand anderer vor den eigenen Augen vergeht, macht einfach etwas mit dem Betreffenden. Und so akzeptiert sie schließlich, auch wenn sie weiterhin gegen ihre Angst vor dem Tod ankämpfen muss, dass dieser ein Teil des Lebenskreislaufes ist. Und letztlich ist es für sie wichtiger, mit ihren Mitschwestern zusammen sein zu dürfen, als alleine zu überleben. Außerdem dürfen wir eines nicht vergessen: Es ist Revolution, Blanche weiß, dass ihre Tage angezählt sind, dass es für sie früher oder später ohnehin keinen anderen Ausweg gibt als den Tod. Also will sie zu ihren eigenen Bedingungen gehen.

Aber glaubt sie wenigstens zum Schluss, dass etwas nach dem Tod kommt?

NC Das weiß ich noch nicht. Es bleiben so viele unbeantwortete Fragen, wenn es um Blanche geht. Das macht sie ja zu einer der interessantesten Figuren im Repertoire. Es ist unmöglich zu dem Punkt zu gelangen, an dem man sagt: Aha! Das hat Blanche definitiv gedacht oder gewollt. Ich würde es jedenfalls gerne hoffen, dass sie an ein Jenseits glaubt, dass sie glaubt, mit ihrer Familie, ihrer Schwestergemeinschaft wiedervereinigt zu werden.

Das Kloster ist somit eine Art Familie für sie?

NC Absolut.
 

Welche der Mitschwestern hat den größten Einfluss auf sie und warum?

NC Gleich mehrere von ihnen und das aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst Constance, sowohl im positiven wie im negativen Sinn: Sie ist sehr geerdet und lenkt den Blick, wenn alle aufgelöst den Halt zu verlieren drohen, zurück auf unmittelbare praktische Fragen. Zugleich ist Blanche diese Energie, dieses Wesen der Constance sehr fremd und unbegreiflich. Ohne Zweifel fühlt sie sich eher zur alten Croissy hingezogen, die eine Art Mutterersatz für sie darstellt. Ambivalent ist das Verhältnis hingegen zu Mère Marie: Deren Strenge, Härte und Art zu denken Blanche gleichermaßen anzieht und abstößt. Alles in allem glaube ich, dass Blanche sich wünscht, einer oder mehreren dieser Mitschwestern zu ähneln, da sie über ihre eigene Person so sehr im Ungewissen ist.


Was unterscheidet ihren mehr oder weniger freiwilligen Opfertod von einem Selbstmord?

NC Was ist der Unterschied zwischen Märtyrertum und Selbstmord? Nun, es gibt keinen großen Unterschied, außer, dass man sein Leben im ersteren Fall für eine größere Sache opfert. Ich glaube, dieses spezielle Martyrium der Blanche zeichnet aus, dass sie nicht in den Tod geht, um dem Leben zu entkommen. Sie tut es, um nach einem anderen Leben zu suchen.
 

Papst Pius X. hat alle Karmelitinnen dieses Klosters, die damals in den Tod gegangen sind, seliggesprochen – damit befinden sie sich auf einer Vorstufe zur Heiligkeit. Ist Blanche eine Heilige?

NC Nein. Aber ich glaube nicht, dass es überhaupt Heilige gibt, die wirklich heilig sind. Jeder Mensch ist fehlbar und selbst der heiligste Heilige hat seine Schwächen. Andererseits macht uns Menschen gerade das so liebenswert: Dass wir trotz unserer Fehler auch Großartiges zu leisten imstande sind. Ich bewundere diese Karmelitinnen, die offensichtlich sehr fest an ihre Sache glauben. Und was sie durchmachen mussten, ist schrecklich, furchtbar! Dennoch: Entweder es gibt keinen einzigen Heiligen oder lauter Heilige. (lacht)
 

Haben Sie sonst schon etwas von Poulenc gesungen?

NC Nein. Und das bereue ich wirklich... obwohl, es stimmt nicht ganz: Einige seiner Lieder standen schon auf meinen Programmen. Die Musik ist jedenfalls wunderbar! Ich liebe jeden Moment, jeden Takt dieser Oper. Alles ist vom Komponisten gut durchdacht, jedes Wort wird durch die Musik so unvergleichlich ausgedrückt, dass man den Text eigentlich gar nicht verstehen muss, um den Sinn einer Passage trotzdem zu erfassen.


Wie sängerfreundlich ist Poulenc? Merkt man, dass er von Stimmen eine Ahnung hat?

NC Auf jeden Fall. Hätten Sie mir diese Frage allerdings vor sechs Monaten gestellt, hätte ich sie wahrscheinlich verneint. Es braucht einfach Zeit, um in seine Musiksprache hineinzufinden. Hinsichtlich der Tessitura und des Melodieverlaufs ist meine Partie geradezu ein Vergnügen. Was aber schwieriger ist – offenbar ging Poulenc davon aus, dass Sängerinnen und Sänger sehr klug sind – dass wir an vielen Stellen durch unsere Melodien gewissermaßen die Harmonien vorwegnehmen, die im Orchester erst verspätet einsetzen. Wir haben also nicht das Schema Bellini, Donizetti und Verdi vor uns, bei dem das Umtata-Umtata im Orchester die Harmonie vorgibt, sondern die umgekehrte Situation. Die einzelnen Töne der Gesangslinien scheinen aus dem Nichts zu kommen. Natürlich gibt es in der Zeitgenössischen Musik Herausforderungen die weit über diese Schwierigkeit hinausgehen, aber auch die eben beschriebenen in den Carmélites sind schon nicht ganz einfach.


Und wie lange dauerte es, dieses Werk einzustudieren?

NC Wie immer hat man natürlich nie so viel Zeit, wie man möchte. Aber in den vergangenen vier, fünf Monaten konnte ich mich sehr intensiv mit der Partie beschäftigen. Dennoch ist selbst jetzt in der Probenphase der Klavierauszug immer in Reichweite. Wenn ich plötzlich eine Unsicherheit verspüre – und das kommt noch regelmäßig vor – wird sofort nachgelesen. Dass ich mit der französischen Sprache vertraut bin, hilft mir natürlich. Andererseits wirkt die Wortwahl manchmal recht archaisch, man würde oft gar nicht annehmen, dass das Libretto im 20. Jahrhundert entstanden ist. Es braucht also seine Zeit, um sagen zu können: Ich beherrsche die Partie. Aber ein paar Wochen haben wir ja bis zur Premiere noch vor uns. (lacht)


DIALOGUES DES CARMÉLITES
21. / 24. / 27. / 30. Mai / 2. Juni 2023


Das Gespräch führte Andreas Láng