Cookie-Einstellungen

Dieses Tool hilft Ihnen bei der Auswahl und Deaktivierung verschiedener Tags / Tracker / Analysetools, die auf dieser Website verwendet werden.

Essentiell

Funktional

Marketing

Statistik
© Marco Borggreve

DER WEG IST DIE KATHARSIS


Bertrand de Billy ist der Wiener Staatsoper seit mehr als einem Vierteljahrhundert – beziehungsweise durch fast 250 Vorstellungen – eng verbunden. Ihn, den großen Anwalt der Musik Francis Poulencs mit der musikalischen Leitung der Neuproduktion von dessen Dialogues des Carmélites zu betrauen, lag somit auf der Hand. Nach einer der ersten Orchesterproben für die bevorstehende Premiere sprach er mit Andreas Láng über dieses besondere Werk, das seit rund 60 Jahren im Repertoire der Hauses gefehlt hat und hier überhaupt zum ersten Mal auf Französisch gebracht wird.

Zum Aufwärmen vielleicht ein kurzer Überblick: An welchen Bühnen haben Sie die Dialogues des Carmélites schon dirigiert?

BERTRAND DE BILLY Da gab es tatsächlich einige: Zunächst im Theater an der Wien mit dem ORF Radiosymphonieorchester – von dieser Produktion Robert Carsens existiert sogar eine Einspielung. Der Erfolg war so groß, dass es einige Jahre später zu einer nicht geplanten Wiederaufnahme kam. Meine zweite Auseinandersetzung fand dann an der Bayerischen Staatsoper statt, die aber leider von den ungerechtfertigten Angriffen gegen die wunderbare Regie Dmitri Tcherniakovs etwas überschattet war. Gerade eben, also im Jänner, leitete ich eine von John Dexter inszenierte Aufführungsserie an der New Yorker Met – und jetzt folgt endlich die Wiener Staatsoper. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber es gibt Werke, von denen fühlt man sich von Anfang an magnetisch angezogen und bei mir ist dies mit den Dialogues des Carmélites der Fall. Das Stück, das ich als Poulencs musikalisches Testament ansehe, lässt mich einfach nicht mehr los, ich bin sogar überzeugt, eine lebenslange Beziehung mit ihm eingegangen zu sein. So hoffe ich zumindest, da diese Partitur mir jedes Mal neue Facetten ihres Reichtums offenbart. 

Dieser Reichtum zeigt sich auch daran, dass sich das Stück keinem Genre ausschließlich zuordnen lässt.

BB Absolut. Es erlaubt die unterschiedlichsten Zugänge und kann auch das Publikum auf vielerlei Weise abholen. Dialogues des Carmélites ist keinesfalls nur eine politische, nur eine historische, nur eine psychologische oder religiöse Oper. Gerade die faszinierende Rätselhaftigkeit des zentralen Charakters der Blanche, mit der sich Poulenc bekanntlich ebenso identifizierte, wie Gustave Flaubert mit der Madame Bovary, unterstreicht die Komplexität der Oper überdeutlich. Daher gibt es meines Erachtens nichts Verkehrteres, als zu versuchen, diese junge Frau auf analytische Weise zu dechiffrieren. Man kann ihr Leben begleiten, man kann ihrem Denken, ihren Gefühlen nachspüren, dennoch wird sie einen immer neu überraschen. Aber auch die übrigen Figuren enthüllen ihr Inneres nur peu à peu und ebenfalls nie vollständig. Sehr oft wird das Wesentliche, die Wahrheit gar nicht ausgesprochen, sondern nur vom Orchester erzählt, manchmal sind es nur ein, zwei Takte, ein angerissenes Motiv, das uns in die Tiefe der Seelen blicken lässt. Gelegentlich kann ein wunderschönes, innig-süßes Aufwallen im bewussten Kontrapunkt zum Drohenden, zum Traurigen, zum Schrecklichen stehen, das hereinzubrechen droht – einem verzweifelten Versuch gleich, das Dunkle übertönen zu wollen, gegen das die Sängerinnen anzusingen haben. Schon der fröhliche Beginn der Oper, dieses fast operettenhaft-persiflierende Giocoso scheint die sich anbahnende Tragödie zu negieren, die sich dann mit dem plötzlichen, ersten orchestralen Guillotine-Schlag in Takt 10 umso brutaler und unbarmherziger Raum verschafft.

Damit wird gleich zu Beginn die finale Katharsis, auf die das Publikum mit Spannung wartet, antizipiert.

BB Die manchmal schon inflationäre Verwendung des Wortes Katharsis ist hier in der Tat angebracht! Alle im Zuschauerraum werden das Opernhaus um 22 Uhr, nach der Vorstellung, als andere Menschen verlassen, als sie es um 19 Uhr betreten haben – so viel ist sicher. Es wäre aber schade, wenn man nur dem Schluss entgegenfieberte. Die regelmäßigen Ruhepunkte davor, die vielen berührenden kleinen Sequenzen, die wunderschönen kammermusikalischen Passagen, kurzum: der gesamte dramaturgische Verlauf dieser Dialoge sollte vom Publikum bewusst erlebt werden, damit es emotional der letzten dramatischen Viertelstunde entgegenreifen kann. Umso mehr, als das Todesmarschthema des Schlusses von Beginn an immer wieder auftaucht, respektive angedeutet wird. Es ist somit im Unterbewusstsein stets präsent, ehe es am Ende der Oper als Hauptthema in den Vordergrund tritt.

Die Herausforderung für die Interpreten besteht also darin, den unabänderlichen Weg zum Schafott in seiner Bedeutungstiefe erlebbar zu machen?

BB Richtig, genau da liegt die Herausforderung. Das Stück ist in seinem Aufbau nämlich recht heikel, und zwar insofern, als es allen Beteiligten gleichermaßen auferlegt ist, die vielen kleinen, kostbaren Momente, die jeweils wichtige Facetten, aufzeigen, unter einen Bogen zu bringen. Die Carmélites sind nicht durchkomponiert, leben auch von den essenziellen, sinnerfüllten Pausen – wir haben ja im wahrsten Sinn des Wortes Dialoge vor uns. Wenn man die Seele dieser Oper aus den Augen verliert, zersplittert das Ganze in viele Einzelteile.

Wie sieht es mit der Instrumentierung aus, auf welche Besonderheiten kann das Publikum diesbezüglich achten?

BB Von der Orchestrierung her passiert auf den ersten Blick nichts Revolutionäres, Poulenc bringt keine neuen Instrumente ins Spiel, aber er entwickelt Klangbildungen, die einzigartig und fantastisch sind, bis hin zur Bitonalität. Manches Mal findet er sogar zu einer Art Geräuschmusik, die das Drohen und die Schrecken der Revolution unmittelbar veranschaulichen. Auf der anderen Seite arbeitet Poulenc zum Beispiel mit traditionellen Zuordnungen von Instrumenten – so symbolisiert etwa das Englischhorn die Sehnsucht, das Blech imitiert Orgelklänge usw.

Aber den neuesten stilistischen Strömungen der damaligen Zeit – die Oper entstand in den 1950er-Jahren – versagte sich Poulenc bewusst.

BB Ich finde, dass man geniale Komponisten, Maler, Schriftsteller, aber auch Interpretinnen und Interpreten nicht zuletzt auch an ihrer Unverwechselbarkeit augenblicklich erkennt. Poulenc besaß einen solch ganz eindeutigen Personalstil. Was nicht heißt, dass er nicht augenzwinkernd Anleihen in der Musikgeschichte genommen hat: manchmal blitzt Puccinis Tosca durch, dann Wagners Tristan, Johann Sebastian Bach, Verdi, Gregorianik oder Gershwin und natürlich Debussy, Ravel – Poulenc hatte keine Angst davor, Einflüsse zuzugeben. Es gibt in den Carmélites sogar Querverbindungen zu seinem eigenen Schaffen: Poulencs ungefähr zur gleichen Zeit entstandene Flötensonate finden wir etwa in Ansätzen im Zusammenhang mit der neuen Priorin des Klosters, Madame Lidoine, wieder. Die Zwölftontechnik, die Serielle Musik hat Poulenc hingegen tatsächlich weniger interessiert.

Wie präzise und konkret sind Poulencs Angaben in der Partitur?

BB Jeder Dirigent, der sich anschickt, die Carmélites aufzuführen, muss sich zunächst durch die verschiedenen Fassungen durcharbeiten und vor allem die von den Verlagen immer noch nicht eliminierten Fehler heraussieben. Das nur nebenbei – es handelt sich hier um eine notwendige Basisarbeit, leider. Doch nun zur Frage, die tatsächlich bei dieser Partitur äußerst wichtig ist: Poulenc war sehr genau in seinen Angaben, doch bedürfen diese immer wieder der sanften Korrektur durch den Dirigenten, vor allem wenn es um Tempovorschriften und dynamische Bezeichnungen geht. Den von Poulenc stammenden Metronomzahlen folge ich beispielsweise stellenweise ganz vorsätzlich nicht. Warum? Weil die auf Georges Bernanos’ fußende poetische Sprache des Librettos den eigentlichen Fluss der Musik vorgibt. Nun haben wir uns von der ursprünglichen, damals üblichen pathetischen Deklamation à la Sarah Bernhardt, die diesen Metronomangaben zugrunde liegt, mittlerweile weit entfernt. Das Sprachtempo hat sich verschnellert und das bedingt die Beschleunigung des Gesangstempos. Der zweite Aspekt betrifft, wie gesagt, die Dynamik. Poulenc hat zwar nicht viel für das Musiktheater geschrieben, dafür aber viel Konzertliteratur für befreundete Sänger. Mit der menschlichen Stimme kannte er sich also gut aus, weniger bewandert war er in Hinblick auf die Balance Orchestergraben-Bühne. Ohne an der Instrumentierung etwas zu verändern, muss der Dirigent – abhängig von der jeweiligen Akustik des Aufführungsortes – in den Carmélites doch an einigen Schrauben drehen. Sprich: Darauf achten, dass die Sänger nicht schonungslos vom Orchesterklang zugeschüttet werden. Und so wird manchmal aus einem Fortissimo beispielsweise ein Mezzoforte oder aus einem Mezzoforte ein Piano.

Sie sind bekannt dafür, traditionelle Striche in Partituren nur in wirklich einleuchtenden Fällen zu akzeptieren. Immer wieder hört man bei Ihnen aufregende kleine Passagen, die im üblichen Aufführungsalltag meist geopfert werden. Wie sieht es hier bei den Carmélites aus?

BB Sie werden lachen, aber wir werden tatsächlich eine Passage bringen, die selbst ich noch nie zuvor gemacht habe. Es handelt sich um eine kleine Sprechszene, einen Dialog dreier Passanten – zweier Damen und eines Herrn –, die essenzielle Aspekte über die emotionale Situation der zum Tod verurteilten Nonnen bringt und nur an dieser Stelle eine Erwähnung findet. Ich bin der Regisseurin Magdalena Fuchsberger daher sehr dankbar, dass ihr diese Stelle ebenfalls am Herzen liegt. Darüber hinaus bringen wir auch noch jene zusätzlichen Zwischenspiele, die Poulenc für die Pariser Erstaufführung nachgereicht hat. Mit anderen Worten: Ja, das Publikum hat die Möglichkeit, dieses Meisterwerk an der Wiener Staatsoper in ihrer vollständigen Gestalt zu erleben – ganz so, wie es vom Komponisten gedacht war.
 

DIALOGUES DES CARMÉLITES
21. / 24. / 27. / 30. Mai / 2. Juni 2023
Musikalische Leitung Bertrand de Billy
Inszenierung Magdalena Fuchsberger
Bühne Monika Biegler
Kostüme Valentin Köhler
Video Aron Kitzig
Licht Rudolf Fischer
Mit Nicole Car / Bernard Richter / Michaela Schuster / Maria Motolygina / Eve-Maud Hubeaux / Michael Kraus / Maria Nazarova / Monika Bohinec /
Alma Neuhaus /Thomas Ebenstein / Andrea Giovannini / Jusung Gabriel Park / Jack Lee / Clemens Unterreiner

Das Gespräch führte Andreas Láng