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© Wiener Staatsoper GmbH / Monika Rittershaus

Der größte Irrtum der Natur

Ob man Jesus für Gottes Sohn hält, die Unbefleckte Empfängnis akzeptiert, diesen Glauben kann man haben oder nicht. Dass aber am 27. Jänner 1756 um acht Uhr abends in Salzburg Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart als Sohn des Leopold Mozart und seiner Frau Anna Maria, geborene Pertl, zur Welt kam, ist einwandfrei zu belegen.

Für mich gibt es kein menschliches Geschöpf, das den Widerspruch zwischen Natur und Geist, zwischen Natur und Freiheit mehr verkörpert als er. Dabei ist der Weg dieses irdisch-göttlichen Wesens bekanntlich äußerst schlicht und profan. Wahrscheinlich ist es auch die Banalität, die uns zusätzlich verwirrt. Sogar der Tod durch eine geplante Vergiftung wird uns verwehrt. Ein gemeines Verscheiden war es, wie es jeden treffen kann, und das bisschen Dreck, Mozarts Hang zur Koprophilie, wäre keine Fußnote wert, gäbe es sonst etwas Außergewöhnliches zu berichten.

Kein Künstler wurde wie er ununterbrochen interpretiert und den diametralsten Thesen ausgesetzt. Das einzig Neue an ihm bleibt, dass er ständig da ist. Wenn es heißt: »Am Anfang war das Wort«, so heißt es bei Mozart: »Vor dem Anfang war der Klang.« Mir scheint, als ob vor jeder Komposition bereits eine Hürde genommen worden sei, die die Einzigartigkeit des Musikstücks wie selbstverständlich entstehen lässt, eine Stille, aber das wäre schon zu real, eher eine unsichtbare Verabredung mit dem tiefsten Unbekannten von sich selbst, die ein Ziel in sich trägt, das trotz aller Genauigkeit den Ort seiner Ankunft nie garantiert, sondern ihn stets zur Überraschung werden lässt: unvorhergehört! Das lässt wohl jenes Entzücken aufkommen, das uns nach Mozart süchtig macht und das häufig in jene Süßlichkeit kippt, die seine Musik bedrohlich verklebt, wenn sie ungefragt mit den Begriffen Naivität, Unbefangenheit oder gar Kindlichkeit in Verbindung gebracht wird.

Bei Mozart musst du alles befragen, sonst kommst du zu keinem Genuss. Winzige Steinchen trägst du zusammen. Du hortest Details. Du drehst die Steinchen um und entdeckst plötzlich eine andere Farbe, einen anderen Klang. Du musst die Steinchen wiederholt ordnen. Du verlierst die Nerven, wirfst alles durcheinander. Da entdeckst du ein neues Bild, und du und ich begreifen: Alles an Mozarts Musik ist abgefangen, abgeschöpft, abgerungen, erfunden, erdacht, entdeckt, erobert, ja, auch ertrotzt, erraten, erfingert, gewagt und erspielt, und eben dieses inbrünstig versteckte Vorher, dieses winzige Davor, dieses Stelldichein mit sich selbst, dieses närrische Nadelöhr, durch das er genüsslich mindestens zwanzig fette Kamele ziehen lässt, treibt ihn liebestoll und todesmutig in die Unfehlbarkeit.

Vielleicht ist er ein Tyrann. Ein pockennarbiger Potentat. Ein List- und Lüstling, der sich an unserer Gier nach ihm weidet. Jedenfalls ist er ein Täter, der sein Imperium auf das Geschickteste verwaltet und folglich weiß, dass zur vollen Wahrheit neben den Herrschenden besonders die Opfer gehören. Dafür muss der Täter doppelt stark sein. Er muss sich fallen lassen und sich sofort aufrichten können, als sei nichts gewesen. Er muss weiter komponieren.

Das hartnäckige, unbeirrbare Bestehen auf Objektivität, das Mozarts Welt ausmacht, hat nichts mit Kälte oder etwa mit Erbarmungslosigkeit zu tun. Es ist vielmehr eine bloßgelegte Aufrichtigkeit, die jedem sein Gemäßes zukommen lässt, eine Akribie der Verhältnisse, nicht moralisierend, wie es zugeht in der Welt, sondern wie sie sich zusteht, die Welt, wie ihre Proportionen sind.

Ich denke, wer sich Mozarts rücksichtsloser Musik blank anvertraut, merkt, wie erschreckend fremd sie ist, und wie fremd man sich selber wird. Aber die Häutungen sind nicht die der Zwiebel, die nur Schalen zurücklässt, schneidet man sie auf, sondern man stößt auf den reinen Kern der Begriffe und auch auf die Verzweiflung über ihren Verlust. Es ist eine bewusst eingegangene Suche nach Identität, nach Einkesselung. Unter anderem deswegen die vielen, vielen Wiederholungen und ihre permanenten Variationen, als ob durch sie Vergleiche, Vergewisserungen entstehen sollten, Haltegriffe, denn es droht die Gefahr des Doppelgängertums, des Sichverlierens: »Ich ist ein ande- rer« oder: »Ich und ich« oder: »Der eine und der andere« oder noch schlimmer: »Der andere und der andere«. Diese Gefahr sollte nicht zu lange andauern in unserem kurzen Dasein.

Manchmal – das gebe ich zu – geschieht es, dass ich mich Mozart so nahe fühle wie dem alten Märchenbuch, das mir Tante To-Mattusch aus Venlo geschenkt hat. Dann frage ich: »Könnte es so sein, dass der Kampf Don Juans mit dem Komtur die einzige Leidenschaft war, die Don Juan je gespürt hat?« Oder: »Wenn ich Ihre Opern inszeniere, heißt das, Stimmen zu inszenieren, aus denen sich erst die Figuren bilden?« Er antwortet nicht. Er antwortet nie. Da werde ich aufdringlich: »Wo die Liebe aufhört, beginnt das Spiel, die Maskerade. Die Liebe braucht keine Kunst. Wir brauchen so viel Kunst, um die Liebe zu beschwören. Die Liebe ist viel weniger da als die Regelmäßigkeit des Todes. Die Liebe wird erdrückt vom Tod, weil der Tod natürlich ist. Die Liebe ist nicht natürlich.«

Er sieht mich gar nicht an. Komponiert er schon? »Für Sie ist alles eine Skizze«, fahre ich heftig fort, »Sie werfen weg, behalten etwas zurück, zerreißen es wieder, fügen es umgekehrt zusammen, und es passt! Wer gab Ihnen die Freiheit?« Das Schweigen hält an. »Wissen Sie was, Mozart«, flüstere ich, »Sie haben nie an die Welt geglaubt. Sie waren nie wirklich da, ich meine, Sie haben sie nie als eine Bestimmung empfunden, höchstens als ein mehr oder minder wohliges Nachtlager nach einem fast erfüllten Tag.« Da sieht er mich an, noch nicht einmal spöt-tisch, und summt das Liedchen, das Sie sicher alle kennen: »THESEN, THESEN VERWESEN, VERWESEN! SIND DUNG UND DÜNGER, MACHEN JUNG UND JÜNGER!« Und er springt davon.

Selbstverständlich schrieb Mozart seine Noten auf Papier, und zwar mit einer kaum nachzuvollziehenden Schnelligkeit, dennoch stelle ich mir vor, dass zwi-schen der Note und dem Papier Luft in einer immerwährend fließenden Temperatur liegt, deren Mischung allein Mozarts Atem weiß, und die er mit der schwerelosen Kamera seiner Eingebung umfährt, bis die Noten voll plastisch erscheinen. Sie sind ganz da, und dennoch beschreiben sie sich gleichzeitig. Geschehnis und Reflexion feiern Hochzeit.

In der Entführung aus dem Serail, im Quartett des zweiten Aktes, ließ ich die Sänger ins Orchester gehen. In der totalen Verschmelzung von Musik und Figur, Person und Individualität muss man die Szene aufheben. Ort und Raum sind nur noch die Zeit des augenblicklichen Musizierens: ein dargestellter Essayismus.

Mozart liebte den Tanz, die kreisende Bewegung bis zum Schwindel, das Außer-sich-Sein, ohne die Form zu zersprengen, das schnelle Ausruhen am anderen, das scheinbare Aufheben der Einsamkeit, die Maskenbälle, das Rätseln und Enträtseln, das Ver- stellen, das kurzweilige Verschwinden, das Untertauchen und das unberechenbare, neue Hervorkommen, das Billardspiel, weiße Kugeln, die ohne Wunden aneinanderstoßen und spurlos verschluckt werden, bis der nächste Stoß den grünen Filz plötzlich wieder aus der Idylle reißt.

Das sehe ich alles komponiert. Ja, man kann Mozarts Musik sehen und schmecken und riechen, wenn man sie hört, denn er hat sich um alles gekümmert, was der andere Mensch für alle Zeiten tagtäglich zum Leben braucht.