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»Kallirhoe« ver­bin­det an­ti­ke Lie­be, Dra­ma und Ver­ge­bung – Alexei Ratmanskys ers­te Pre­mie­re un­ter Alessandra Ferri.

Das Wie­ner Staats­bal­lett fei­ert die ers­te Pre­mie­re der Sai­son mit Alexei Ratmanskys Kallirhoe – ein epi­sches Lie­bes­dra­ma aus der An­ti­ke zur Mu­sik Aram Chatschaturjans. In der Eu­ro­pä­i­schen Erst­auf­füh­rung des Hand­lungs­bal­letts ge­ben un­ter an­de­rem die bei­den neu en­ga­gier­ten Ers­ten So­lo­tän­zer*innen Ma­di­son Young und Vic­tor Caixeta ih­re Haus- bzw. Rol­len­de­büts.

Kallirhoe … ein Na­me, der den meis­ten Men­schen zu­nächst Rät­sel auf­gibt. Wie spricht man ihn aus, und wer oder was ver­birgt sich da­hin­ter? Das sind häu­fig ge­stell­te Fra­gen, die auf­kom­men, wenn es dar­um geht, die ers­te Pre­mie­re des Wie­ner Staats­bal­letts un­ter der neu­en Di­rek­to­rin Alessandra Ferri ein­zu­ord­nen. Da­bei ver­weist der Ti­tel nicht nur auf den Na­men sei­ner Hel­din, son­dern auch auf den äl­tes­ten voll­stän­dig er­hal­te­nen an­ti­ken Ro­man, der Cho­reo­graf Alexei Ratmansky als Ba­sis für sein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Hand­lungs­bal­lett dient.

Ge­schrie­ben wur­de Kallirhoe – ver­mut­lich im 1. Jahr­hun­dert n. Chr. – von Cha­ri­ton von Aphrodisias, der mit sei­nem Werk das Gen­re des grie­chi­schen Lie­bes­ro­mans ent­schei­dend ge­prägt, wenn nicht so­gar er­fun­den und auch wich­ti­ge Im­pul­se für die Ent­ste­hung ei­ner eu­ro­pä­i­schen Er­zähl­li­te­ra­tur ge­ge­ben hat.

Auf meh­re­ren Ebe­nen nimmt Kallirhoe ei­ne Son­der­stel­lung ein: Zum ei­nen ver­bin­det der Ro­man Tra­gik und Un­ter­hal­tung mit The­men, die für die grie­chisch-rö­mi­sche Le­se­r*in­nen­schaft re­le­vant wa­ren. Zum an­de­ren be­zieht sich Cha­ri­ton auf his­to­ri­sche Er­eig­nis­se, wahrt so auch ei­ne ge­wis­se Nä­he zur Ge­schichts­schrei­bung (zum Bei­spiel er­in­nert der Groß­kö­nig im Ro­man an Achaemenidenkönige wie Ar­ta­xer­xes II.) und das in ei­nem char­man­ten, flie­ßen­den Er­zähl­stil. Beim Le­sen spürt man schnell, dass der Ro­man der Un­ter­hal­tung die­nen soll, setzt aber zu­gleich bei sei­nem Pu­bli­kum ei­ni­ges an Kennt­nis­sen in Ge­schich­te, My­tho­lo­gie und Ge­sell­schaft vor­aus.

Doch wo­rum geht es in Kallirhoe? Das Buch, des­sen Hand­lung sich in der Ära Alex­an­ders des Gro­ßen ent­spinnt, er­zählt die Lie­bes­ge­schich­te von Kallirhoe, ei­ner jun­gen schö­nen Frau von ed­ler Her­kunft, und Chai­re­as, ei­nem nicht min­der schö­nen Mann. Die bei­den ver­lie­ben sich auf den ers­ten Blick und fei­ern Hoch­zeit – nach­dem der Streit der ehe­mals ver­fein­de­ten Vä­ter bei­ge­legt ist. Kallirhoes Schön­heit al­ler­dings ist nicht von »ir­di­scher, son­dern gött­li­cher Na­tur«, so­dass ge­spon­ne­ne In­tri­gen ih­rer nei­di­schen Ver­eh­rer das Glück des jun­gen Paa­res zu­nich­te­ma­chen. Was folgt, sind ver­meint­li­che To­de, Ge­fan­gen­schaf­ten, Rei­sen zwi­schen Sy­ra­kus, Klein­a­si­en und dem per­si­schen Groß­reich, Aben­teu­er, Krie­ge und al­ler­lei gro­ße und klei­ne Aus­ein­an­der­set­zun­gen so­wie Ge­fah­ren, ehe die bei­den am En­de wie­der zu­ein­an­der fin­den.

»1) Wie Kallirhoe Chai­re­as hei­ra­te­te, die schöns­te Frau, den schöns­ten Mann – Aph­ro­di­te lei­te­te die Hei­rat in die We­ge –, wie der ver­lieb­te Chai­re­as sie aus Ei­fer­sucht schlug und sie dann tot schien, wie sie mit gro­ßem Prunk be­stat­tet wur­de, dann in der Grab­kam­mer wie­der zu Be­wusst­sein kam und Grab­räu­ber sie nachts von Si­zi­li­en weg­brach­ten, nach Io­ni­en fuh­ren und sie dem Dio­ny­si­os ver­kauf­ten, die Lie­be des Dio­ny­si­os, Kallirhoes Treue ge­gen­über Chai­re­as, die Not­wen­dig­keit der Hei­rat, weil sie schwan­ger war, The­rons Ge­ständ­nis, Chai­re­as’ Fahrt, um sei­ne Frau zu su­chen, sei­ne Ge­fan­gen­nah­me und sein Ver­kauf nach Ka­ri­en zu­sam­men mit sei­nem Freund Po­ly­char­mos,

2) und wie Mith­ri­da­tes Chai­re­as, als er ge­ra­de ster­ben soll­te, ent­deck­te und wie er sich be­müh­te, die bei­den Lie­ben­den wie­der zu­sam­men­zu­brin­gen, Dio­ny­si­os aber durch die Brie­fe der Sa­che auf die Spur kam und den Mith­ri­da­tes bei Phar­na­kes ver­leum­de­te, die­ser ihn dann auch beim Groß­kö­nig, und der Groß­kö­nig bei­de zur ge­richt­li­chen Un­ter­su­chung vor­lud – das al­les ist im Vor­her­ge­hen­den dar­ge­legt.«

Kallirhoes und Chai­re­as’ Rei­se ist so kom­plex, führt über zahl­rei­che Or­te und Län­der und ist vol­ler un­glück­li­cher wie glück­li­cher, gött­lich ge­woll­ter »Zu­fäl­le«, dass selbst der Au­tor Cha­ri­ton im fünf­ten von ins­ge­samt acht Bü­chern das bis­her Er­leb­te noch­mals zu­sam­men­fasst, um die Le­se­r*in­nen für das nicht min­der aben­teu­er­rei­che Fi­na­le, das na­tür­lich mit ei­nem Happy End ein­her­geht, vor­zu­be­rei­ten.

»Was die rau­e Wirk­lich­keit kaum zu­ge­las­sen hät­te, ge­währt der an­ti­ke Ro­man­au­tor mit leich­ter Hand, in­dem er nicht we­nig il­lu­sio­nis­tisch ein Kon­trast­bild zur Welt der har­ten Tat­sa­chen ent­wirft«, so der Klap­pen­text ei­ner deut­schen Aus­ga­be des Wer­kes. Kallirhoe ver­eint Lie­be, Freund­schaft, Ge­walt und Aben­teu­er, ist so un­wahr­schein­lich wie tröst­lich. Denn schon vor 2000 Jah­ren wuss­te man, was wir bis heu­te nicht mü­de wer­den zu le­sen: dass die Lie­be al­les über­dau­ert.

Auch Alexei Ratmansky hat den Schlüs­sel zum Werk in den Emo­tio­nen ge­fun­den, die die Men­schen im­mer noch an­trei­ben. Nicht nur die Lie­be, son­dern vor al­lem die Fä­hig­keit zur Ver­ge­bung ist für ihn ein ent­schei­den­der Zu­gang zur Ge­schich­te Kallirhoes: »Trotz al­ler Ge­walt, der Kallirhoe aus­ge­lie­fert ist, trifft sie ih­re ei­ge­nen Ent­schei­dun­gen und steht am En­de vor der Fra­ge, ob sie dem Mann, den sie liebt und der ihr Schlim­mes an­ge­tan hat, ver­gibt – und das tut sie«, be­schreibt der Cho­reo­graf.

»Mein Ziel war es, kei­ne mu­se­a­le Re­kon­struk­ti­on, son­dern ein le­ben­di­ges, span­nen­des, her­aus­for­dern­des Bal­lett mit ei­nem kon­ti­nu­ier­lich vor­an­schrei­ten­den Hand­lungs­bo­gen und in­ter­es­san­ter Cho­reo­gra­phie zu schaf­fen.«


Kallirhoe, das im Jahr 2020, kurz be­vor die Thea­ter auf­grund der Co­vid-Pan­de­mie schlie­ßen muss­ten, mit dem American Ballet Theatre un­ter dem Ti­tel Of Love and Rage ur­auf­ge­führt wur­de, gibt Ratmansky die Mög­lich­keit, ei­nen Kos­mos zu er­for­schen, für den sich der Cho­reo­graf seit je­her be­geis­tert: die an­ti­ke grie­chi­sche und rö­mi­sche Kunst. So fand sein Team, be­ste­hend aus dem be­kann­ten fran­zö­si­schen Schau­spie­ler Guillaume Gallienne, der für das Li­bret­to ver­ant­wort­lich zeich­net, und dem Büh­nen- und Kos­tüm­bild­ner Jean-Marc Puissant, In­spi­ra­ti­on für ein neu­es Bal­lett in ei­ner al­ten Welt:

»Mir war wich­tig, nicht zu er­fin­den, son­dern zu zi­tie­ren. Kos­tü­me und Re­qui­si­ten soll­ten auf rea­len Frag­men­ten ba­sie­ren. Schmuck, Stoff­res­te, For­men, die wir aus Mu­se­en ken­nen. Feh­len­des ha­be ich be­wusst of­fen­ge­las­sen. So, wie Mu­se­en heu­te an­ti­ke Ob­jek­te nicht mehr voll­stän­dig re­kon­stru­ie­ren, son­dern in ih­ren Frag­men­ten zei­gen, über­trug ich die­ses Prin­zip auf die Büh­ne. Das Re­sul­tat ist ei­ne mi­ni­ma­lis­ti­sche, zeit­ge­nös­si­sche Äs­the­tik«, er­läu­tert Puissant sei­ne Ge­dan­ken zum Büh­nen- und Kos­tüm­bild, das – wie auch die Cho­reo­gra­fie – Ele­men­te an­ti­ker Kunst und Kul­tur auf­greift, sie je­doch nicht sti­li­siert, son­dern als Re­fe­renz in ein le­ben­di­ges und zu­gleich zeit­lo­ses Büh­nen­werk in­te­griert.

Als mu­si­ka­li­sche Ba­sis die­nen Ratmansky ver­schie­de­ne Mu­si­ken des ar­me­ni­schen Kom­po­nis­ten Aram Chatschaturjan – al­len vor­an sei­ne 1942 ur­auf­ge­führ­te Bal­lett­kom­po­si­ti­on Gayaneh, die den Cho­reo­gra­fen schon lan­ge be­geis­tert, die ori­gi­na­le Hand­lung doch glei­cher­ma­ßen ab­ge­schreckt hat. »Was aber in die­ser Mu­sik steckt, ist ro­he En­er­gie, durch­drun­gen von ei­ner al­ten ar­me­ni­schen Tra­di­ti­on, von kraft­vol­ler me­lo­di­scher und rhyth­mi­scher Viel­falt«, so Ratmansky, »al­les ist ge­prägt von Chatschaturjans Mu­sik, die ei­ne Idee von An­ti­ke ver­sprüht«.

Für die Lie­bes­ge­schich­te von Kallirhoe und Chai­re­as hat der bri­ti­sche Kom­po­nist Philip Feeney mu­si­ka­li­sche Se­quen­zen aus Gayaneh mit wei­te­ren, vor al­lem Kla­vier­wer­ken von Chatschaturjan ver­wo­ben und so ei­ne Bal­lett­par­ti­tur ar­ran­giert, die kraft­vol­le Klän­ge wie den be­rühm­ten Säbeltanz mit poe­ti­schen Tö­nen ver­eint.

»Das Pu­bli­kum sieht die Fi­gu­ren des Bal­letts in ei­ner Welt, in der ih­re Ge­schich­ten und Emo­tio­nen mensch­lich glaub­wür­dig sind, oh­ne da­bei zu ver­ges­sen, dass es sich um ei­ne fast 2000 Jah­re al­te Er­zäh­lung han­delt.«

»Es ist ein zeit­ge­nös­si­sches klas­si­sches Bal­lett von ei­nem der be­deu­tends­ten Cho­reo­gra­fen der Ge­gen­wart. Kallirhoe wird ei­ne eu­ro­pä­i­sche Erst­auf­füh­rung sein, ein ›Showcase‹-Bal­lett, das es nur in Wien gibt, und ein schö­nes Spek­ta­kel für un­ser Pu­bli­kum.«

Ratmansky zählt zwei­fel­los zu je­nen Cho­reo­gra­fen un­se­rer Zeit, die das Er­be und das Vo­ka­bu­lar des klas­si­schen Bal­letts ins Heu­te ge­führt ha­ben – nicht im Be­grei­fen als star­res Sys­tem, son­dern als le­ben­di­ge Grund­la­ge für die Wei­ter­ent­wick­lung die­ser Kunst­form. Sein viel­schich­ti­ges Œu­vre um­fasst Re­kon­struk­tio­nen gro­ßer Bal­lett­ge­schich­ten, die stets mit ei­nem tie­fen Ver­ständ­nis der Hi­sto­rie der klas­si­schen Tra­di­ti­on ein­her­ge­hen, »hand­lungs­lo­se«, ab­strak­te Wer­ke wie sei­ne auch in Wien auf­ge­führ­ten Pictures at an Exhibition oder 24 Préludes und zeit­ge­nös­si­sche ei­ge­ne Hand­lungs­bal­let­te.

Ratmanskys Sinn für ei­ne le­ben­di­ge Bal­lett­kunst ist in all die­sen Ar­bei­ten spür­bar. Als auf­re­gend, in­ten­siv und zu­gleich von ei­ner im­men­sen Schön­heit und Span­nung ge­prägt kann man sei­ne neo­klas­si­sche Bal­lett­spra­che, die stets auch ei­ne Her­aus­for­de­rung für Tän­ze­r*in­nen ist, be­schrei­ben. So ist das Bal­lett Kallirhoe nicht nur ei­ne wei­te­re Mög­lich­keit für das Wie­ner Staats­bal­lett, sich in ei­ner Ar­beit von Ratmansky zu pro­fi­lie­ren, son­dern vor al­lem über sich hin­aus­zu­wach­sen und Teil ei­ner epi­schen Ge­schich­te zu wer­den, in der es nicht nur um die Macht und Bür­de von Schön­heit, son­dern vor al­lem um die Mensch­lich­keit geht.

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