Wie Liebe klingt

Interview |

Aida Garifullina & Benjamin Bernheim singen in Gounods »Roméo et Juliette«.

Wann ver­wan­delt sich ei­ne Sän­ge­rin in ih­re Rol­le? Was hat Gou­n­ods Ro­méo et Ju­li­et­te mit dem Glau­ben zu tun? Und was er­zählt die Mu­sik über die Cha­rak­te­re der Fi­gu­ren?
Dar­über spre­chen Ben­ja­min Bern­heim und Ai­da Ga­ri­ful­li­na – sie sin­gen die Pro­ta­go­nis­ten in der Mai-Se­rie der Oper – im In­ter­view.
Zu er­le­ben ist das Paar in der spek­ta­ku­lä­ren Wie­ner Ro­méo-Pro­duk­ti­on, die mit­tels raf­fi­nier­ter Licht­ar­chi­tek­tur be­ein­dru­cken­de und at­mo­sphä­risch hin­rei­ßen­de Bil­der bie­tet.

Die Geschichte einer jungen, durch äußere Einflüsse tragisch zum Scheitern verurteilten Liebe war bereits zu Shakespeares Zeiten nicht neu, sondern ein bekannter Topos. Was macht gerade Shakes­peares Version dieser Handlung über Jahrhunderte erfolgreich?

Bernheim Sha­kes­peare oder nicht Sha­kes­peare – das ist gar nicht die Fra­ge! Denn es geht nicht dar­um, in wel­cher Zeit und Ge­gend die Hand­lung ver­or­tet ist.
Es ist ei­ne Ge­schich­te, die ir­gend­wo in der Welt, ir­gend­wann pas­siert sein könn­te oder pas­sie­ren kann – voll­kom­men zeit­los!
Auch heu­te­zu­ta­ge, et­wa in der Ukrai­ne und in Russ­land, oder in ei­nem an­de­ren Kriegs­ge­biet.
Es gibt so vie­le Ro­me­os und Ju­li­as, so vie­le Wie­der­ho­lun­gen die­ser Tra­gö­die. Und es wird im­mer so sein, es wird im­mer jun­ge – und auch äl­te­re – Paa­re ge­ben, die an ih­rer Um­ge­bung schei­tern.
Das muss nichts mit Fa­mi­li­en zu tun ha­ben, es kann um Re­li­gio­nen ge­hen, um Na­tio­na­li­tä­ten oder um an­de­res.
Denn Ro­meo und Ju­lia ist kei­ne kon­kre­te Si­tua­ti­on, son­dern ein Kon­zept ei­ner fa­tal en­den­den Lie­bes­ge­schich­te.

Garifullina Lie­be ist der kraft­volls­te As­pekt un­se­res Le­bens. Und je­de ist auf der Su­che da­nach. Je­der möch­te lie­ben und ge­liebt wer­den.
Auch wenn Lie­be manch­mal weh­tut – und das wis­sen wir al­le –, träu­men wir den­noch da­von, un­se­re See­len­ver­wand­te oder un­se­ren See­len­ver­wand­ten zu fin­den.
Die Ge­schich­te von Ro­meo und Ju­lia ist zeit­los, weil sie uns zeigt, wie stark Lie­be sein kann: furcht­los und gren­zen­los.
Zwei See­len ha­ben ein­an­der ge­fun­den und konn­ten fort­an nicht mehr oh­ne­ein­an­der le­ben. Wahr­schein­lich sa­gen man­che Men­schen: »Ach, ei­ne sol­che Lie­be gibt es nicht.«
Aber ich glau­be im­mer noch an sie. Und ob­wohl die Ge­schich­te die­ser bei­den jun­gen Men­schen ein jä­hes En­de fand, hat sie ei­ne so star­ke Bot­schaft in die gan­ze Welt ge­sen­det: An je­ne, die sich has­sten – ih­re Her­zen zu öff­nen und zu ver­ge­ben. Und an je­ne, die auf­ge­hört hat­ten, an die Lie­be zu glau­ben – wie­der da­ran zu glau­ben, egal, was pas­siert.

Die Liebesgeschichte wurde häufig vertont – die wahrscheinlich bekannteste ist jene von Charles Gounod, in der Sie im Mai singen. Was macht ihre Besonderheit aus?
 

Garifullina Die O­per ist ein ab­so­lu­tes Meis­ter­werk. Je­de Sze­ne, je­des mu­si­ka­li­sche The­ma ist von ei­ner sol­chen Schön­heit! Ei­ne Fül­le an Har­mo­nien und Me­lo­dien!
Ju­li­et­te hat zwei gro­ße A­rien: »Je veux vivre«, ei­ne der be­kann­tes­ten O­per­na­rien über­haupt, und na­tür­lich die gro­ße und her­aus­for­dern­de Gift-Sze­ne, die die Zu­schau­e­rin­nen und Zu­schau­er stets zu Trä­nen rührt.
Da­zu das ma­gi­sche Du­ett »Nuit dʼhyménée«, das ei­ne gro­ße Band­brei­te an Emo­tio­nen zwei­er Lie­ben­der zeigt, Wär­me und Angst, Lei­den­schaft und Mut.

Bernheim Ja, Gou­n­ods O­pern­ver­sion des Stof­fes ist ein­fach voll­kom­men. Ei­ne Mu­sik, so ro­man­tisch, so be­rü­ckend, aber auch frisch und jung. Tat­säch­lich ein Meis­ter­werk!
Ei­ne Be­son­der­heit ist si­cher­lich, dass es Gou­n­od, der sehr re­li­gi­ös war, nicht nur um ei­ne Ge­schich­te zwi­schen zwei Per­so­nen ging.
Son­dern auch um de­ren Ver­hält­nis zu Gott und die Ver­ant­wor­tung in Hin­blick auf Fa­mi­lie und Glau­ben.
Denn wenn ein Mann oder ei­ne Frau wie in die­ser O­per sagt: »Ich lie­be dich im An­ge­sicht Got­tes«, dann ist das nicht nur ein »Ich lie­be dich«.
Son­dern es ist Gott in­vol­viert. Und ob­wohl heu­te im­mer we­ni­ger Men­schen Kir­chen, Sy­n­ago­gen oder Tem­pel be­su­chen, fin­de ich es sehr wich­tig zu se­hen, dass hier ei­ne Lie­bes­ge­schich­te nicht nur zwi­schen zwei Per­so­nen statt­fin­det, son­dern auch ein Be­zug – nicht zu ei­ner Re­li­gi­on, aber zu ei­ner Gläu­big­keit –
be­steht. Für Gou­n­od war ein Ge­dan­ke sehr wich­tig: Gott ist im­mer da. Es gibt al­so auch et­was Spi­ri­tu­el­les in die­ser Ge­schich­te.

Nun hat Gounod auch viel Kirchenmusik geschrieben – merkt man das in Roméo et Juliette?

Bernheim Als ich jün­ger war, ha­be ich ei­ne Gou­n­od’sche Mes­se ge­sun­gen und ken­ne da­her auch sei­nen kir­chen­mu­si­ka­li­schen Zu­gang.
Na­tür­lich merkt man an der O­per, dass ihm die kirch­li­chen Ze­re­mo­nien wie Hoch­zeit oder Be­gräb­nis be­kannt wa­ren.
Und man merkt – wie vor­hin ge­sagt –, dass ihm das Ver­hält­nis zwi­schen Gott und dem Men­schen wich­tig war.
Was man in die­sem Zu­sam­men­hang nicht ver­ges­sen darf, ist, dass wir uns in ei­ner Zeit be­fin­den, in der Kir­che und Re­li­gi­on in der Ge­sell­schaft ei­ne gro­ße Rol­le ge­spielt ha­ben.
Das Pu­bli­kum der Ur­auf­füh­rung hat sich al­so in die­sen As­pek­ten wie­der­er­kannt.
Ich wür­de sa­gen, der größ­te Teil der Fran­zo­sen war da­mals ka­tho­lisch – und so hat das auch ei­ne ent­spre­chen­de Rol­le ge­spielt.

Der Literatur-Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro wirft in einem seiner Bücher die Idee auf, dass Kunst die wahre Seele eines Menschen ausdrücken kann. Wenn wir den Gesang Juliettes bzw. Roméos hören: Was können wir über das innerste Wesen dieser Figuren erfahren?

Garifullina Das hängt na­tür­lich im­mer von der Sän­ge­rin ab. Denn je­de So­pra­nis­tin wird die Mu­sik auf ih­re ei­ge­ne Wei­se in­ter­pre­tie­ren.
Der Kom­po­nist hat uns mit der Par­ti­tur sei­ne Vi­si­on ge­ge­ben. Aber wie wir die No­ten in­ter­pre­tie­ren, liegt ganz in un­se­rer Ver­ant­wor­tung.
Wenn wir über Ju­li­et­te spre­chen – sie ist ei­ne of­fen­her­zi­ge jun­ge Frau. Sie glaubt an die Lie­be und ver­traut dem Mann, den sie liebt.
Ganz gleich, wie zer­stö­re­risch die Be­zie­hung zwi­schen ih­ren Fa­mi­li­en ist. Sie hört nur auf ihr Herz, das ihr sagt: Er­lau­be dir, zu lie­ben. Er­lau­be dir, Feh­ler zu ma­chen. Auch wenn die Ent­schei­dung ver­rückt ist.
Lie­be ist es im­mer wert.

Bernheim Ich den­ke, dass Ro­méo, was die Psy­che an­be­langt, ein biss­chen jün­ger ist als Ju­li­et­te. Wir sa­gen ja im­mer wie­der, dass Frau­en frü­her reif wer­den als Män­ner – und das ist hier si­cher­lich der Fall. Be­reits im Au­gen­blick, in dem Ju­li­et­te Ro­méo erst­mals sieht, weiß sie um das En­de. Sie sieht schon die Tra­gö­die, den Tod. Ju­li­et­te ist Rea­lis­tin, Ro­méo hin­ge­gen lebt in den Wol­ken.
Er träumt, träumt und träumt. Er ist vol­ler Hoff­nung, ver­geb­li­cher Hoff­nung, er ist ro­man­tisch, sieht das ge­mein­sa­me Glück.
Und bleibt in sei­ner Traum­welt.
Sie ist al­so er­wach­sen, er ein Tee­na­ger.
Was das Mu­si­ka­li­sche be­trifft: In sei­nem Ge­sang sind die Son­ne, das Licht. Man merkt üb­ri­gens ei­nen gro­ßen Wan­del in Ro­mé­os Mu­sik: An­fangs hat er kei­nen Bock, ist trau­rig, fin­det kei­ne Freu­de am Da­sein. Dann aber sieht er Ju­li­et­te – und al­les wan­delt sich. Wir hö­ren Dur, ei­nen po­si­ti­ven Klang, und wir er­le­ben in der Mu­sik, was Lie­be auf den ers­ten Blick mit un­se­rem Her­zen und un­se­rem Kopf ma­chen kann.
Und ge­nau da­rum ist Ro­méo so schön zu sin­gen: da gibt es Leich­tig­keit, Ro­man­tik und Über­schwang.

Versteht Gounod sich auf Stimmen? Liegen Juliette und Roméo gut in der Stimme?

Bernheim Das Schö­ne ist, dass Gou­n­od nicht nur ein gro­ßes Ta­lent hat­te, was das Schrei­ben für Stim­men an­be­langt, son­dern sich auf das Zeich­nen von Rol­len ver­stand. Was be­deu­tet das?
Sein Ro­méo und sein Faust et­wa sind ganz ver­schie­den: Ro­méo ist hel­ler, Faust ne­ga­ti­ver, dunk­ler.
Weil die je­wei­li­gen Fi­gu­ren ge­nau die­se Far­ben ein­for­dern. Ge­schrie­ben sind bei­de sehr gut!
Mir macht Ro­méo mehr Spaß, für mich ist er per­fekt!
Ich glau­be, ich ha­be das Wort Meis­ter­stück ja schon ver­wen­det…

Garifullina Die Ju­li­et­te liegt gut!
Die ers­te Arie ist kniff­lig, denn sie ist in ei­ner sehr ho­hen Tes­si­tu­ra ge­schrie­ben, ob­wohl ich mich nor­ma­ler­wei­se an­fangs auf ei­ne an­de­re Art des Sin­gens ein­stel­le.
Ab­ge­se­hen da­von bin ich ei­ne ly­ri­sche So­pra­nis­tin.

Der große Wiener Kritikerpapst des 19. Jahrhunderts, Eduard Hanslick, kritisierte, dass Gounods Roméo et Juliette zu lyrisch und zu wenig bombastisch wäre. Ist das eine Schwäche des Werks?

Garifullina Ich glau­be, dass Hans­lick hier irr­te.
Aber wie vie­le gro­ße Künst­ler wur­den auch zu die­ser Zeit hef­tig kri­ti­siert!
Oder be­ka­men nicht die An­er­ken­nung, die ih­nen zu­ge­stan­den hät­te.
Wie ich im­mer zu mir sa­ge: »So vie­le Men­schen, so vie­le Mei­nun­gen.«

Bernheim Ich den­ke, das ist ei­ne Qua­li­tät! Denn das Stück, die Hand­lung sind ja ly­risch. Ro­méo et Ju­li­et­te er­zählt von zwei jun­gen Leu­ten, die ei­ne gro­ße, in­ni­ge Ver­bin­dung zu­ein­an­der fin­den. Es mag schon sein, dass Hans­lick das als »zu ly­risch« emp­fun­den hat, aber im Grun­de hat der Kom­po­nist die Es­senz der Ge­schich­te ver­tont – es pas­sier­te al­so nicht un­ab­sicht­lich, son­dern ganz be­wusst. Es gibt ja auch Dra­ma­ti­sches, nur eben nicht über­all. Und wie fan­tas­tisch sind Arien wie »Ah, lève-toi so­leil«!
Klar, ly­risch, aber so ist Ro­mé­os Welt eben…
Ich ver­glei­che die Oper noch ein­mal mit dem Faust: Dort gibt es mehr Dra­ma­ti­sches, aber das ist ja auch ei­ne ganz an­de­re Ge­schich­te. In Be­zug auf Ro­méo et Ju­li­et­te hat Gou­n­od ge­nau das rich­ti­ge Maß ge­fun­den.

Juliette braucht am Anfang der Oper eine große Leichtigkeit und gute Höhe, die Stimme muss bis zum hohen D reichen. Dann wird es dramatischer und tiefer: braucht man im Grunde zwei Stimmen?

Garifullina Ich den­ke, wir ha­ben nur ei­ne Stim­me.
Aber für die ge­sam­te Rol­le sind de­fi­ni­tiv un­ter­schied­li­che Tech­ni­ken er­for­der­lich. Vom leich­ten Ko­lo­ra­tur­so­pra­no am An­fang der Oper bis hin zu ly­ri­schen und so­gar leicht dra­ma­ti­schen Stim­men­far­ben ge­gen En­de – lan­ger Atem, ei­ne an­de­re Klang­tex­tur, mehr Vo­lu­men, mehr Far­ben und Fül­le und ein run­de­rer Klang.

Jedes Werk hat seine Herausforderungen und seine Stellen, die man besonders liebt. Welche sind das für Sie bei Roméo et Juliette?

Bernheim Vor dem »Nuit dʼhy­mé­née«-Du­ett von Ro­méo und Ju­liet­te gibt es ei­ne Or­ches­ter­pas­sa­ge mit ei­nem Cel­lo-So­lo: ge­nau das ist für mich die Es­senz die­ser ge­sam­ten Ge­schich­te. In mei­ner Vor­stel­lung ist das Ro­méo et Ju­liet­te: Schmalz und Lie­be, Ge­sang­lich­keit und Ro­ma­nik. Per­fekt!

Gibt es vor der Vorstellung so etwas wie eine Transformations-Routine für Sie? Ab wann sind Sie Roméo bzw. Juliette? Ab dem Einsingen?

Garifullina In dem Mo­ment, in dem ich am Mor­gen des Auf­füh­rungs­ta­ges auf­wa­che, schlüp­fe ich in die Rol­le. Ich spie­le Ju­liet­te nicht – ich wer­de zu Ju­liet­te. Als wür­de ich mich selbst spie­len. Ich ver­än­de­re mich nicht für ei­ne Rol­le. Das ist nicht nö­tig, denn ich bin Schau­spie­le­rin und kann ver­schie­de­ne Cha­rak­te­re ver­kör­pern. Mei­ne Kör­per­spra­che passt sich an die un­ter­schied­li­chen Per­sön­lich­kei­ten an – und sie al­le wer­den mei­ne See­le und mein Herz in sich tra­gen.

Bernheim Ich den­ke, die Trans­for­ma­ti­on fin­det be­reits bei der ers­ten Pro­be in der Oper statt. Wenn ich in ei­ner Stadt bin und Ro­méo sin­ge, bin ich für die gan­ze Pe­ri­ode Ro­méo. Das geht mir na­tür­lich mit al­len Rol­len so: Als ich Wer­ther sang, war ich es für die ge­sam­te Pe­ri­ode. Da Wer­ther aber sehr dun­kel und trau­rig ist, war mei­ne per­sön­li­che Stim­mung eben­so. Nicht so an­ge­nehm… Wenn ich aber Ro­méo sin­ge, ist mei­ne Stim­mung hel­ler. Und das ab der ers­ten Pro­be.