Wie kochende Lava
Ballett |

Eine Frau sucht einen Weg. Vorsichtig tastend setzt sie leicht hinkend einen Schritt vor den anderen. Plötzlich bricht sie zusammen, richtet sich aber sogleich wieder auf und führt gedankenversunken eine Hand an den Kopf. Sie wendet sich nach vorne, zum Orchester und seinem Dirigenten, dann zu uns Zuschauern – und als würde sie ihren sich langsam öffnenden Armen entströmen setzt die Musik ein: die ersten Takte von Gustav Mahlers Symphonie Nr. 4 G-Dur.
Es ist ein Beginn wie eine Initiation, mit dem Martin Schläpfer sein Ballett 4 eröffnet. Dieses entstand im Herbst 2020 als erstes Werk des Schweizer Choreographen, der gerade die Leitung des Wiener Staatsballetts übernommen hatte. Die gesamte Compagnie wollte er damals auf die Bühne bringen – und mehr, mit jedem einzelnen persönlich arbeiten. Zum Finale seiner fünfjährigen Direktionszeit kehrt das großformatige Ballett nun im Rahmen des Programms Mahler, live an der Seite von Hans van Manens Videoballett Live für zwei Vorstellungen auf den Spielplan zurück. Patrick Lange dirigiert das Orchester der Wiener Staatsoper. Florina Ilie singt das Sopransolo vom »Himmlischen Leben«.
Lesen Sie hier Auszüge aus einem Interview, das Anne do Paço mit Martin Schläpfer für das Programmheft führte:
Welche Qualitäten und Impulse eröffnet Mahlers Musik für den Tanz?
Mahlers Musik löst durch ihren Assoziationsreichtum starke Bilder in mir aus. Sie ist ohne Scham und Scheu an so vielen Orten: ob sie nun Natur porträtiert, lautmalerisch oder kindlich-naiv ist, ins Transzendente geht oder in menschliche Kollektive hinein zeigt. Mahler hat sich nie gescheut, sich zu exponieren – und dies mit dieser unglaublichen Lust und Sinnlichkeit. Er hatte einen Mut zur Euphorie und zur Übertreibung, der immer genau auf Messers Schneide sitzt, so dass man nie weiß: wird jetzt gleich geschnitten oder kommt man noch einmal davon. Zugleich ist in dieser Musik ist alles drin, was den Menschen umtreibt und wonach er sich sehnt: von Trauer bis Hoffnung, aber ohne alle vordergründige Dramatik, ohne alles Pathos. Sich mit Mahlers Musik zu beschäftigen, heißt für mich aber auch, mich mit seiner Biographie zu beschäftigen. Ein Künstlerballett über sein Leben zu machen, hat mich aber nicht interessiert. Mir ging es um die Stimmungen, in denen er sich befand, die Emotionalität im Zwischenmenschlichen, auch sein Jüdisch-Sein – und dann konvertiert er zum Katholizismus, um Hofoperndirektor werden zu können, was Juden damals untersagt war. Mich interessierte die »Temperatur«, die sich aus einem solchen Leben extrahieren lässt, und die Frage: Was hat das alles mit uns zu tun?
4 ist eine Choreographie, die du deinem Ensemble quasi in den Körper hineingeschrieben hast – allen 101 Tänzerinnen und Tänzern hast du deine Arbeit gewidmet.
Mir war es wichtig, meine Arbeit in Wien mit einer Uraufführung zu beginnen, mich nicht auf der sicheren Seite mit der Einstudierung eines meiner bekannten Werke zu positionieren, sondern das Risiko nicht zu scheuen. Denn nur, indem ich mit jedem Tänzer von Anfang an in einen Dialog trete, kann ich jeden auch kennenlernen. Erstmals sind auch die Mitglieder des Corps de ballet der Volksoper in einer Staatsopernpremiere zu erleben.
»Für mich ist der Tänzer die Krone der Choreographie, der schöpferische Künstler, der im Moment des Tanzens meinen Text interpretiert und versteht, was sein kleiner Satz im Kontext eines großen Zusammenhangs bedeutet.«
Bei einem Stück für eine derart große Besetzung muss man sich natürlich davon lösen, dass nur ein Solo oder ein Pas de deux eine erfüllende Aufgabe ist. Vielmehr entfalten auch Gruppensequenzen – so man sie energetisch richtig anlegt – eine große Kraft. Für mich gibt es keine kleinen oder großen Rollen. Der Tänzer im Hintergrund wird genauso gesehen und gespürt wie derjenige in der ersten Reihe. Die Energie, Persönlichkeit und Kunstfertigkeit jedes einzelnen ist wichtig – wie viel Seele, Konzentration und Hingabe jeder gibt. Zugleich geht es aber auch um die Frage, wie bescheiden man in einem Unisono sein kann, sodass ein Ensemble wie ein großartiges Orchester klingt. Ein solches Eins-Sein hat nichts mit Bedeutungsverlust eines einzelnen Solisten zu tun, sondern ist ein Akt der Demut: den Nächsten mitzudenken, sein Timing und seine Gefühle zu spüren. Sich als Individuum mit seiner Persönlichkeit zu präsentieren, aber zugleich auch der Idee eines Stückes und einem Kollektiv zu dienen – und diesem als Publikum zusehen zu dürfen –, finde ich großartig. Es ist der Kern einer demokratischen Gesellschaft, der Kern einer Zivilisation, die auf Toleranz aufbaut …
… einer Toleranz, die nicht alle gleich macht, sondern jeden respektiert soweit er der Idee eines solchen Miteinanders dient …
… aus meiner Sicht das Werkzeug, um der Menschheit eine mögliche Zukunft zu geben.
Die Gruppensequenzen, mit denen du auf die Musik des ersten Satzes der 4. Symphonie reagierst, sind also sehr viel mehr als nur ein großes, eher abstraktes tänzerisches Prisma?
Exakt. Und es kommt noch ein weiterer Punkt hinzu: Auch in diesen Szenen, in denen sich meine Faszination für die großen Divertissements der romantischen Ballette spiegelt, zeigt sich, dass meine Grundlagen akademischer Natur sind. Doch für mich muss die muskuläre Form jedes einzelnen Tänzers brennen, von innen heraus extrem sein, nicht als ästhetische Idee, sondern als Akt des Sich-Selbst-Gebens. Meine Tänze sollen wie kochende Lava sein. Das Vokabular der Danse d’école bleibt so für mich nicht nur eine Floskel aus der Vergangenheit, sondern füllt sich mit neuem Leben.