Wenn Beethoven mitprobt

Interview |

Regisseur Nikolaus Habjan gibt mit »Fidelio« sein Hausdebüt an der Wiener Staatsoper.

»Ich möch­te kei­nen Fi­de­lio se­hen, der et­wa an der deutsch-deut­schen Gren­ze spielt. Al­so ei­ne Pro­duk­ti­on, die ei­ne ganz kon­kre­te po­li­ti­sche oder ge­sell­schaft­li­che Si­tua­ti­on er­zählt. Der Fi­de­lio funk­tio­niert mei­ner Mei­nung nach nur, wenn er all­ge­mein ge­hal­ten ist.« So um­riss der Re­gis­seur Ni­ko­laus Hab­jan vor ei­nem Jahr ers­te Ide­en zu sei­ner »Fi­de­lio«-In­sze­nie­rung. Nun ist es so weit, die Pro­ben sind an­ge­lau­fen, und die Pre­mie­re zu Beetho­vens ein­zi­ger Oper steht vor der Tür. War­um Leo­no­re und Flo­res­tan mit Pup­pen ge­dop­pelt wer­den, wie bö­se Don Pi­zar­ro wirk­lich ist und wes­halb Roc­co ein letzt­lich schätzens­wer­ter Cha­rak­ter ist – dar­über sprach Ni­ko­laus Hab­jan mit Oli­ver Láng.

Vor ei­ni­gen Ta­gen wur­de in ei­nem Fern­seh­bei­trag über Al­brecht Dü­rer be­schrie­ben, wie stark er durch sei­ne Zeich­nun­gen die Welt er­grün­de­te. Geht es Ih­nen als Re­gis­seur ähn­lich? Ler­nen Sie über Ih­re In­sze­nie­run­gen, über Fi­gu­ren wie Le­o­no­re und Roc­co et­was über un­ser Le­ben?

Das ist ei­ne sehr gu­te Fra­ge. Al­so: De­fi­ni­tiv ja. Mei­ne Ar­beit als Re­gis­seur, aber auch als Pup­pen­spiel­er, ist für mich ein gro­ßes Er­kun­den des Da­seins. In­dem ich Phä­no­me­ne des Le­bens und der Ge­sell­schaft auf die Büh­ne brin­ge, ler­ne ich die Welt ken­nen. Ge­ra­de, wenn es um gro­ße und ak­tu­el­le The­men und um das mo­ra­li­sche Han­deln wie in »Fi­de­lio« geht.

Zum Ak­tu­el­len und Mo­ra­li­schen kom­men wir gleich. Zunächst aber, weil ich Sie ge­ra­de so un­ge­mein en­ga­giert und glück­lich in ei­ner Ar­beits­si­tua­ti­on er­lebt ha­be: Ist das in­ten­si­ve Tüf­teln an ein­zel­nen Ges­ten, Wor­ten und Nu­an­cen am Be­ginn der Pro­ben­pha­se für Sie das Schöns­te? Weil noch al­les of­fen ist?

Ja, das lie­be ich! Weil wir in die­sen frü­hen Pro­ben ge­mein­sam die Fi­gu­ren von oben bis un­ten durch­leuch­ten und sie im De­tail ana­ly­sie­ren kön­nen. Es ist schön, Wor­te und No­ten im­mer wie­der neu zu un­ter­su­chen, um­zu­dre­hen und sie aus un­ter­schied­li­chen Blick­win­keln zu be­trach­ten. Ich fan­ge die Pro­ben im­mer da­mit an, dass die Sze­ne ein­mal durch­ge­sungen wird, da­mit wir mit der Mu­sik im Kopf zu ar­bei­ten be­gin­nen: Was sagt sie uns? Was meint der Di­ri­gent da­zu? Dann brin­ge ich mei­ne Ge­dan­ken ein, es kom­men Im­pul­se von den Sän­ge­rin­nen und Sän­gern, In­tu­i­ti­ves. Und dann ent­ste­hen im­mer wie­der die­se be­son­de­ren Mo­men­te, wenn mei­ne Ide­en und die der an­de­ren so­wie die Mu­sik Beeth­ovens sich an ei­nem Punkt tref­fen. Das ist un­ge­mein be­frie­di­gend und ei­ne spür­ba­re Rie­sen­freu­de für al­le. Was jetzt aber nicht be­deu­ten soll, dass an­de­re Pha­sen der Ar­beit nicht eben­so schön wä­ren. Oder das Er­geb­nis. Es ist wun­der­schön, wenn man in der Auf­füh­rung sitzt und als Zu­schau­er ein­fach nur ver­steht, war­um wel­che Fi­gur et­was macht und al­les ganz schlüs­sig und na­tür­lich wirkt, kein ge­woll­tes Kon­zept durch­schim­mert. Ich sa­ge im­mer: Die schöns­ten Mo­men­te sind die, wenn man die Re­gie nicht spürt.

Was schon in den Vor­ge­sprä­chen au­gen­fäl­lig war, ist, wie in- und aus­wen­dig Sie das Stück ken­nen. Je­den In­stru­men­tal­ein­satz, je­den Bei­strich.

Was, wie ich fin­de, ein­fach nur die Auf­ga­be des Re­gis­seurs ist. Es ist un­ab­ding­bar, das Werk, an dem man ar­bei­tet, bis ins kleins­te De­tail zu ken­nen.

Wie klar ist das Bild, das Sie vor ei­ner Pro­be vor sich ha­ben? Gibt es ein Re­gie­buch, in dem al­les schon fix und fer­tig ein­ge­tra­gen ist? Oder geht es mehr um ei­ne ge­ne­rel­le Rou­te?

Ich ha­be im­mer ei­nen Plan, der nicht nur die all­ge­mei­ne Rich­tung, son­dern auch viel im De­tail ent­hält. Aber – und das ist ent­schei­dend – ich bin im­mer be­reit, die­sen Plan auf­zu­ge­ben, wenn sich in der Pro­ben­ar­beit et­was Bes­se­res er­gibt. E­gal, ob mir et­was Gu­tes ein­fällt oder je­mand an­de­rem. Da­mit ha­be ich kein E­go-Pro­blem. Denn die Auf­ga­be ei­nes Re­gis­seurs ist ja nicht nur, ei­nen sze­ni­schen Weg zu fin­den, son­dern al­le zu­sam­men­zu­brin­gen und die best­mög­li­che Lö­sung zu ent­wi­ckeln.

Vor­hin, am En­de des Vor­mit­tags, sag­ten Sie: »Jetzt war ge­ra­de Beet­ho­ven in der Pro­be!« Wie war das ge­meint?

Da­mit mein­te ich ei­nen die­ser vor­hin an­ge­spro­che­nen Mo­men­te, in de­nen al­les zu­sam­men­kommt und al­le an ei­nem Strang zie­hen. Man spürt förm­lich: So, wie wir das mit un­se­rem Herz­blut er­ar­bei­tet ha­ben, so wür­de es Beet­ho­ven ge­fal­len, denn sei­ne Mu­sik ist mit der Sze­ne ver­wo­ben. Es ist eben, als wä­re er da­bei ge­we­sen. Man darf nie ver­ges­sen, dass er ein gro­ßer Thea­ter­lieb­ha­ber war, ein Thea­ter­ge­her, ein am Thea­ter In­ter­es­sier­ter, der vie­le Büh­nen­tex­te be­a­r­bei­tet und Schau­spiel­mu­si­ken ge­schrie­ben hat. Dem­ent­spre­chend stößt man in sei­ner Kom­po­si­ti­on oft­mals auf sze­nisch klu­ge Ent­schei­dun­gen. Er war mehr als »nur« Kom­po­nist.

Die Wie­ner Staats­oper hat sich von ei­ner In­sze­nie­rung ver­ab­schie­det, die 55 Jah­re am Re­per­toire stand und für man­che prä­gend war. Müs­sen Sie sich als Re­gis­seur an die­ser al­ten Set­zung ab­ar­bei­ten? Oder ma­chen Sie ein­fach Ih­ren Fi­de­lio, ganz un­ab­hän­gig da­von, was war?

Zwei­te­res! Ich ha­be nicht dau­ernd Ot­to Schenks Ar­beit in mei­nem Kopf, um es dann be­wusst an­ders zu ma­chen. Dar­um geht es über­haupt nicht. Wie es auch nie dar­um geht, ir­gend­je­man­den zu pro­vo­zie­ren, der die In­sze­nie­rung moch­te. Son­dern: Die­se Pro­duk­ti­on wur­de seit 1970 ge­spielt, über 250-mal. Und das ist für ei­ne Ar­beit ein­fach ei­ne sehr lan­ge Zeit. Und es liegt in der Na­tur von Oper und Thea­ter, dass wir Din­ge er­neu­ern. Na­tür­lich ha­be ich mich mit dem Fi­de­lio an der Staats­oper be­schäf­tigt, mit sei­ner Auf­füh­rungs­ge­schich­te, und über­legt, was ich in mei­ne In­sze­nie­rung ein­flie­ßen las­se. Auch un­ter dem Ge­sichts­punkt: Was ha­be ich viel­leicht in an­de­ren Stü­cken schon be­han­delt? In mei­nem Stück über Karl Böhm et­wa ha­be ich mich mit ihm aus­ein­an­der­ge­setzt – das muss ich nicht auch in die Fi­de­lio-In­sze­nie­rung hin­ein­pa­cken.

Wie po­li­tisch kon­kret le­gen Sie Ih­re Ar­beit an? Neh­men Sie et­wa auf be­stimm­te his­to­ri­sche Mo­men­te Be­zug, die man wie­der­er­ken­nen soll? Ver­or­ten Sie den Fi­de­lio in ei­ner re­al be­ste­hen­den oder ei­ner ehe­ma­li­gen Dik­ta­tur?

Nein, das wür­de das Werk klei­ner ma­chen. Wenn man dar­über nach­denkt, was Beet­ho­ven mit sei­nen Wer­ken woll­te, dann stößt man im­mer wie­der auf ei­ne ganz gro­ße Ide­a­li­sie­rung. Und ei­ne sol­che steht über ei­ner kon­kre­ten Epo­che. Da­her möch­te ich et­was schaf­fen, das letzt­lich zeit­un­ab­hän­gig ist. Je we­ni­ger ich nun ver­su­che, die Hand­lung in ei­ne en­ge, zeit­lich oder po­li­tisch exak­te Si­tua­ti­on zu set­zen, des­to zeit­lo­ser wird die Ar­beit. Es geht um die gro­ßen The­men, die Beet­ho­ven ver­han­delt, und die ver­steht man auch ganz klar, oh­ne ei­nen his­to­ri­schen Be­zugs­rah­men zu nüt­zen.

In Ih­rer Ar­beit sind die­se gro­ßen The­men aber nicht nur Lie­be, Mut und Be­frei­ung, son­dern auch die Wand­lung ei­ner schein­ba­ren Ne­ben­fi­gur: Ro­cco.

Ich fin­de, das Wich­tigs­te in dem Stück ist Ro­cco, der ei­gent­lich die Haupt­rol­le ist. Denn er ist die ein­zi­ge Fi­gur, die ei­ne Ent­wick­lung durch­macht. Da­her kon­zen­trie­re ich mich be­son­ders auf ihn. Üb­ri­gens: Auch Ro­cco ist zeit­los.

Ro­cco al­so. Ein Sym­pa­thie­trä­ger ist er nicht. Den­noch be­ur­tei­len Sie ihn viel po­si­ti­ver, als er in vie­len an­de­ren In­sze­nie­run­gen aus­steigt. Er ist ein klas­si­scher Mit­läu­fer, mit ei­ner un­an­ge­nehm aus­ge­präg­ten Nei­gung zum Geld.

Wenn wir in un­se­re Welt schau­en, sind wir al­le Mit­läu­fer. Selbst der bes­te Mensch ist ir­gend­wo ein­mal mit­ge­lau­fen, und kei­ne und kei­ner von uns kann sich da aus­neh­men. Man darf auch nicht dem Irr­tum an­heim­fal­len, dass Leo­no­re die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur der Oper wä­re. Denn sie ist es nicht. Sie ist ein Vor­bild, die Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur aber ist Ro­cco. Leo­no­re ist ein Ar­che­typ, die Hel­din. Ro­cco hin­ge­gen ein Mensch mit Schwä­chen, mit Gier, Angst, Feig­heit, und er ist mit mo­ra­lisch pa­tho­lo­gi­scher Fle­xi­bi­li­tät aus­ge­stat­tet. Und doch: Er stellt ei­ne klei­ne Wei­che, in­dem er sich nicht mehr von Pi­zar­ro, son­dern von Leo­no­re be­ein­flus­sen lässt. Das ist ei­ne klei­ne, schnell über­se­he­ne Ent­schei­dung. Aber sie ist es, die – grö­ßer ge­dacht – auch un­se­re Welt zum Bes­se­ren wen­den kann.

Ro­cco ist al­so das Lehr­bei­spiel, das man mit­neh­men kann.

Ich glau­be, wenn man Leu­ten mit­teilt: Du musst jetzt ei­ne Hel­din sein!, dann schüch­tert das nur ein, man fällt in Schock­star­re, und es pas­siert gar nichts. Wenn man aber sagt: Ihr müsst nicht per­fekt sein, aber ach­tet ein­fach dar­auf, wo­von ihr euch be­ein­flus­sen lasst, kann das viel ver­än­dern. Dann denkt sich viel­leicht je­mand: Ja, ich hö­re lie­ber auf Fi­de­lio und nicht auf Pi­zar­ro. Klei­ne Ent­schei­dung – rie­si­ge Kon­se­quenz.

Wie steht es um Ja­qui­no? Er bringt in Ih­rer In­sze­nie­rung viel Ag­gres­si­vi­tät und Be­drän­gen­des ins Spiel. Ist er ein noch klei­ner Ro­cco mit der Chan­ce zum Bes­se­ren oder doch schon ein Pi­zar­ro?

Bei Pi­zar­ro geht es um Le­ben und Tod, er steht kurz vor dem Zu­sam­men­bruch, und er will sich durch ei­ne ex­tre­me Tat – den Mord an Flo­res­tan – ret­ten. Ja­qui­no hin­ge­gen se­he ich von Mar­zel­li­ne aus. Da ist ei­ne Frau, die zu­vor kei­ne an­de­re Chan­ce hat­te, als Ja­qui­no zu hei­ra­ten, was sie mit ei­ner fa­ta­lis­ti­schen Gleich­gül­tig­keit ge­tan hät­te. Plötz­lich aber sieht sie durch Fi­de­lio Frei­heit, Hoff­nung und die gro­ße Lie­be. Ja­qui­no ist für sie nun ab­so­lut nicht mehr denk­bar, mehr noch: Sie sieht den Ge­dan­ken ei­ner Ehe mit ihm als Ge­fähr­dung, als Be­drän­gung. Nicht um­sonst singt sie: »Es wur­de zu To­de mir bang.« Da­zu kommt, dass auch ihr Va­ter Ro­cco et­was für Fi­de­lio emp­fin­det und sich auf ei­ner ge­wis­sen Ebe­ne eben­falls in ihn ver­liebt hat. Ja­qui­no, der sich sei­ner Ehe-Sa­che schon si­cher war, merkt, wie ihm die Sa­che ent­glei­tet. Da­her die­se pa­ni­sche Ag­gres­si­on, er ver­sucht Mar­zel­li­ne zu hal­ten – und plötz­lich es­ka­liert al­les.

Zu­rück zu Pi­zar­ro. Ist er nur ein Ge­trie­be­ner? Oder so ab­so­lut bö­se wie Ja­go, Ha­gen, sa­dis­tisch wie Scar­pia?

Für mich ist Pi­zar­ro ein klei­ner Feig­ling, schwer nar­ziss­tisch, oh­ne Em­pa­thie, ei­ner, der sich im­mer ein­re­det, groß zu sein. Er macht die­se kla­re Rech­nung: Wenn ent­deckt wird, dass Flo­res­tan ein­ge­ker­kert ist, ist mei­ne Exis­tenz ge­fähr­det. Al­so muss die Exis­tenz von Flo­res­tan ver­nich­tet wer­den, mit al­len Be­wei­sen. Es geht al­so nicht um ei­nen ge­plan­ten Mord, son­dern um die Angst, über­führt zu wer­den. Mir ist zu­dem wich­tig, sei­ne Dop­pel­ge­sich­tig­keit zu zei­gen, denn Pi­zar­ro kann ganz un­ter­schied­lich wir­ken: In den we­ni­gen Mo­men­ten, in de­nen er in der Öf­fent­lich­keit steht, will ich ihn so sym­pa­thisch wie mög­lich zei­gen, da­hin­ter steht aber ein mick­ri­ger Mensch. Der lei­der in ei­ner Po­si­ti­on ist, in der er viel Leid an­rich­ten kann.

»Ich habe oft erlebt, dass der Schlussjubel ein wenig sabotiert beziehungsweise in ein dystopisches Licht gerückt wurde. Das geht sich aber mit der Musik Beethovens einfach nicht aus.«

Sie spra­chen vom Ide­a­li­sie­rungs-Mo­tor, der Beet­ho­ven an­trieb. Und so muss man die Fi­gur von Leo­no­re auch se­hen: Ei­ne Hel­din, die al­les da­ran­setzt, die Per­son, die sie liebt, zu ret­ten. Wo­rin liegt aber – pro­vo­kant ge­fragt – die wirk­lich ex­em­pla­risch gro­ße Tat? Sie ver­klei­det sich, und im ent­schei­den­den Mo­ment der Kon­fron­ta­ti­on mit dem Bö­sen ist sie deut­lich bes­ser be­waff­net als Pi­zar­ro. Ei­ne Tos­ca ist ja eben­so be­reit, vie­les zu tun, um ih­ren Ge­lieb­ten zu ret­ten, wie vie­le an­de­re auch. Das Ho­he­lied sin­gen wir aber Leo­no­re.

Na­tür­lich ist das auch der Zeit ge­schuld­et – und der gro­ßen Ide­a­li­sie­rung, die da drin­nen steckt und mit der man um­zu­ge­hen ler­nen und die man zu­las­sen muss. Ich ha­be oft er­lebt, dass der Schluss­ju­bel ein we­nig sa­bo­tiert be­zie­hungs­wei­se in ein dys­to­pi­sches Licht ge­rückt wur­de. Das geht sich aber mit der Mu­sik Beet­ho­vens ein­fach nicht aus. Ab­ge­se­hen da­von fin­de ich es durch­aus ei­nen Ver­such wert, ein­mal zu sa­gen: Lass das Hap­py End zu und die Leu­te fei­ern. Das ist ja auch schön.

Aber kann der Ju­bel nicht auch et­was Amt­li­ches be­kom­men, im Sin­ne von: Jetzt wird ge­ju­belt, es ist wie­der ei­ne Ob­rig­keit da, das ist die neue Marsch­rich­tung?

Das Schö­ne ist, dass der Mi­nis­ter ei­gent­lich gar kei­ne Rol­le spielt, oder nur je­ne, dass er Pi­zar­ro Angst macht. Be­vor er aus­re­den kann, fährt ihm Ro­cco mit­ten in die Re­de, und Leo­no­re wird am Schluss der Mo­ment ge­schenkt, ih­ren Gat­ten von den Fes­seln zu be­frei­en. Mir ge­fällt es sehr, dass Beet­ho­ven die­sen sphä­ri­schen Mo­ment kre­iert hat, dem der Ju­bel folgt. Es ist Flo­res­tan, der sagt, dass er es oh­ne sei­ne Frau nicht ge­schafft hät­te, nicht die Stim­me des Kö­nigs. Es geht al­so we­ni­ger um ein »Von-Oben« als um ein »Von-Mensch-zu-Mensch«.

Wie steht Le­o­no­re zu all dem Ju­bel? Sie wird zum neu­en Ide­al. In Ih­rer In­sze­nie­rung wird das so­gar bild­lich er­fahr­bar.

Bei al­lem, was wir tun, kann vor­kom­men, dass plötz­lich ei­ne nicht zu kon­trol­lie­ren­de Ver­selbst­stän­di­gung ein­tritt. Das ist bei der Ver­klei­dung von Le­o­no­re so, wenn sich Mar­zel­li­ne in sie ver­liebt, und das ist am En­de der Oper so, wenn Le­o­no­re zum Sym­bol der Be­frei­ung von po­li­ti­scher Un­ter­drü­ckung wird. Sie per­sön­lich in­ter­es­siert sich für so et­was nicht. Nach der Be­frei­ung Flo­res­tans ist die Ge­schich­te für sie er­zählt. Was dann noch pas­siert, ist viel­mehr für die an­de­ren von gro­ßer Be­deu­tung.

Sie set­zen in die­ser Pro­duk­ti­on gro­ße Pup­pen ein, die das Paar Le­o­no­re–Flo­res­tan er­gän­zen. Ent­kom­men Sie dem Pup­pen­spiel, das ei­nen wich­ti­gen Be­reich Ih­rer Ar­beit aus­macht, nicht mehr? Oder ver­wen­den Sie die Fi­gu­ren, weil Sie et­was zei­gen kön­nen, das sonst viel schwie­ri­ger zu ver­mit­teln wä­re?

Wenn ich Pup­pen ein­set­ze, muss für mich im­mer ein kla­rer Mehr­wert da­hin­ter­ste­hen. Neh­men wir Le­o­no­re: Wir ha­ben ei­ne Frau, die un­ter dem Na­men Fi­de­lio als Mann ver­klei­det ih­ren Gat­ten ret­ten will. Nun ist sie im ewi­gen Zwies­palt zwi­schen hef­tigs­ter Emo­tio­na­li­tät und dem Druck, ih­re Iden­ti­tät zu ver­ber­gen. Das ist auf dra­ma­tur­gi­scher Ebe­ne sehr span­nend, ist aber auf der Büh­ne ex­trem schwie­rig dar­zu­stel­len. In un­se­rem Fall ha­be ich die Fi­gur auf­ge­spal­ten: Die Sän­ge­rin Ma­lin By­ström ver­kör­pert die in­ne­re Ge­fühls­welt Le­o­no­res, und die Pup­pe ist das, was die an­de­ren zu Ge­sicht be­kom­men: ein kon­trol­liert zu­rück­hal­ten­der Fi­de­lio. So kann ich all die Span­nun­gen, die sich durch die Ver­klei­dung er­ge­ben, zei­gen und emo­tio­na­le Zu­stän­de viel ge­nau­er nach­zeich­nen. Et­wa wie es Le­o­no­re das Herz bricht, so­bald sie rea­li­siert, was sie Mar­zel­li­ne an­tut – sie es aber den­noch macht, weil sie ein grö­ße­res Ziel vor Au­gen hat. Die­sen Kampf kön­nen wir mit der Kom­bi­na­ti­on Mensch–Pup­pe sehr deut­lich zei­gen. Für Sän­ge­rin­nen und Sän­ger ist das mit­un­ter an­fangs un­ge­wohnt, doch im Lau­fe der Pro­ben zeigt sich im­mer, dass nicht 50 Pro­zent an Schau­spiel weg­fal­len, son­dern wir zwei­mal hun­dert Pro­zent ha­ben: Hun­dert Pro­zent Mensch, hun­dert Pro­zent Pup­pe.

Wie­so aber dop­peln Sie Flo­res­tan? Er ist ja im­mer nur ei­ne Per­son, nie ver­stellt, nie ver­klei­det.

Das hat pa­ra­do­xer­wei­se mit dem Ver­such zu tun, das Spiel rea­lis­ti­scher zu ma­chen. Mit ei­ner Pup­pe kann ich die Trau­ma­ta des In­haf­tier­ten prä­zi­ser zei­gen, ich kann ei­ne Fi­gur dar­stel­len, die zwei Jah­re in völ­li­ger Dun­kel­heit, fast oh­ne Nah­rung, im Ker­ker da­hin­ve­ge­tiert. Wir ha­ben al­so den Sän­ger –
das ist Flo­res­tan, wie sich Le­o­no­re an ihn er­in­nert. Und wir ha­ben die Pup­pe –
das ist der Ge­fan­ge­ne nach zwei Jah­ren Ge­fäng­nis. Au­ßer­dem gibt es vie­le Be­rich­te von Men­schen, die ver­schüt­tet wa­ren oder in un­mensch­li­cher Haft über­lebt ha­ben und sich in die­ser La­ge von sich selbst dis­tan­ziert ha­ben. Das ist ein be­kann­ter psy­cho­lo­gi­scher Vor­gang, den ich im Thea­ter dank der Pup­pe zei­gen kann. Zu­dem ent­steht so die Mög­lich­keit, sich Le­o­no­re und Flo­res­tan auch auf ei­ner neu sicht­ba­ren emo­tio­na­len Ebe­ne be­geg­nen zu las­sen.

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