Vages Wasser
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Es ist ein Solitär der Operngeschichte, ein wundersames wie geheimnisvolles Werk, das eine ganz eigene Theaterwelt heraufbeschwört: Pelléas et Mélisande. Vielschichtig und magisch, in Rätseln und Symbolen sprechend, wird eine komplexe Beziehungsstudie entfaltet, in einer seltenen Einheit von Sprache, Klang und Idee. Anlässlich der Wiederaufnahme der hochgelobten Premierenproduktion aus 2017 stellen wir Ihnen Komponist, Werk und Aufführung in zehn Schritten vor.
Wer war Claude Debussy?
Seine Kollegen nannten ihn zuweilen »Fürst der Finsternis«, und zweifellos war er mitunter durchaus ein verstörender Zeitgenosse: der französische Komponist Claude Debussy. Geboren 1862, entstammte er keiner musikalischen Familie, war kein typisches Wunderkind. Am renommierten Pariser Konservatorium fühlte er sich nicht wohl – zu traditionell und konventionell schien ihm dort vieles; auch wurde sein Stil von manchen als zu fortschrittlich und ungewöhnlich kritisiert.
Dennoch gewann er 1884 beim zweiten Versuch den berühmten Rom-Preis des Konservatoriums, der ihm eine Studienzeit in der Villa Medici der »Ewigen Stadt« ermöglichte. Doch auch dort war Debussy nicht glücklich und verließ die Stadt vorzeitig. Eine Zeit lang wirkte er als Hauspianist bei Nadeschda von Meck, der Gönnerin Tschaikowskis. 1889 auf der Pariser Weltausstellung lernte er fernöstliche Musik kennen, die ihn faszinierte.
Im Gespräch mit seinem Alter Ego »Monsieur Croche«, also »Herr Achtelnote«, schrieb er Anmerkungen zum Musikgeschehen. 1894 gelang ihm mit Nachmittag eines Fauns ein Meilenstein der Musikgeschichte, der die Hörvorstellungen seiner Zeit maßgeblich prägte. Seine Nocturnes machten ihn einem großen Publikum bekannt; 1902 wurde seine einzige vollendete Oper Pelléas et Mélisande uraufgeführt, 1905 die symphonischen Skizzen La Mer – eines der bis heute bekanntesten und meistgespielten Werke Debussys.
Er kam zu Ehren, wurde zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt und Mitglied des obersten Rates des Pariser Konservatoriums. Für viele blieb er unnahbar, sein Privatleben sorgte immer wieder für öffentliche Aufregung. 1918 starb er an einem Krebsleiden; aufgrund des Ersten Weltkriegs wurde sein Tod in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.
Wer war Maurice Maeterlinck?
Nach seinen eigenen Angaben und jenen seiner Lebensgefährtin, der Sängerin Georgette Leblanc, war Maurice Maeterlinck in höchstem Grade unmusikalisch. Nichtdestotrotz dienten seine Werke zahlreichen Komponisten als Vorlage, ja, Maeterlinck zählte sogar zu den am häufigsten vertonten Dramatikern seiner Zeit. Für den 1862 (im selben Jahr wie Debussy) im belgischen Gent geborenen Maeterlinck war ursprünglich eine juristische Laufbahn vorgesehen, doch wagte er den Weg in die Literatur und errang bereits mit seinem ersten Drama La Princesse Maleine einen so großen Erfolg, dass er schnell zu den bekanntesten Vertretern des Symbolismus wurde. Spätestens mit seinem Blauen Vogel errang er Weltruhm und 1911 auch den Literaturnobelpreis. Er starb 1949 und musste zuvor noch das allmähliche Verblassen seines Ruhmes erleben. Sein Schauspiel Pelléas et Mélisande wurde 1893 in Paris uraufgeführt.
Symbolismus
Als maßgeblichen Vertreter des Symbolismus ging es Maeterlinck nicht um eine genaue Nachbildung der Wirklichkeit oder um eine exakte Beschreibung des menschlichen Daseins. Er wollte ein Bild des Menschen zeigen, umfangen und geleitet von den Kräften der Natur, dem Einfluss und der Willkür unbekannter Mächte ausgeliefert, immer im Dialog mit dem Unzeigbaren und Unsichtbaren. Das Zwei- und Mehrdeutige dominierte. Die inneren Schichten der Existenz, das Verwobensein mit dem Metaphysischen, das Rätselhafte sowie die geheimnisbeladenen Verbindungen zwischen den Dingen waren bestimmend. Und natürlich die Symbole: Wasser und Licht, Gold und Schweigen, Natur und Dunkelheit – all das hatte erzählende Ausdruckskraft. »Der Symbolismus betonte die Macht des Unbewussten, die Sinnlichkeit der Triebe, die Feinheit der Seele, die dunklen Seiten des Lebens, das Imaginäre in wechselnder Gestalt« (Konrad Paul Liessmann).
Worum geht es in Pelléas et Mélisande?
Arkel, der König von Allemonde, hat zwei Enkel: Golaud und Pelléas. Als sich Golaud einst verirrte, trifft er auf die geheimnisvolle Mélisande und heiratet sie. Doch Mélisande leidet unter der bedrückenden Dunkelheit im Königreich Allemonde. Sie und Pelléas, Golauds jüngerer Bruder, fühlen sich zueinander hingezogen und gestehen sich schließlich ihre Liebe. Von Eifersucht getrieben, überrascht Golaud die beiden, tötet Pelléas und verletzt die schwangere Mélisande. Nach der Geburt ihres Kindes stirbt sie, ohne Golaud die letzte Wahrheit über ihre Beziehung zu Pelléas preiszugeben.

Die Entstehungsgeschichte der Oper
1892 erschien Maurice Maeterlincks Schauspiel Pelléas et Mélisande, die Uraufführung fand ein Jahr später statt – Debussy wohnte dieser Aufführung bei. Er plante, aus dem Stück eine Oper zu machen, und erhielt von Maeterlinck die Genehmigung, einschließlich der Erlaubnis zu Textkürzungen. 1895 war die Kompositionsarbeit vorläufig abgeschlossen, doch bis zum Uraufführungsjahr 1902 kam es noch zu zahlreichen Überarbeitungen. 1897 gab Debussy vor Freunden eine Privataufführung der Oper am Klavier und übernahm auch gleich alle Gesangspartien. Später überwarf er sich mit Maeterlinck, der versuchte, seiner Lebensgefährtin Georgette Leblanc die Partie der Mélisande zuzuspielen. Als dies nicht gelang, erklärte er sein Werk durch die von Debussy erfolgten Kürzungen verunstaltet und versuchte erfolglos, eine Aufführung zu verhindern. Bei der Generalprobe von Pelléas et Mélisande am 27. April 1902 kam es zu tumultartigen Protesten des Publikums. Die Uraufführung selbst fand drei Tage später statt; der Erfolg der Oper stellte sich erst nach und nach ein.
Die Musik
»Die Musik beginnt dort, wo die Möglichkeiten der Sprache enden; sie ist für das Unaussprechliche gemacht; ich will, dass sie so wirkt, als ob sie aus einem Schatten hervortritt und dass sie zeitweise dorthin zurückgeht.« Und: »Ich werde den Irrtümern des Musiktheaters nicht folgen, wo die Musik frech dominiert; wo die Dichtung auf den zweiten Platz verbannt wird, erstickt von einer zu dicken musikalischen Verkleidung.« Das sind zwei bekannt gewordene Aussagen des Komponisten über das Wesen seiner Musiksprache, und beide sind auf Pelléas et Mélisande anwendbar. In einer Zeit, in der Debussy bedauernd das Geheimnisvolle, das Mysteriöse immer weiter am Rückzug sah, war das Kunstwerk, speziell die Musik, für ihn noch Trägerin des Rätselhaften. Daher zählt das Intuitive zum bestimmenden Moment des Schaffens: Wie durch Zauber wandelt sich der Eindruck eines erlebten Naturspektakels, wie das Rauschen des Meeres, in musikalischen Ausdruck – intellektuell kaum nachvollziehbar.
Von den traditionellen Formen wie der italienischen Nummernoper oder dem Wagner’schen Musikdrama wandte sich Debussy bewusst ab, auch wenn ohne Zweifel gerade Wagners Tristan und Isolde wie auch dessen Parsifal ihren musikalischen Abdruck in Pelléas et Mélisande hinterlassen haben. Stark orientiert an der französischen Sprachmelodie folgt Debussys Pelléas-Musik ihren eigenen Gesetzen und stellt neue Regeln auf. Es ist ein Wendepunkt in der Klangbehandlung, im Umgang mit einer neuen Freiheit und einem Abbilden des Unsagbaren. Das Unergründliche der Handlung wird in scheinbaren Unschärfen der Musik gespiegelt. Nicht umsonst sprach der Komponist und Dirigent Pierre Boulez von einer erstmals wahrnehmbaren Instabilität in der Musik – eine Instabilität, die das typische Gefühl der Modernität darstellt.
Debussy und der Impressionismus
Immer wieder wird Debussys Musik mit dem Schlagwort impressionistisch versehen. Er selbst lehnte diese Zuschreibung vehement ab. Der Versuch, Natur möglichst realistisch abzubilden, dabei aber das Handwerkliche der Kunst nicht zu verheimlichen, widersprach seinen künstlerischen Intentionen. Das reine Nachzeichnen eines (Natur-)Eindrucks schien ihm schlichterdings zu wenig. »Mit Impressionismus wird meistens etwas Unscharfes, Nicht-Fokussiertes gemeint, etwas Zufälliges. Und das passt nicht! Debussy wusste ganz genau, wie Pelléas und Mélisande ihre Worte betonen sollten, er hatte den genauen Ausdruck der Musik präzise im Ohr. Es sind vielleicht impressionistische Farben im Spiel, wobei Impressionismus ja auch viele unterschiedliche Ausformungen hatte, aber die Musik ist nicht impressionistisch an sich.« (Alain Altinoglu)
Wie nähert man sich Debussys Musik?
Kate Lindsey: »Da ich diesmal meine erste Mélisande singe, lerne ich viel in der Vorbereitung dieser Rolle. Ich konzentriere mich dabei stark auf die Verständlichkeit des Textes. Für Debussy selbst war dies von größter Bedeutung: Aus diesem Grund lässt er die Gesangslinien selten übereinander laufen. Denn kompositorisch und theaterpraktisch sah er in Hinblick auf die Klarheit des Textes keinen Sinn darin, Sängerinnen und Sänger gleichzeitig singen zu lassen. Für mich steht also der Text an erster Stelle, und daran arbeite ich sehr intensiv. Allerdings ist die Musik mit ihren häufigen Taktwechseln und komplexen Tonarten auch eine besondere Herausforderung. Die Vorbereitung ist bei Debussy also höchst anspruchsvoll und zeitintensiv, sie erfordert enorme Konzentration. Aber es lohnt sich! Je mehr ich mich in diese Partitur vertiefe, umso mehr wird mir klar, was für ein Meisterwerk Pelléas et Mélisande ist.«

Die Inszenierung
Die Inszenierung der aktuellen Produktion stammt von Marco Arturo Marelli, der für die Wiener Staatsoper zahlreiche Regiearbeiten geschaffen hat. Er ist derzeit der einzige lebende Regisseur, der die höchste Staatsopern-Auszeichnung, die Ehrenmitgliedschaft, trägt. Bestimmendes Element des ebenfalls von Marelli gestalteten Bühnenraumes ist eine große Wasserlandschaft. Für diese sprechen »das ruhige Dahinfließen, das Innehalten oder plötzliche Stocken, die Wirbel an der täuschenden Oberfläche, die unsichtbaren und gefährlichen Strömungen in der Tiefe, die Brechung von Hell und Dunkel ebenso wie der Abgrund bodenloser Dunkelheit in Debussys Musiksprache«, so Marelli. Und weiter: »Wasser ist für mich auch ein Bild für die Heimsuchung von Verdrängtem, von unbekannten, drohenden Katastrophen. Es ist das Medium traumhafter Wahrnehmung.«
Über seine hochgelobte Pelléas-Arbeit schrieb etwa Ljubiša Tošić im Standard: »Marco Arturo Marelli ist natürlich auch ein Virtuose der eindringlichen Bilder, die sich einen Hauch von Abstraktion gönnen, um immer offen zu sein für kleine Irritationen und Metamorphosen, deren Sinnhaftigkeit sich mit optischem Zauber vereint. Das Schloss, in dem sich einer Familienaufstellung ähnelnde Szenen abspielen, ist zwar Symbol der Aussichtslosigkeit und des Eingeschlossenseins auch in diffuser Todesahnung. Mitunter erstrahlt diese räumliche Härte aber im Lichte flüchtiger Hoffnung: Vor allem Wasser wird dabei zu jenem erhellenden Element, das auch mit der Klangpoesie dieser Oper optisch korrespondiert. Der Regisseur in Marelli versteckt die brutalen, letztlich letalen Aspekte dieses Werkes aber auch nicht hinter artifizieller Kitschsymbolik. Die Bootsfahrt von Mélisande und ihres sie durchs Wasser ziehenden Pelléas hat zwar schüchterne Züge einer nie direkt ausgelebten Zärtlichkeit. Die Inszenierung jedoch zieht dann aus der explosiven Gefühlsenge Golauds und dessen von Eifersucht befeuerter Raserei quasi realistische Schlüsse.«