Therapiestunde mit Pelléas
Interview |

In New York ist es noch früh am Morgen.
Doch er ist schon wach und voll da (»Ich habe den Jetlag noch nicht überstanden«) und ist bereits am Arbeiten. Für die Mozartwoche in Salzburg, für seine aktuelle Inszenierung von La sonnambula an der Metropolitan Opera, für die Wiener Wiederaufnahme von Pelléas et Mélisande. Er, das ist Rolando Villazón, der ab sechs Uhr früh auf den Beinen ist und zwischen Debussy, Bellini, Wien, Salzburg und New York auch Zeit für ein Interview findet.
Sie sind Sänger und Regisseur. Können Sie die beiden Funktionen stets trennen? Oder steht immer auch der Regisseur Villazón auf der Bühne, wenn ein Opernhaus den Sänger Villazón engagiert?
Nein, wenn ich als Sänger engagiert bin, bin ich nur Sänger, und der Regisseur bleibt zu Hause. Ich bin mir in diesem Fall voll bewusst, dass ich in eine Inszenierungswelt trete, die jemand anderer erdacht hat. Also ist meine Arbeit neben dem Singen nicht mitzuinszenieren, sondern mich als Mensch und Darsteller in dieses Universum einzubringen und zu bieten, was die Regie von mir braucht. Ich unterscheide mich in so einem Fall von keinem anderen Sänger der Produktion. Vielleicht gibt es nur den Unterschied, dass ich auch die Regieseite kenne und daher volles Verständnis für deren Herausforderungen und Schwierigkeiten habe. Wenn ich zum Beispiel auf einer Probe warten muss, weil etwas nicht richtig klappt, sage ich immer: »Macht euch keine Sorgen! Das kenne ich!«
Sie feilen musikalisch an Pelléas und inszenieren Sonnambula. Wie fühlt es sich an, gleichzeitig in zwei so unterschiedlichen Musikwelten zu leben?
Ja, ja, es ist wirklich ein bisschen wow! Um 10 Uhr werde ich mit einer Korrepetitorin an meinem Pelléas arbeiten, um 11 geht es dann in die Sonnambula-Probe. Aber soll ich Ihnen etwas verraten? Es ist wunderbar, den Tag so anzufangen! Als Sänger als Erstes in diese Debussy’sche Klangwelt einzusteigen, um dann zu Bellini zu wechseln. Ja, es sind unterschiedliche Stile, aber letztlich fällt mir der Wechsel leicht, weil ich Sonnambula inszeniere und nicht mitsinge. Abgesehen davon: Hier in New York ist Sydney Mancasola die Sonnambula-Lisa – und sie hat als Mélisande in Los Angeles brilliert. Wir können also über beide Opern fachsimpeln!
Der Komponist Debussy meinte, dass man Pelléas et Mélisande ganz natürlich singen soll, in einem natürlichen Tonfall, fernab jeder Traditionsstrenge. Wie setzt man eine solche Forderung in der Praxis um?
Ich glaube, man muss die Oper nehmen wie einen Schauspieltext. Der Rhythmus, den Debussy schreibt, entspricht exakt dem französischen Sprechrhythmus. Es muss also so gesungen werden, als spräche man ganz natürlich, als gäbe es gar keine fixe Notation. Andererseits hat man sich selbstverständlich genau an Debussys Vorgaben zu halten und darf nicht einfach drauflos plaudern. Wenn beides gelingt, dann entsteht jene Natürlichkeit, die der Komponist meinte. Dann ist es, als sprächen Menschen auf der Bühne miteinander, als gäbe es keine fixierte Form. Wobei: Es ist ganz klar, dass man für Pelléas et Mélisande Opernsängerinnen und -sänger braucht. Es ist nicht wie bei Astor Piazzolla, der für seine Oper María de Buenos Aires Tangospezialisten wollte. Nein, hier, bei Debussy, braucht es klassisch ausgebildete Künstler, die die entsprechende Operntechnik mitbringen.
Das Rätselhafte und Unbestimmte beherrscht Pelléas et Mélisande. Dazu passt, dass Debussy kein Freund von allzu genauen Werkanalysen war. Wichtiger schienen ihm der emotionale Zugang, die Intuition. Die Fragen, die sich stellten, mussten nicht zwingend geknackt werden. Ist das ein Zugang, den Sie mögen?
Nicht nur mögen, sondern: lieben! Es geht in der Kunst nicht darum, immer auf alles eine klare Antwort zu erhalten. Also die Antwort schlechthin. Oft geht es um die Fragen. Ich liebe zum Beispiel Bücher und Kunstwerke an sich, die mehr Fragen als Antworten enthalten. Manchmal sogar: nur Fragen! (lacht) Später kommen Wissenschaftlerinnen und Psychologen, Künstler und Expertinnen, und jede und jeder präsentiert eine Idee, warum dieses oder jenes so ist und was es bedeutet: Worauf verweist dieses Symbol? Und worauf jenes? Was genau ist gemeint? Dann haben wir Antworten … Was aber, wenn es gar nicht darum ging? Manchmal denke ich, dass etwa Schriftsteller, die erfahren, was andere in ihrem Werk gefunden haben, sich denken: »Ah, tatsächlich? Das habe ich also gemeint??« Was andererseits nicht bedeuten soll, dass vieles von dem, was entdeckt wird, falsch wäre. Denn das macht letztlich ein Meisterwerk aus: dass es tief und vielschichtig ist und sich uns nie ganz erschließt. Aber gerade dadurch unsere Welt bereichert.
Das Unausschöpfbare ist ein Merkmal des Genialen.
Absolut! Und auch die Tatsache, dass uns die präsentierten Fragen und Konflikte nicht loslassen. In Pelléas et Mélisande passiert so Rätselhaftes auf der Bühne – und plötzlich sind wir alle mittendrin und wollen mehr wissen. Mehr wissen über die Figuren, über ihre Zustände, ihr Dasein.
»In Pelléas et Mélisande passiert so Rätselhaftes auf der Bühne – und plötzlich sind wir alle mittendrin und wollen mehr wissen. Mehr wissen über die Figuren, über ihre Zustände, ihr Dasein.«
Debussys Oper basiert auf Maurice Maeterlincks gleichnamigem Schauspiel, einem Kernstück des Symbolismus. Es ist auch eine künstlerische Stilrichtung, die mehr auf Intuition als auf intellektuell geschärfte Situationsanalyse setzte. Was fällt Rolando Villazón – intuitiv – ein, wenn er an Pelléas denkt?
Pierrot. Pierrot de la lune. Eine Welt der Dunkelheit, eine Welt, in der einer träumt. Und dazu eine albtraumhafte Realität. Mir fällt auch »Mysterium« ein. Ein Mysterium, das über unsere Seele als Mensch spricht. Diese Oper lässt uns, wie jedes große, wunderbare Werk, unruhig werden. Besucht man eine Pelléas-Vorstellung, ist das Ergebnis kein entspanntes: »Ahh, ist das toll. Und so schön!«. Sondern es beschleicht einen ein Gefühl von: »Was ist hier los?« Und: »Was ist mit mir los?« Wir begeben uns in eine Unsicherheit, eine Unschärfe, die auch der Musik entspricht. Denn auch hier scheint nicht alles klar und logisch, nicht immer geschieht, was wir erwarten. Und dennoch passiert immer das, was passieren muss, in einer atemberaubenden Perfektion.

Sie meinten einst, dass all Ihre Bühnenfiguren wie in einer Therapiesitzung zusammensitzen und ihre Probleme besprechen. Also zum Beispiel Don Carlo und Alfredo über ihre Väter reden. Was erzählt Pelléas in dieser Runde?
Ich war mit ihm noch nicht in dieser Therapierunde (lacht). Aber was würde er erzählen? Ja, er spräche über Liebe. Er fragte: Lieben wir eine Person wirklich, oder lieben wir die Liebe an sich? Ist die geliebte Person nur ein Mittel zum Zweck, ein Gefäß, in das wir unsere Gefühle gießen? Ist das Empfundene echt und wahr? Warum machen wir manches, obwohl wir doch wissen, dass es in einer Katastrophe enden wird? Ist es die Sache wert? Warum bringen wir uns in Gefahr? Warum akzeptieren wir die drohenden Konsequenzen? Oh, das wären auch Themen für Jacques Offenbachs Hoffmann!
Am 14. Oktober geben Sie an der Staatsoper auch einen Liederabend. Präsentieren Sie Lieder, die Sie persönlich einfach gerne singen, oder sind es Nummern, von denen Sie denken, dass das Publikum sie schätzt?
Im Grunde versuche ich immer, für einen Liederabend ein besonderes Konzept zu entwickeln, eine dramaturgische Linie, die das Programm bestimmt. Ich suche mir einen Themenkreis oder musikalischen Stil, ein Land oder Motto aus und baue rund um dieses eine Liederfolge. Im aktuellen Fall: Wir unternehmen eine Zeitreise mit italienischen Melodien. Also fangen wir mit dem 17. Jahrhundert an, machen einen Sprung zum Belcanto und landen bei Vincenzo Bellini, der Hunderte einzigartiger Melodien für die menschliche Stimme geschrieben hat. Der Weg führt uns weiter zu Verdi, von dort zu Paolo Tosti, einem absoluten Star seiner Zeit und Schöpfer schönster Musik, und schließlich kommt Giacomo Puccini. Wenn man so will: ein Abend mit einem Crescendo in Richtung Tenorschmelz. Und da ich kein großer Fan von Opernarien bin, die man auf Klavier plus Stimme reduziert hat, habe ich ausschließlich Kompositionen ausgewählt, die nicht für die Opernbühne geschaffen wurden, sondern kammermusikalische Werke für Klavier und Stimme.
Fehlt Ihnen bei einem Liederabend nicht das Schauspielern? Die Kulisse? Das Kostüm?
Nein, nicht wirklich. Ich habe viele Konzerte und Liedprojekte und finde gerade solche Abende wunderschön: Ich bin die ganze Zeit dabei, kann einen Dialog mit den Zuschauern aufbauen, es entsteht eine unsichtbare Brücke zwischen der Bühne und den Zuhörerinnen – und ich darf mit jedem Lied eine eigene kleine Geschichte erzählen. Wie ein Troubadour, der kommt und verkündet: »Jetzt erzähle ich die Geschichte von …« – und dann folgt ein Lied. Danach: »Und jetzt berichte ich euch von einer traurigen Begebenheit …« – und es erklingt ein anderes Lied. Dann wieder heiter. Dann nachdenklich. Und so weiter. Eigentlich sind das alles ja Miniopern, auch wenn ich nicht kostümiert bin. So wie ein Liederabend ein Terzett ist: zwischen mir, meiner Klavierpartnerin – nicht Begleiterin, sondern Partnerin! – und dem Publikum. Wir geben und nehmen, wir spüren einander und gestalten den Abend gemeinsam. Ich liebe das … Es ist einfach so erfüllend!