»Den Ring muss man träumen«

Interview |

Elf Fragen an Regisseur Sven-Eric Bechtolf

Wie nähert man sich dem Ring heute an? Empfindet man die Rezeptionsgeschichte als Ballast oder als Inspiration?

Sowohl als auch. Am Ende aber gilt: Man muss SEINEN Ring machen. Wie jedes große Werk, bietet auch der Ring eine Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten. Dass die Uraufführung des Ringes in Bayreuth so gut dokumentiert ist, ist allerdings besonders hilfreich! Verzweifelt und enttäuscht stöhnte Wagner über das von ihm georderte Bühnenbild: »Das ist realistisch und nicht – phantastisch!« Womit die Umsetzungsmöglichkeit oder Unmöglichkeit recht eindrucksvoll umrissen ist!

Wagner hat sehr viele Details in der Partitur notiert, szenische wie musikalische Hinweise: Wie viel Raum bleibt überhaupt noch für eine Interpretation?

Viel. Wertvoll sind diese Hinweise dennoch! Mögen die Anweisungen für das Bühnengeschehen bisweilen auch von bizarrer Maßlosigkeit sein, die musik-dramatische Sprache Wagners ist durch und durch gestisch und theatralisch! Da kann und soll man sich auf ihn verlassen. Das ist ja nicht minutiöse Sklaverei, in die man da gerät. Es ist ein Gerüst, das er uns bietet. Er will: Ausdruck, und zwar im Einklang mit der Musik. Da wird sicher trotzdem jeder Regisseur seinen eigenen Weg finden. Regeln bedeuten ja auch, paradoxerweise: Freiheit.

Gibt es etwas, das sich erst im Laufe der Probenarbeit ergeben hat, eine neue Erkenntnis in Bezug auf den Ring oder die Walküre?

Ja, sicher. Erst auf der Probe erweist sich der Plan. Oder eben nicht. Am Schreibtisch geht vieles. Oder alles. In der konkreten Situation verlangt aber die Szene nach ihrem Recht. Wollen die Figuren plastisch ins Leben treten. Die Konflikte behandelt sein. Und da der Dramatiker Wagner viel besser ist als sein Ruf, kann man sich ihm nicht entziehen. Ja, man muss den Ring gedanklich durchdringen, aber man muss ihn auch zur Verlebendigung bringen. Ihn atmen lassen. Manchmal ist Einfachheit und Genauigkeit mehr angebracht als Ungeduld und Übermalung. Man kann Wagner in der Treffsicherheit seiner Wirkungen vertrauen, und manchmal ist es angezeigt sich selbst ein wenig zurückzunehmen. 

Wagner ist imstande, und das ist ein Hinweis auf die Welthaltigkeit des Werks und seine dichterische Qualität, den Figuren und ihren jeweils subjektiven Motivationen ohne Verurteilungen nachzugeben. Natürlich hat Fricka recht. Aber Wotan ebenfalls. Und Brünnhilde sowieso. All seine Figuren haben ihre guten Gründe! Diese psychologische Vielstimmigkeit ist zu inszenieren. Auf die Gefahr hin, dass die Ideenträgerei und der allegorisch/metaphorische Gehalt ein wenig zurücktreten. Vielleicht hat Wagner aber auch das grade gewollt. Bei Feuerbach hatte er gelesen: Alle Religion ist Anthropologie. Wem also sollten diese Götter ähneln, wenn nicht uns.

Gab es im Laufe der Vorbereitung einen zweiten alternativen – oder sogar dritten, vierten – konzeptionellen Ansatz, der zugunsten der aktuellen Interpretation verworfen wurde?

Rolf Glittenberg, ein Wagnerkenner, hat mir lange vor Beginn meiner Auseinandersetzung mit dem Stoff gesagt: »Den Ring muss man träumen.« Als Neugieriger hab ich ihm nicht geglaubt. Nach allen Umwegen in die Papierirrgärten der Sekundärliteratur, nachdem ich tausend Sachen erwogen und verworfen habe, aber muss ich gestehen: Ich träume vom Ring! Und oft träume ich ihn auch. Der Ring ist ja selbst schon eine ungeheuerliche Interpretation. Deshalb hat der schlaue Lars von Trier in seinen Schriften über seinen nicht stattgehabten Ring Interpretationsabsichten weit von sich gewiesen. Was der Ring interpretieren will, ist nicht weniger als: die Welt. Genauer gesagt den Menschen auf der Welt. Da bleibt ja nichts ungesagt! Er ist ja manchmal gradezu platt in seiner Beweissucht! Das Widersprüchliche, Dunkle, Inkonsequente, Ahnungsvolle reizt mich mehr. Denn die politisch/weltanschauliche Aussage des Ringes ist ja nun nicht so bestürzend neu für uns. Meine Geistestätigkeit und mein Leben beschränken sich ja auch nicht auf Sätze wie: »Ich bin für den Weltfrieden und Nieder mit der Ungerechtigkeit.« Selbst die philosophischen Inhalte à la Schopenhauer sind doch mit einiger Vorsicht zu genießen. Der Ring ist angenehmerweise vielmehr als die Summe seiner Absichten! So wie wir selber auch! Auch die Tetralogie hat ihr »Unbewusstes«.

Welcher Teil des Rings ist hinsichtlich der Interpretation am schwersten? 

Na, üblicherweise wird im Rheingold und in der Götterdämmerung alles bewiesen. Für mich persönlich sind die vier Stücke gleich »schwer«. Oder schön. 

Gibt es für Sie eine Schlüsselszene in der Walküre?

Ja. Den Dialog zwischen Wotan und Brünnhilde am Ende des dritten Aktes. Da wohnen wir den Tätigkeiten der Psyche bei. Jemand streitet mit sich. Denn Brünnhilde ist, ganz wörtlich zu nehmen, ein Teil Wotans. Man sieht sich selbst bei der Verdrängung zu. Von Sieglindes Niederkunft will er nichts hören. Darf er nichts hören. Auch wenn er Siegfried schon ahnt. Jetzt noch auf ihn hofft. Und indem er sich selbst in Stücke schneidet, erlangt er, was er verneint, aber doch eigentlich will. Nicht wollen darf. Den Helden. In der Götterdämmerung erst wird seinem anderen, von ihm bestraften, abgetrennten Teil, Brünnhilde, gewahr, was er eigentlich zutiefst wollte. Und in der Walküre und im Siegfried noch nicht wollen konnte. Auch wenn er es in seinem großen Monolog behauptete: das Ende. Denn alles, was er dann noch in der Walküre und im Siegfried versucht, selbst die Entsendung Waltrautes noch in der Götterdämmerung, beweist uns ja das Gegenteil. Er hofft dort immer noch. Er versucht nur willentlich den Willen zu bezwingen. 

Aber auch die ja angeblich revolutionäre Brünnhilde verdankt erst ihrer Bestrafung ihre Befreiung. Ich kann mich nicht erinnern, eine ähnlich verrückt konstruierte Szene gelesen oder gehört zu haben. Gleichzeitig gehört es zu den erschütterndsten Momenten im Ring. Es ist eben auch der Abschied zweier Liebender. Ein Abschied von sich selbst. Ein Opfer. Eine Bestrafung. Ein Verhängnis. Ein Verzicht. Eine Endgültigkeit. Herzzerreißend. Und sofort begreifbar. Nicht mit dem Verstand vielleicht, aber mit allen anderen Sinnen. Wagners Begabung, undurchschaubar katastrophale Patt-Situationen zu konstruieren, wirft ein schauriges Licht auf sein … und unser Wesen. Merkwürdigerweise gibt es darüber wenig Literatur. Die Walküre wirkt szenisch in vielen Elementen – trotz riesiger Orchesterbesetzung – kammerspielhaft. Wie geht man mit dieser Spannung zwischen Orchesterbesetzung und szenischer Gestaltung um? Da gibt es manchmal gewaltige Ladungen, die aber inneren Zuständen entsprechen. Aber ist das nicht ein Grundproblem der Oper überhaupt, oder ihre Herausforderung? Der singende Mensch auf der Bühne ist ja nicht »realistisch«. Wird er auch nie sein. Im Musiktheater ist man doch immer mit einem Bein schon in phantastischen Bereichen. Wagner hätte gesagt: dionysischen. Trotzdem muss man menschliche Dimension und Glaubwürdigkeit bewahren.

Der Vorwurf, der der Walküre bei der Uraufführung gemacht wurde, war die Länge. Bedarf es dieser retardierenden, epischen Elemente?

Ein Künstler wie Wagner hatte jedenfalls ein Recht, vielleicht sogar die Pflicht, darauf zu bestehen. Wagner war ja wirkungssüchtig und wirkungsmächtig. Er hat den Zuschauer auch in eine andere Zeitwahrnehmung heben wollen. Aus sich heraus, in die Welt seiner Stücke hinein. Diese Abende sind ja Halluzinogene. Narkotika. Und da kommt es auf die Dosis an. Nachvollziehbar ist dies Verlangen für mich jedenfalls.

Wovon kann es abhängen, welchen Gegenständen, Ideen etc. Wagner Leitmotive zugedacht hat?

Natürlich davon, auf welche er zurückzukommen trachtete. Um sich das Geflecht zu erschaffen, bedarf es der Wiederholung. Das ist doch eine dramaturgisch geniale Idee. Das Orchester weiß Bescheid. Kommentiert. Damit gewinnt der Zuhörer eine Art Vogelperspektive. Ahnungen, Gedanken, Zusammenhänge ergeben sich ihm wie von selbst. Wenn er zuhört und mitdenkt. Gelegentlich sehen wir auch tief ins Innere der Figuren. Denken Sie an das berühmte Erklingen des Schwert-Motives im Rheingold. Das Orchester wird so zum Chor der antiken Tragödie. Wenn Siegmund am Höhepunkt der Schwertszene, unter anderem zum Entsagungs-Motiv singt, das wir aus dem Rheingold schon kennen, ist ihm in Ahnungen gegenwärtig, was für uns damit aber vollkommen klar ist: Das geht nicht gut aus!

Gibt es in der Walküre einen Ansatz von Humor – insbesondere in der Fricka-Wotan-Szene?

Da vielleicht nicht mehr. Im Rheingold ist das noch viel witziger. Aber natürlich gibt es einen gewissen Wiedererkennungswert für Ehepaare. Das mag zum Lachen reizen. Wenn den betroffenen Partnern auch nicht danach ist.

Warum kommt der Ring, um den es eigentlich geht, in der Walküre physisch nicht vor?

Der liegt unter Fafners schuppigen und tonnenschweren Drachenbauch! Aber seine Anwesenheit ist trotzdem unbestreitbar! Für mich ist z.B. die Hauptfigur der Götterdämmerung Wotan. Der tritt aber nicht auf. Wenn man vom Schlussbild absieht. Wirkungsvoller geht es nicht. Und so funkelt auch der Ring in der Walküre giftig und unübersehbar prominent.