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Meisterdirigent & Staatsopern-Ehrenmitglied Adam Fischer über die Kunst des Repertoire-Dirigierens.

Früher gab es beim Olympischen Fünfkampf die Disziplin des Springreitens. Eine Besonderheit dabei: Die Pferde für die Bewerberinnen und Bewerber wurden erst kurz vor dem Wettkampf ausgelost. Wer gewinnen wollte, musste demnach auf allen Pferden reiten können – und nicht nur auf einem besonderen.

Oder: Wer ein guter Tanzpartner sein will, muss mit jedem Gegenüber harmonieren. Und nicht nur mit einem, das er schon lange kennt.

Warum aber diese beiden, opernfernen Beispiele? Weil es beim Dirigieren nicht anders ist. Man muss sich zunächst das technische Handwerk erwerben und lernen, potenziell jedes beliebige Orchester leiten zu können. Und nicht nur ein oder zwei spezielle.

Zumindest, wenn man als Dirigentin oder Dirigent im Repertoire-Betrieb bestehen möchte.

I. Was ist Möglich?

Zunächst ist stets das Wichtigste, dass man sich bewusst macht, welche Möglichkeiten man in einer Situation hat. Es ist ein Unterschied, ob ich für eine Opernpremiere sechs Wochen Zeit habe oder aber einen Repertoireabend leite, für den es deutlich weniger Proben gibt.

Wobei: Wenn ich sechs Wochen probe, bin ich nicht unbedingt ein »besserer« Adam Fischer – aber ich bin zweifellos ein anderer. So nahm ich als Chefdirigent mit dem Danish Chamber Orchestra einen großen Mozart-Zyklus auf – da »funkte« mir kein anderer dazwischen und ich konnte in Ruhe arbeiten. Natürlich ist es auf diese Art möglich, einem Projekt eine sehr spezielle Richtung zu geben.

Wenn ich hingegen an einem Opernhaus einen Repertoireabend dirigiere, muss ich mich stärker an den vorherrschenden Gewohnheiten orientieren. Ich muss wissen, was an diesem Haus üblich ist und damit behutsam umgehen.

Komme ich etwa an eine Stelle, die an diesem Theater traditionell entweder auf die Weise A, B oder C gespielt wird, blicken mich die Musikerinnen und Musiker an: Welchen Weg wird er einschlagen? Ich kann mich zwischen A, B und C entscheiden. Aber ich sollte nicht auf Krampf versuchen, ohne große Probengelegenheit interpretatorisch eine Möglichkeit D zu wählen. Das würde nur Verwirrung stiften.

Was im Speziellen machbar ist, hängt natürlich immer auch vom Haus ab: An der Wiener Staatsoper etwa sind die Möglichkeiten viel größer als anderswo. Welche Wege aber in der aktuellen Situation verfügbar sind: das weiß man entweder aus Erfahrung, oder man spürt es. Und dieses Gespür… bekommt man wiederum durch Erfahrung.

II. Kammermusik

Als Dirigent geht es mir besonders – und es ist egal, in welcher Situation – darum, mit allen Beteiligten Kammermusik zu machen. Mit anderen Worten: Ich will nicht um jeden Preis alles bestimmen, sondern versuche, gemeinsam mit allen ein Maximum zu erreichen.

Natürlich muss ein Dirigent führen und koordinieren. Natürlich ist er für alle verantwortlich. Dennoch besteht die Funktion im Idealfall darin, einen Rahmen aufzuspannen, in dem vieles verwirklicht werden kann.

Wenn ich einen Vergleich aus der Religion bringen darf: Der Papst ist dazu da, zu herrschen – und zu dienen. Und ein Minister ist, der Wortherkunft nach, ein Diener. Genauso verhält es sich mit meinem Beruf.

In Wahrheit war ein Dirigent nicht dann am besten, wenn ein Musiker nach einem Abend sagt: »Heute haben Sie hervorragend dirigiert«, sondern wenn er meint: »Heute habe ich hervorragend gespielt.« Es ist wie im Fußball, da darf ein Mittelfeldspieler auch nicht um jeden Preis Tore schießen wollen.

Auf die Oper bezogen heißt das: Die Sängerinnen und Sänger, der Chor und das Orchester schießen die Tore. Der Dirigent aber muss dafür sorgen, dass jede und jeder die ideale Vorlage für ein Tor bekommt.

Man muss also nicht nur gestalten, sondern auch helfen: Wenn ich spüre, dass eine Sängerin heute mehr Zeit braucht, dann drossle ich das Tempo. Ich erhöhe das Tempo, um einem Flötisten zu unterstützen, eine Phrase auf einen Atem zu schaffen. Ich muss reagieren, wenn ein Fehler passiert. Ich muss Ensembles zusammenhalten.

»Vor allem aber bin ich für die Entfaltung der anderen da. Immer nur meine Überzeugung durchzudrücken: das wäre für mich der falsche Weg.«

III. Mein Schlüsselmoment

Ich erinnere mich an einen Schlüsselmoment meines Lebens: Ich traf als junger Student in einer Kantine einen älteren Musiker, der kummervoll an einem Tisch saß. Auf die Frage, was los sei, antwortete er: Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich dafür bezahlt werde, keine musikalische Überzeugung haben zu dürfen.

Was meinte er? Dass er immer das spielen müsse, was Dirigenten von ihm fordern, ganz egal, wie er persönlich dazu stünde. Mit anderen Worten: Jedes Werk wurde vom Dirigenten gleichsam übersetzt, er war nur noch Ausführender.

In diesem Augenblick schwor ich mir: Sollte ich es schaffen, Dirigent zu werden, würde ich immer darauf achten, Musikerinnen und Musikern ihren künstlerischen Raum zu geben. Denn wie könnte ich sonst erwarten, dass ihnen das Musizieren Spaß macht?

In der Praxis bedeutet das zum Beispiel: Wir kommen in einem Stück an eine Stelle, in der der Komponist Überraschung ausdrücken wollte. Nun kann ich vorschreiben: Wir spielen einen Akzent! Oder: Wir spielen ein subito piano, also ein ganz plötzliches Piano. Und so weiter.

Oder aber ich sage den Musikerinnen und Musikern: Geben Sie mir eine Überraschung! Und wie sie dann ausgestaltet ist, hängt von ihnen ab. Natürlich wird es viel besser ausfallen, wenn ich nicht ganz genau vorschreibe, was sie tun sollten. Es sind ja alles Künstlerinnen und Künstler, die ihr Fach beherrschen! (Selbstverständlich funktioniert das nur, wenn die Musiker sehr gut sind!)

Der große Gustav Mahler war in diesem Punkt übrigens ganz anderer Meinung. In seinen Partituren beschreibt er nicht nur, was er möchte, sondern auch den technischen Weg dorthin. Mitunter gibt er sogar an, dass man als Dirigent etwas auf Vier oder Zwei schlagen soll. Das empfinde ich persönlich schon fast beleidigend…

»Das Idealziel jedes Dirigenten ist letztlich, dass es genauso klingt, wie er es sich vorstellt, aber kein Musiker das Gefühl hat, nur einer Vorschrift zu folgen, sondern so spielt, wie er es will.«

IV. Vom Lernen

Aber natürlich braucht es für dieses partnerschaftliche Musizieren viel technisches Handwerk. Denn spontan reagieren zu können ist schwieriger, als einfach nur seinen eigenen Weg zu gehen.

Und wie man dieses Handwerk lernt: darauf gibt es eigentlich nur eine Antwort. Nämlich durch viel Praxis. Das ist wieder wie beim Tanzen: Man kann nicht vor dem Spiegel allein einen Paartanz lernen. Das geht nur, wenn man zu zweit ist… und tanzt.

Und noch ein Gedanke zum Erlernen der Traditionen an einem Opernhaus: Interessant ist an einem Klangkörper wie dem Staatsopernorchester, dass die Musikerinnen und Musiker die gepflegten Spielweisen sehr schnell lernen. Sie liegen gewissermaßen in der Luft.

Der Trick ist, dass man immer ein Greenhorn neben einen alten Fuchs setzt, so verbinden sich das Neue und das Alte harmonisch zu einem Ganzen.

V. Das Repertoiresystem

Nun gibt es immer wieder Dirigenten, die sich über das Repertoiresystem beklagen. Es werde nicht genug geprobt, es sei künstlerisch nicht wertvoll und so weiter.

»Verachtet mir die Meister nicht«, singt Hans Sachs in den Meistersingern. Und so ist es auch hier. Seit jeher gibt es exzellente Repertoireabende, künstlerisch auf allerhöchstem Niveau. – Wenn alle Beteiligten wissen, was sie tun müssen, das auch tun wollen und ein entsprechendes handwerkliches und künstlerisches Können haben.

Erfahrungsgemäß ist ja gerade an Abenden, für die nicht extrem viel geprobt wurde, die Konzentration besonders hoch. Die Musikerinnen und Musiker sitzen »auf der Sesselkante«, wie man sagt. Und durch den täglichen Wechsel im Repertoire haben die Musiker – gerade hier an der Wiener Staatsoper – eine ungemeine Reaktionsfähigkeit, größte Aufmerksamkeit und eine enorme Kenntnis quer durch das Repertoire.

Gerade, weil es hier keine gemütliche Routine gibt, hat das Orchester die Ohren besonders auf der Bühne und fällt in keinen Alltagstrott. Wieder ein Beispiel: Wenn ich einen Einsatz gebe, ein Sänger aber zu spät kommt, wird an der Staatsoper das Orchester dem Sänger folgen, egal, was ich als Dirigent schlage. Warum? Weil sie blitzschnell reagieren und die Schnitzer der anderen ausgleichen können.

Sollte aber etwas nicht klappen, darf man sich als Dirigent niemals im Sinne von: »Das Orchester versteht mich nicht. Sie können das nicht«, beschweren. Das wäre falsch! Denn: Der Dirigent muss sich so ausdrücken können, dass alles richtig läuft. Auch das gehört zum guten Handwerk, das man selbstverständlich mitbringen sollte.