Mit Leidenschaft & Zartgefühl
Interview |
Er war bereits Tonio und Alfredo, Faust und Ernesto, Arturo und Pollione, Graf Almaviva und zahllose andere: Juan Diego Flórez, Tenor, Kammersänger, Weltstar und Publikumsliebling. Seinem großen Wiener Rollenrepertoire – er debütierte an der Staatsoper 1999 und war bisher an rund 170 Abenden zu hören – fügt er nun eine weitere wichtige Partie hinzu: den Rodolfo in Giacomo Puccinis La Bohème. Im Folgenden erläutert er seine Gedanken zur Rolle, zur Figur des romantischen Dichters und zum Thema Freiheit im Opernbetrieb. Die Fragen stellte Oliver Láng.
Kazuo Ishiguro wirft in einem seiner Bücher die Idee auf, dass Kunst die wahre Seele eines Menschen ausdrücken kann. Wenn wir nun Rodolfos Gesang in La Bohème hören: Was können wir über das innerste Wesen dieser Figur erfahren?
Puccini war ein Meister darin, den Charakter einer Figur durch Gesang, aber auch durch Orchestrierung zu zeigen. So offenbart sich auch Rodolfo vollständig durch seine Musik. Aus seinem Gesang klingen Verletzlichkeit, Leidenschaft, Poesie und der Idealismus, mit dem er die Welt betrachtet, aber auch die Angst, die er zu verbergen versucht. Jede Phrase bringt uns ihm näher: sein Verlangen zu lieben, zu träumen und später seine Unfähigkeit, sich dem Leiden zu stellen. Rodolfo ist keine psychologisch komplizierte Figur; er ist geradezu durchsichtig.
Für den Komponisten Puccini war La Bohème ein sehr autobiografisches Werk. Die armen, aber trotz ihrer Not immer wieder auch glücklichen Studenten – da fand er sich wieder. War der junge Juan Diego auch ein Rodolfo?
In gewisser Weise ja. Ich war kein Bohemien im engeren Sinne, aber ich verspürte eine Art künstlerischen Hunger, eine Besessenheit von Musik, vom Lernen, von der Vorstellung einer Zukunft, die fern und ungewiss schien. Ich erlebte auch Momente großer Freude, durchmischt mit Schwierigkeiten, und musste mein Leben von Tag zu Tag improvisieren. Vor allem in Peru: Ich lebte mit meiner Großmutter in einer kleinen Wohnung, spielte Klavier oder sang, während sie malte. Das war eine Art künstlerisches und einfaches Leben.
Ganz generell: Ist es für Sie angenehmer, wenn Sie mit einer Opernfigur, die Sie darstellen, innerlich verwandt sind? Oder ist Ihnen eine Figur lieber, die möglichst wenig mit Ihnen persönlich zu tun hat?
Eine Verbindung ist immer hilfreich, weil sie die Figur authentischer macht. Manchmal sind aber jene Rollen, die von mir am weitesten entfernt sind, am befreiendsten, weil sie mich zwingen, Schattierungen, Impulse oder Emotionen, zu denen ich in meinem Alltag niemals Zugang hätte, zu erforschen. Zum Beispiel die verrückte Rolle des Corradino in Matilde di Shabran.
Vielen steigen beim Tod Mimìs jedes Mal aufs Neue Tränen in die Augen. Wie geht es Ihnen als Sänger? Ist Mitfühlen erlaubt? Oder braucht es eine professionelle Distanz?
Das hängt vom Zeitpunkt ab. Natürlich wird man auf der Bühne immer wieder emotional gepackt. Aber da man sich als Sänger unter Kontrolle haben und sich vieler Dinge bewusst sein muss, ist es anders als im Publikum. Ich habe bei Mimìs Todesszene aber schon oft geweint – ich glaube, das geht jedem so, selbst wenn man es nicht will.
Sie sangen – begleitet von Rudolf Buchbinder – nach einem Konzert in Grafenegg die Rodolfo-Arie des 1. Bildes spontan als Zugabe. Wie wichtig ist Ihnen Spontaneität? Ist sie das Salz in der Opernsuppe?
Sehr wichtig! Spontaneität erinnert uns daran, was Musik eigentlich ist. Wenn der Moment stimmt, die Atmosphäre, das Publikum und die eigene Stimmung, dann entsteht eine Art elektrische Spannung. Rudolf Buchbinder und ich erlebten in Grafenegg instinktiv einen solchen zündenden Funken – und es war ein großartiger Augenblick! Solche Momente lassen sich nicht vollständig planen. Sie sind wie musikalische Geschenke, die nur einmal passieren – und deshalb vom Publikum so sehr geschätzt werden.
Einer Ihrer Kollegen meinte kürzlich, dass ein großes Kunstwerk mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. Welche Fragen stellt uns La Bohème?
Die Oper fragt uns, was es angesichts einer solchen Zerbrechlichkeit des Lebens bedeutet, zu lieben. Sie fragt, ob die Jugend uns schützt oder verwundbar macht. Sie fragt, ob Kunst Opfer rechtfertigen kann, ob Leidenschaft mit Armut koexistieren kann – und warum Schönheit so oft in Verbindung mit der Tragödie in Erscheinung tritt.
Puccini notierte penibel genau Interpretationsanweisungen in der Partitur, ein Dirigent leitet den Abend, es gibt eine bestehende Inszenierung. Wo bleibt Ihre persönliche Freiheit als Sänger?
Ich habe das Gefühl, dass auf der Bühne gerade an Repertoireabenden wie bei La Bohème, die nicht zu viele Proben hatten, viel Freiheit besteht. Ich liebe es, aufzutreten und zu spüren, dass alles passieren kann. Meiner Meinung nach sollte Musik diese improvisatorische Qualität haben, um Raum für Inspiration zu schaffen.
Was braucht ein guter Rodolfo?
Einen poetischen Geist, ein jugendliches Timbre und die Fähigkeit, sowohl mit Leidenschaft als auch mit Zartgefühl zu singen. Rodolfo braucht Leidenschaft, aber auch Delikatesse. Und vor allem muss man an ihn glauben: an seine Träume, an seine Ängste, an seine Liebe zu Mimì. Wenn der Sänger daran glaubt, wird es auch das Publikum tun.
Sie sangen zuletzt etwa Tonio in der Regimentstochter an der Mailänder Scala. Ein Belcanto-Werk aus der Feder Donizettis. Wenn Rodolfo auf dem Plan steht: braucht es eine andere stimmliche Vorbereitung? Ein anderes Einsingen am Abend?
Donizettis Belcanto erfordert Beweglichkeit, Leichtigkeit und viele hohe Töne. Rodolfo hingegen verlangt eine wärmere Farbpalette, längere Legato-Bögen und eine größere lyrische Entfaltung, ohne heroisch oder dramatisch zu sein. Bevor ich Rodolfo singe, konzentriere ich mich auf den Atemfluss, Chiaroscuro und Wärme in der mittleren Stimmlage. Bei Donizetti geht es beim Einsingen eher um Flexibilität und klare Fokussierung. Es sind zwei verschiedene Welten, daher muss die Stimme vor Beginn der Aufführung in die richtige Umgebung versetzt werden.
»Spontaneität erinnert uns daran, was Musik eigentlich ist. Wenn der Moment stimmt, die Atmosphäre, das Publikum und die eigene Stimmung, dann entsteht eine Art elektrische Spannung.«