Liebe, Wahn & Tod

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Gaetano Donizettis einzigartige »Lucia di Lammermoor« ist wieder zu erleben.

Für sei­ne ers­te O­per brauch­te er in jun­gen Jah­ren nur zwei Wo­chen. Ein Tem­po, das ihm, dem Viel­schrei­ber, auch spä­ter ei­gen war. Wir spre­chen über Gae­ta­no Do­ni­zet­ti, den drit­ten des Bel­can­to-Drei­ge­stirns Ros­si­ni-Do­ni­zet­ti-Bel­li­ni – Schöp­fer gro­ßer mu­si­ka­li­scher Dra­men, un­ver­gäng­li­cher Ko­mö­di­en, auch in Wien be­ju­belt, ge­ehrt und nie­mals ver­ges­sen. Ein Zen­tral­werk sei­nes brei­ten Schaf­fens kehrt nun an die Wie­ner Staats­o­per zu­rück: Lu­cia di Lam­mer­moor. Wie­der­auf­ge­nom­men und in den Haupt­par­ti­en neu be­setzt.

Ber­ga­mo. Ei­ne schma­le Gas­se, ein heu­te noch er­hal­te­nes, un­schein­ba­res Haus, Trep­pen hin­un­ter ins ärm­li­che Sou­ter­rain. Dort un­ten, im Schat­ten, wird Do­ni­zet­ti ge­bo­ren. Spä­ter er­in­nert er sich be­klom­men an die Kel­ler­trep­pen und den tief­lie­gen­den Wohn­ort, den „kein Schim­mer des Lichts je­mals traf“. Es ist For­tu­ne, dass der Be­gab­te auf den baye­ri­schen Kom­po­nis­ten und Leh­rer Si­mon Mayr stößt, der ihn selbst­los lehrt, för­dert und un­ter­stützt. Und es ist eben­sol­ches Glück, dass Ber­ga­mo thea­ter- und o­pern­nar­risch ist, dass gleich zwei Häu­ser par­al­lel Mu­sik­thea­ter spie­len – der Blick in die Pra­xis ist al­so ein­fach.

Der Weg zur Musik

An ei­ner Mu­sik­schu­le sei­ner Hei­mat­stadt lernt er, zieht nach Bo­lo­gna, schreibt frü­he Wer­ke. 1816 ent­steht die be­reits ge­nann­te ers­te O­per (die al­ler­dings jahr­hun­der­te­lang in ei­ner Schub­la­de ruht), zwei Jah­re dar­auf wird erst­mals ei­ne Do­ni­zet­ti-O­per ur­auf­ge­führt – und das in Ve­ne­dig, ei­nem der Zen­tren der O­per. Der Weg zum Er­folg öff­net sich: Man­tua, Rom, Nea­pel, Mai­land; Mu­sik­di­rek­tio­nen in Pa­ler­mo und Nea­pel. Dann, 1830, ge­lingt der Wurf: Do­ni­zet­ti schreibt An­na Bo­le­na und schafft den Durch­bruch als Kom­po­nist. 1834 schließt er ei­nen Ver­trag über drei O­pern mit dem kö­nig­li­chen Tea­tro San Car­lo in Nea­pel. Das ers­te die­ser Wer­ke ist Lu­cia di Lam­mer­moor. Eh­run­gen und pri­va­te Ka­ta­stro­phen fol­gen: Pa­ris liegt ihm zu Fü­ßen, der fran­zö­si­sche Kö­nig er­nennt ihn zum Rit­ter der Eh­ren­le­gi­on; sei­ne Frau Vir­gi­nia und sei­ne Kin­der ster­ben in ra­scher Fol­ge.

Do­ni­zet­ti wen­det sich Wien zu – und Wien Do­ni­zet­ti. Sei­ne Lin­da di Cha­mou­nix wird am Kärnt­ner­tor­thea­ter ur­auf­ge­führt, Kai­ser Fer­di­nand I. er­nennt ihn zum Hof­ka­pell­meis­ter, der Kom­po­nist wird zum um­schwärm­ten Lieb­ling des Pu­bli­kums. Dass er als „Amts­per­son“ ei­ne o­pu­len­te Uni­form er­hält, dar­über er­freut er sich mit ge­ra­de­zu kind­li­chem Glück. Doch er hat nicht mehr vie­le Jah­re zu le­ben: In­ner­halb kur­zer Zeit ver­fällt Do­ni­zet­ti dem – durch Sy­phi­lis aus­ge­lös­ten? – Wahn­sinn, wird in ei­ne Ner­ven­heil­an­stalt ein­ge­lie­fert und schließ­lich als hoff­nungs­lo­ser Fall in sei­ne Ge­burts­stadt ge­bracht, in der er 1848 stirbt.

Das Meisterstück: »Lucia di Lammermoor«

»Lu­cia di Lam­mer­moor«, ent­stan­den in et­wa sechs Wo­chen, gilt als ei­nes der Schlüs­sel­wer­ke der ita­lie­ni­schen Ro­man­tik. Der Stoff frei­lich konn­te beim da­ma­li­gen Pu­bli­kum als be­kannt vor­aus­ge­setzt wer­den. Ba­sie­rend auf Sir Wal­ter Scotts Ro­man »The Bri­de of Lam­mer­moor« war Do­ni­zet­tis Werk bei Wei­tem nicht die ers­te O­per, die die tra­gi­sche Ge­schich­te der Lu­cia er­zähl­te. Zwar sind heu­te kaum je­man­dem jen­seits des mu­sik­wis­sen­schaft­li­chen Hör­saals die Vor­gän­ger­o­pern noch be­kannt, doch zei­gen sie, wie sehr das Su­jet den Ge­schmack des da­ma­li­gen Pu­bli­kums traf. Und nicht nur die­ses Su­jet: Un­ter­schied­li­che Stof­fe des Schot­ten Scott fan­den Ein­gang in den da­ma­li­gen O­pern­ka­non – Ros­si­ni ver­ton­te sei­ne Ro­ma­ne eben­so wie Boiel­dieu oder Au­bert.

Was nun den In­halt der O­per an­geht, so kann die­ser rasch er­zählt wer­den – und zwar mit­hil­fe der poin­tier­ten O­pern-Kurz­be­schrei­bung von Ge­or­ge Ber­nard Shaw:
»O­pe­ra is when a te­nor and so­pra­no want to make love, but are pre­ven­ted from do­ing so by a ba­ri­to­ne«,
zu Deutsch: »O­per ist, wenn ein Te­nor und ein So­pran ein­an­der lie­ben wol­len, aber von ei­nem Ba­ri­ton dar­an ge­hin­dert wer­den.«

De­kli­nie­ren wir es al­so durch: Der So­pran, das ist Lu­cia, der Te­nor Ed­gar­do, der Ba­ri­ton ihr Bru­der En­ri­co. Lu­cia und Ed­gar­do ent­stam­men ein­an­der ver­fein­de­ten Fa­mi­li­en; sie soll nach dem Wil­len ih­res Bru­ders den ein­fluss­rei­chen Lord Ar­tu­ro hei­ra­ten. Ih­re – er­wi­der­te – Lie­be ge­hört, wie könn­te es an­ders sein, Ed­gar­do. Als die­ser ver­reist, muss das ge­hei­me Ver­hält­nis über Brie­fe wei­ter­ge­führt wer­den – was be­son­ders in O­pern be­kannt­lich hoch in­tri­gen­ge­fähr­det ist. Ge­nau so pas­siert es auch: Lu­cia wird letzt­end­lich mit Ar­tu­ro ver­mählt, En­ri­co glaubt sich be­tro­gen, im Wahn tö­tet sie in der Hoch­zeits­nacht ih­ren Ehe­mann und stirbt – wie auch Ed­gar­do, der auf ein Wie­der­se­hen im Jen­seits hofft.

Der Wahnsinn auf der Bühne

Schon die ers­ten, be­droh­lich und dumpf ge­hal­te­nen Tak­te der O­per ver­spre­chen das Un­heil der kom­men­den Hand­lung. Schnell ist man im Bil­de, dass es dies­mal kein lie­to fi­ne, al­so ein glück­li­ches En­de, ge­ben wird. Zen­tral­punkt – und weit über die Gren­zen des Stamm­pu­bli­kums hin­aus be­kannt – ist frei­lich die Wahn­sinns­sze­ne der Lu­cia. Ein­ge­lei­tet wird die­se durch die Er­zäh­lung von Lu­ci­as Ver­trau­tem Rai­mon­do, der ent­setzt aus Rich­tung des Braut­ge­machs kommt. Dort ha­be er den er­mor­de­ten Ar­tu­ro ge­se­hen – und Lu­cia: im Wahn, die blu­ti­ge Waf­fe noch hal­tend. Fas­sungs­lo­sig­keit macht sich breit, be­vor ein selt­sa­mer, äthe­ri­scher Klang über den Raum schwebt. Es ist die Glas­har­mo­ni­ka, die die nun auf­tre­ten­de Lu­cia be­glei­tet und mit ihr in ei­nen Dia­log tritt.

Das Ir­ra­tio­na­le bahnt sich sei­nen Weg; Ko­lo­ra­tur­gir­lan­den und hohl-sil­bri­ger In­stru­men­ten­klang wei­sen über die fass­li­che Welt hin­aus – fast braucht es kei­ne Wor­te mehr, um die Ent­rückt­heit zu zei­gen. Fast ei­ne Vier­tel­stun­de lang be­herrscht Lu­cia nun die Büh­ne, meint, bei ih­rem Ge­lieb­ten Ed­gar­do zu sein und mit ihm in der Kir­che zur Trau­ung. Den An­we­sen­den stockt der A­tem: We­ni­ger der Mord ist es, der ent­setzt, als die Be­kla­gens­wer­te selbst, der in ih­rer Not, un­ter­drückt und ge­pei­nigt, kei­ne an­de­re Frei­heit mehr blieb als der ret­tungs­lo­se Weg in den Wahn.

Was Do­ni­zet­ti hier in Mu­sik ge­gos­sen hat, ist Psy­cho­gramm und Thea­ter­ef­fekt, Ge­sell­schafts­kri­tik und Rühr­stück in ei­nem – vor al­lem aber ein sän­ge­ri­sches Bra­vour­stück. Und gibt es O­pern-A­fi­cio­na­dos, die bei ei­nem lang­ge­zo­ge­nen Wag­ner’schen Wäl­se-Ruf oder aber bei ei­ner fi­na­len Mi­mì-Ver­zweif­lung Ro­dol­fos Gän­se­haut be­kom­men, so schwört ei­ne gro­ße Grup­pe Bel­can­to-Fans auf ge­nau die­se un­ver­gäng­li­che Wahn­sinns­sze­ne. Kein Wun­der al­so, dass im­mer wie­der auch in Hol­ly­wood – wie et­wa in Luc Bes­sons »Das fünf­te Ele­ment« oder in »Das Haus der La­dy Al­quist« mit In­grid Berg­man – »Lu­cia di Lam­mer­moor« zi­tiert wird.

Nachwelt

Es war das Schick­sal der Bel­can­to-Meis­ter, schnell in Ver­ges­sen­heit zu ge­ra­ten – wenn auch nicht ganz. Ros­si­nis »Bar­bier von Se­vil­la« hielt sich als Eve­r­green eben­so am Spiel­plan wie eben Do­ni­zet­tis »Lu­cia di Lam­mer­moor«.

Be­son­ders auch in Wien, wo Do­ni­zet­ti – wie er­wähnt – ei­nen be­son­de­ren Her­zens­platz be­saß; nicht um­sonst ätz­te Ri­chard Wag­ner einst von Wien als »Do­ni­zet­ti-Stadt«. Nach­dem hier die O­per nur zwei Jah­re nach der Ur­auf­füh­rung in Nea­pel im Kärnt­ner­tor­thea­ter er­schien (als ers­te au­ßer­ita­lie­ni­sche Sta­ti­on), folg­ten bald an­de­re Spiel­or­te wie das Thea­ter an der Wien, das Har­mo­nie­thea­ter, das Co­los­se­um­thea­ter, das Carl­thea­ter, das Stramp­fer­thea­ter und das Ring­thea­ter.

Ja, auch die neue Hof­o­per – die heu­ti­ge Staats­o­per – fehl­te nicht: Nicht ein­mal ein Jahr nach der Er­öff­nung 1869 spiel­te man das Werk bis ins ers­te Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts re­gel­mä­ßig, dann fall­wei­se und ab den spä­ten 1970er-Jah­ren wie­der äu­ßerst re­gel­mä­ßig.

Sternstunden mit Callas... und mit Gruberova

Ja, »Lu­cia di Lam­mer­moor« ist zu­al­ler­erst auch ei­ne Sän­ger(in­nen)-O­per. Das war schon bei der Ur­auf­füh­rung so, als Fan­ny Tac­chi­nar­di-Per­sia­ni (ei­ne spä­te­re Wie­ner Hof­o­pern-Kam­mer­sän­ge­rin!) in der Ti­tel­par­tie bril­lier­te und so viel Ein­fluss be­saß, dass die ers­te A­rie der Lu­cia (Reg­na­va nel si­len­zio) auf ih­ren Wunsch hin ge­gen ei­ne äl­te­re (Do­ni­zet­ti-)A­rie er­setzt wur­de.

Die Lu­cia-Par­tie war ein My­thos, als Bian­ca Bian­chi sie an der Wie­ner O­per 35-mal sang, als Sel­ma Kurz, Ade­li­na Pat­ti, An­na Ne­treb­ko, Li­set­te O­ro­pe­sa oder Dia­na Dam­rau sie hier san­gen – und be­son­ders auch, als Edi­ta Gru­be­ro­va 89-mal in der Rol­le auf der Büh­ne stand, die mit Ab­stand zah­len­mä­ßig füh­ren­de Wie­ner Lu­cia.

In die O­pern­ge­schich­te sind na­tür­lich auch je­ne drei Lu­cia-A­ben­de ein­ge­gan­gen, die Ma­ria Cal­las’ ein­zi­ge Staats­o­pern-Auf­trit­te wa­ren: ein Gast­spiel der Mai­län­der Sca­la, 1956, mit Her­bert von Ka­ra­jan als Di­ri­gen­ten.

Die aktuelle Produktion

2019 kam die ak­tu­el­le Pro­duk­ti­on an der Wie­ner Staats­o­per her­aus – Lau­rent Pel­ly in­sze­nier­te. In kla­ren Far­ben ge­hal­ten, ori­en­tier­te er sich in sei­ner Kon­zep­ti­on un­ter an­de­rem an Jean Ep­steins Stumm­film­klas­si­ker »La Chu­te de la mai­son Us­her« (Der Un­ter­gang des Hau­ses Us­her nach Ed­gar Al­lan Poe): Man er­lebt ein Chan­gie­ren zwi­schen ei­ner rea­len und ei­ner sur­rea­len Welt, zwi­schen Alp­traum und Tra­gö­die.

»Die Mu­sik der »Lu­cia di Lam­mer­moor« ver­brei­tet im­mer wie­der ver­han­ge­ne, zwi­schen Licht und Dun­kel wech­seln­de Stim­mun­gen – wie die­ser Film. Es bleibt so vie­les in Schwe­be: Was pas­siert tat­säch­lich, und was ist nur ein über­steu­er­tes Fan­ta­sie­pro­dukt der Fi­gu­ren? Han­delt es sich um ei­nen Alp­traum, und wenn ja, um ei­nen Alp­traum Lu­ci­as oder um ei­nen Alp­traum En­ri­cos?«, so Pel­ly.

Ei­nen be­son­de­ren Schwer­punkt setzt Pel­ly auf die psy­chi­sche Zer­rüt­tet­heit Lu­ci­as, die nicht nur durch das Hoch­zeits­trau­ma aus­ge­löst wird, son­dern ein Fa­mi­li­en­zug zu sein scheint – auch En­ri­co lei­det an ei­ner see­li­schen In­sta­bi­li­tät. Doch es geht auch um ei­ne In­stru­men­ta­li­sie­rung der jun­gen Frau, die ih­rer Fa­mi­lie »nüt­zen« soll. Pel­ly: »Lu­cia ist für mich auf kei­nen Fall die hüb­sche Nai­ve, son­dern ei­ne ei­gen­ar­ti­ge, un­ge­lieb­te jun­ge Frau, die von der All­ge­mein­heit weg­ge­sperrt, nur aus macht­stra­te­gi­schen und wirt­schaft­li­chen Über­le­gun­gen her­aus von ih­rem Bru­der her­vor­ge­holt wird.«

Ge­sun­gen wird die Un­glück­li­che von Ade­la Za­ha­ria – ei­ne Sän­ge­rin, die En­de Ok­to­ber als Don­na An­na in »Don Gio­van­ni« ihr Staats­o­pern-Haus­de­büt gab. Bekh­zod Dav­ro­nov (Ed­gar­do) ist erst­mals in die­ser Rol­le im Haus am Ring zu er­le­ben, Mat­tia O­li­vie­ri singt den En­ri­co.

»Lu­cia ist für mich auf kei­nen Fall die hüb­sche Nai­ve, son­dern ei­ne ei­gen­ar­ti­ge, un­ge­lieb­te jun­ge Frau, die von der All­ge­mein­heit weg­ge­sperrt, nur aus macht­stra­te­gi­schen und wirt­schaft­li­chen Über­le­gun­gen her­aus von ih­rem Bru­der her­vor­ge­holt wird.«

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