Leidenschaftliche Seele
Interview |

Tschaikowski war von seiner Oper Pique Dame zutiefst begeistert. Was zeichnet das Werk aus?
Alle Hauptfiguren in Pique Dame – Lisa, Jeletzki und natürlich Hermann – sind Menschen mit sehr weiten, empfindsamen Seelen, die in der Lage sind, sofort jeden Energiezustand zu erspüren: die helle Energie, die dunkle Energie. Sie werden durch Vorahnungen und – natürlich – durch Leidenschaft zueinander hingezogen. Das erkennt man an der Musik und besonders am Text. Auf eine gewisse Weise sind diese Seelen verwundet; ohne eine tatsächliche Tragödie erlebt zu haben, scheinen sie eine solche bereits zu kennen.
Was liebt Lisa an Hermann?
Das steht bereits im Text. Schon bei ihrem allerersten Auftritt sagt sie: »Er steht schon wieder vor mir, der geheimnisvolle und finstere Fremde! Verhängnisvoll, wie von einer wilden Leidenschaft besessen! Wer ist er? Warum verfolgt er mich?« Sie spürt all diesen Kummer, dieses Leiden, das von ihm ausgeht. Gleich darauf sagt sie: »Ich habe Angst...« Am Anfang haben alle Angst, weil sie eine Vorahnung haben. Diese ist sehr deutlich in der Musik zu hören – in der genialen Musik Tschaikowskis, der die Ahnung irgendwo in der Harmonie verbirgt – und plötzlich packt sie einen. Es ist wie in Eugen Onegin, aber in Pique Dame wird es viel dramatischer, viel schicksalhafter, würde ich sagen.
Wie würden Sie Lisas Charakter beschreiben?
Lisas Wesen ist auf eine gewisse Weise zum Tragischen bestimmt. Schon ganz am Anfang wirkt sie viel weiser und älter als ihre Freundinnen. Ihre Worte sind nicht nur sehr melancholisch, sondern tragen auch eine verborgene Tragik in sich – auch wenn noch gar nichts passiert ist. Eigentlich sollte sie glücklich sein. Sie soll einen großartigen Mann heiraten – aber sie ist unglücklich. Und natürlich geht es um große Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die aus dem tiefsten Herzen kommt, aus einer glühenden Seele, die einen leiden lässt. Sie ist nicht zu ertragen, ist einfach zu viel, tötet einen. Es ist außergewöhnlich, solche Gefühle zu erleben, denn viele Menschen sind dazu gar nicht in der Lage.
Gibt es eine Tradition des Tschaikowski-Gesangs, in der Se sich selbst sehen? Wie viel interpretatorische Freiheit hat man bei Tschaikowski?
Man muss genau das singen, was in der Partitur steht – wie bei Verdi. Nichts erfinden. Keine melodramatischen Sachen machen. Denn wir müssen uns immer vor Augen halten: Bei Tschaikowski ist die Hauptstimme das Orchester. Was auch immer geschieht – das Entscheidende passiert im Orchester. Die Sängerinnen und Sänger sind nur Teil des gesamten musikalischen Flusses. Man muss respektieren, was der Komponist geschrieben hat, und einfach seinen Anweisungen folgen – denn alles ist in der Musik niedergelegt. Dann wird das Ergebnis genauso sein, wie er es beabsichtigt hat.
Verbindet Sie etwas persönlich mit der Oper?
Ich habe 17 Jahre lang in St. Petersburg gelebt und kenne alle Schauplätze der Oper. Das Haus, in dem der Geist der Gräfin erscheint, liegt nicht weit entfernt von dem Haus, in dem Tschaikowski lebte – in der Bolschaja Konjuschennaja Straße 11. Der Ort, an dem Lisa ihre letzte Arie singt und sich ins Wasser stürzt, ist der Winterkanal, ganz in der Nähe der Eremitage. Ich kenne all diese Orte, und sie sind alle irgendwie von Tschaikowskis Musik durchdrungen.