»Kunst, das ist wie mit Schleifpapier eine Oberfläche schleifen«

Interview |

Der Regisseur Evgeny Titov spricht über »Iolanta«, über Wahrheit und Liebe und darüber, was Kunst mit Schleifpapier zu tun hat.

Was waren deine ersten Eindrücke beim Hören von Iolanta?

Evgeny Titov: Zunächst war es für mein Empfin- den von Musik toll und auch interessant, erstmals eine Oper in meiner Mutter- sprache zu inszenieren. Es ist anders, wenn man beim Hören wirklich jedes Wort versteht. Und dann war mein Ein- druck, dass es sehr »Tschaikowski« ist, so komisch das klingen mag. Dass es ganz, ganz tolle Arien gibt. Eine davon war auch eine Überraschung: Der erste Satz in Roberts Arie, »Kto mozhet srav- nit’sya s Matil’doy moyey« [»Wer kann sich mit meiner Matilda vergleichen«], ist in Russland eine Art geflügeltes Wort, das sich verselbstständigt hat. Leute benutzen es als Redewendung, ohne noch den Kontext zu kennen.

So wie im Deutschen »Mein lieber Schwan«?

So in der Art. Ich war sehr überrascht, dass diese Arie aus Iolanta stammt (lacht). Und ja, um zurückzukommen zu den Höreindrücken, natürlich ein unheimlich beeindruckendes Finale.

Ein gutes Stück?

Es ist sicher ein gutes Stück, es ist kein leichtes Stück. Iolanta ist so eine lineare Geschichte. Die Gefahr ist, dass man das gesehen hat und denkt: »Ich war im Theater, das war jetzt ein Märchen, das war schön, sie haben gesungen, sie hat am Anfang nicht gesehen und dann hat er gesagt: Jetzt musst du sehen, und dann hat sie gesagt, na gut, für die Liebe werde ich sehen. Wunder, Wunder – sie sieht. Na und?«

Der Weg vom Nicht-Sehen zum Sehen ist aber ziemlich kompliziert?

Das stimmt, da steckt wahnsinnig viel drin. Aber bei der ersten Begegnung mit dem Stück habe ich mir den Spannungsbogen angesehen, und ich hatte eben diese Frage: »Was könnte ich als Regisseur damit machen?« Natürlich erschließt sich dann schnell die ganze Komplexität von Sehen und Nicht-Sehen, und man versteht, was an dem Stück interessant ist. Aber mein erster Eindruck ist vielleicht die Antwort auf die Frage, warum diese Oper nicht so oft inszeniert wird – nicht, weil sie musikalisch nicht interessant ist, denn das ist sie. Aber man fragt sich: Wie kann man das so inszenieren, dass es wirklich fesselnd ist?

Wie kann man?

Ich finde es jetzt unheimlich interessant. Wir sind so tief eingetaucht, ich kann lange darüber philosophieren... aber wir haben auch viele Aspekte in den Proben herausgefunden, die mich überrascht haben. Sonya Yoncheva, unsere Iolanta, hat zum Beispiel bei den Proben etwas gesagt, das mich total fasziniert hat. Sie meinte: »Natürlich liebt mich mein Vater, der König. Aber er schämt sich für mich. Ich bin nicht vollständig, weil ich blind bin.« 

Ich hatte das so noch nie gedacht. Und zugleich hatte ich mit unserem René Ivo Stanchev ganz stark an einer Obsession mit Iolantas Blindheit und Heilung gearbeitet. Einfach aus einer Intuition heraus. Ich glaube ja, Intuition spielt in der Kunst eine größere Rolle als Wissen. Aber als Sonya das so auf den Punkt brachte, war das einer der Momente, in denen ich mir dachte: Dieses Stück ist so komplex, so raffiniert, so vielfältig. Im Nachhinein scheint es mir auch vollkommen logisch: Die Figur des Königs, die sich nicht abfinden kann mit einer Tochter, die nicht perfekt ist – und der sie zugleich sehr liebt. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass diese Geschichte so reich ist.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Figur des Vaters, des Königs. Du hast in den ersten Proben intensiv mit den Sängerinnen und Sängern die Konflikte und die Charaktere besprochen, teilweise in lebhaften Diskussionen. Die Motivation des Königs war eines der ersten Themen.

Der Vater ist vollkommen besessen, so sehr, dass er nicht mehr darauf achtet, welche Mittel er verwendet, um an sein Ziel zu kommen, und wie er handelt. Ich finde den Gedanken von Sonya grandios, zu sagen, er schämt sich. So funktioniert Psychologie manchmal: Man hält das eine für das andere. Man sagt: »Ich möchte mit dir befreundet sein«, und dann findet man heraus, ich möchte überhaupt nicht mit dieser Person befreundet sein, sondern sie erinnert mich an meinen verstorbenen Bruder. Und so ist das auch bei dieser Vaterfigur. Die Grenze zwischen seiner Liebe zu seiner Tochter und seinen anderen Motivationen verschwimmt.

Was er für Liebe hält, ist eigentlich etwas anderes?

Ja, das finde ich an dieser Vaterfigur eben wahnsinnig spannend. Alles, was widersprüchlich ist, ist spannend. Alles, was widersprüchlich ist, hat ein Volumen. Je größer die Widersprüche, umso größer das Volumen, und bei ihm ist das diese Gewalt und diese Kraft zu zerstören, auch zu schützen, aber auch so radikal, dass es fast wie Geiselnahme aussieht, wie Gewalt: Er geht auf die Knie und sagt: »Du musst helfen, und wenn du nicht hilfst, schmeiß ich dich an die Wand.« 

Das ist doch unheimlich interessant, unbalanciert, unharmonisch! Er ist auch eine Figur, die leidet, weil sie ihre eigenen Fehler erkennt. Tschaikowski hat das auch komponiert: Die Bandbreite in der Arie des Königs geht von einer Tiefe, die sich fast nicht mehr singen lässt, bis zu einer Höhe, die sich fast nicht mehr singen lässt. Bis zum hohen F. So hat Tschaikowski ausgedrückt, wie sehr diese Figur sich quält. Für mich war es unglaublich, das zu erleben: Man arbeitet, man entwickelt gemeinsam, man findet den Charakter, man stellt ein Muster fest – und dann bekommt man diese Bestätigung, direkt aus der Partitur, das ist einfach faszinierend. 

Natürlich kann man auch sagen, man sieht einfach in die Partitur, da steht es ja klar und deutlich drin, und schon hat man den Charakter. Aber so funktioniert Theater nicht. In der Theorie ist das ja schön, aber nicht in der Praxis. Man muss psychophysisch darauf kommen, bei den Proben. Und ich fand es so aufregend, das auf diese Weise zu erfahren: als würde man gerade nach dem Weg fragen wollen, und dann kommt ein Schild, und du bist absolut richtig unterwegs.

Was an deiner Beschreibung auffällt ist etwas, das man auch bei deiner Arbeit auf der Probe sieht: Alles geht über sehr viel Energie, die von dir auf die Sängerinnen und Sänger überspringt. Es ist erstaunlich, dass das mit allen Beteiligten klappt. Hast du ein Geheimnis?

Ja, Liebe. Die müssen spüren, dass du das meinst, was du sagst, dass es dir wichtig ist und dass du das tatsächlich liebst. Wenn sie spüren, dass du sie wirklich lieben möchtest, dass du es auch meinst, wenn du wirklich zu jedem Einzelnen sagst, »wir werden jetzt ... du und ich, wir werden ... das muss so schön mit uns sein!« ... Und wenn sie das wirklich merken und verstehen, es ist nicht »fake«, dann sind sie ...

Dann machen sie auf?

Dann sagen sie: »Endlich!« Denn sie lernen ja immer schon in der Ausbildung, vorsichtig zu sein, sich zu schützen. Wenn du aber kommst und das zeigen kannst, was ich beschrieben habe, dann kommt es auch an. Ich fange wirklich da an, ich sage, ich liebe, was ich mache, ich liebe das, es gibt nichts Besseres im Leben. Ich kann es mit Torte beschreiben. 

Ich liebe Torte, und da steht eine große Torte, eine Sachertorte und du sagst, »ach, so lecker!« Und eben nicht: »Ok, lass uns was kochen und was zusammen essen, weil es die Zeit ist, es ist Abendzeit. Du weißt, es ist sieben Uhr, ich weiß, es ist sieben Uhr, wir müssen essen, lass uns kochen«, nein! Man muss kommen mit großem Appetit und sagen: »Das ist das Lieblingsgericht! Für dich und für mich!« Nicht, weil du es unterschrieben hast und ich auch und es ist Abendessenzeit und Appetit haben wir nicht. Sondern wir sagen: »Nein, das ist jetzt Geburtstag!«

Jeden Tag Geburtstag?

So ungefähr.

Das ist anstrengend, oder?

Gesundheitsschädlich. Kunst, das ist so wie mit Schleifpapier eine Oberfläche schleifen. Je schneller du dich reibst, umso schneller bist du weg. Und je sensibler du bist und je raffinierter du bist, je schöner du bist, aus je schönerem Material du gemacht bist, umso schneller ... Wenn du dich richtig auf die Oberfläche legst, mit Vollkontakt, dann musst du schauen, wie lang das hält.

So, wie du arbeitest, kannst du nur sehr fest reiben und sehr schnell reiben.

Weil nur dann die schönste Oberfläche entstehen kann.
 

Die Besonderheit an deinem Zugriff ist auch, dass du gesagt hast, der König möchte, dass seine Tochter sieht, aber er möchte entscheiden, was sie sehen kann.

Das ist das Paradox, das viel weiter geht, als man erst denkt. Iolanta soll sehen lernen, erst dann wird sich ihr Vater nicht mehr für sie schämen. Wenn sie aber die Wahrheit nicht kennt, kann sie auch nicht sehen: das sagt Ibn-Hakia. Und das ist einfach ein genialer Konflikt: Erst am Sehen gehindert werden, dann wieder sehen müssen. Ich habe nicht gleich begriffen, was dahintersteckt, aber ich hatte die Intuition, dass es darum gehen muss.

Gerade im letzten Bild musst du dieses »sie sieht etwas, und womöglich mehr, als sie sehen soll« gegen einen riesengroßen Schlusschor inszenieren, der Gott dankt. Hat dieser Chor deine Intuition angefacht, hat er dich herausgefordert, dem etwas entgegenzusetzen?

Eher umgekehrt. Ich habe Musik gehört und ich habe gedacht: Das ist die Wahrheit, die auf dich kommt. Was ich darin gehört habe, war der Schock, das Auf-die-Knie-Gehen vor etwas, das gnadenlos ist und nicht süß, sondern ... das dich fertig macht. Und dann kommt ein Moment, in dem ist es, als würde die Musik sagen: So ist das, so ist die ganze Welt. Das ist ganz deutlich zu hören.

Also einmal mehr: Die Inszenierung entsteht aus der Musik.

Es ist alles in der Musik, wenn es ein guter Komponist ist. Man muss nur die Ohren aufmachen.

Das Interview führte Nikolaus Stenitzer. Das vollständige Interview finden Sie im Iolanta-Programmheft der Wiener Staatsoper. 

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