Die Wiener Staatsoper trauert um Kristin Okerlund
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Die Solorepetitorinnen und -repetitoren der Wiener Staatsoper sind viel mehr als nur großartige Pianistinnen und Pianisten und hervorragende Musikerinnen und Musiker. Dass sie über ein hohes technisches Können wie stilistisches Wissen verfügen, ist Voraussetzung für all die Probentätigkeiten, Auftritte und Tastendienste im Orchestergraben. Aber ihre eigentliche Aufgabe besteht in der verantwortungsvollen Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern: ob Ensemblemitglieder oder Gäste – sie alle müssen in ihrer Entwicklung unterstützt, behütet, geleitet, geformt werden, um auf der Opernbühne bestehen zu können. Zu dieser herausfordernden Tätigkeit einer Solorepetitorin gehört daher viel Wissen, Erfahrung und künstlerisches wie menschliches Feingefühl.
Kristin Okerlund verfügte über all das in höchstem Maße und war daher für das Haus und die Kollegenschaft im wahrsten Sinne des Wortes unersetzlich. Außenstehende können daher vielleicht erahnen, was ihr unerwarteter Tod am 10. Oktober für die Wiener Staatsoper bedeutet. Seit 1993 hat die aus den USA stammende, vielfach preisgekrönte Pianistin das tägliche musikalische Werden unserer Bühne intensiv mitgeprägt und getragen. Dirigenten suchten die Zusammenarbeit mit ihr, Sänger und Sängerinnen vertrauten ihr blind. Ihre Meinung hatte einfach Gewicht – auch wenn sie diese niemandem aufdrängte. Und sie schien alles zu beherrschen, was man ihr an Musik vorlegte. Sie konnte in jeder Probe einspringen, beherrschte jedes Werk, ohne es vorher geübt zu haben, spielte das Schwerste und Ausgefallenste problemlos von Blatt. Ihr einziges Utensil, das sie neben einem Bleistift auf die Proben mitnahm, war ein Becher Kaffee, allenfalls eine Wasserflasche. Mehr brauchte sie nicht und konnte schon loslegen.
Darüber hinaus besaß Kristin Okerlund die schöne Fähigkeit, anderen die Ohren zu öffnen. Mit wenigen Gesten verwies sie auf bestimmte Details der Partitur, lenkte die Aufmerksamkeit auf Nuancen der gerade stattfindenden Vorstellung – wenn man also zum Beispiel in der Dienstloge neben ihr sitzen durfte, ging man nach einer Aufführung mit Sicherheit an musikalischem Wissen reicher hinaus, als man hineingegangen war. Details und Nuancen bestimmten aber auch ihr Spiel auf den Podien: Das Publikum wird sie als sensible Begleiterin und Kammermusikerin u. a. bei Konzerten im Gustav-Mahler-Saal oder auf der großen Bühne in Erinnerung behalten. Legendär auch wie sie den Klavier-Solopart in Ariadne auf Naxos oder in Pique Dame absolvierte.
Ihr persönliches Glück neben ihrer Arbeit an der Wiener Staatsoper (und an der Musik und Privatuniversität der Stadt Wien, an der sie eine eigene Korrepetitionsklasse leitete) waren ihre beiden Töchter, die nicht zuletzt unter ihrer Obhut zu weltweit gefragten Instrumentalistinnen herangereift waren. Ihr plötzlicher Tod setzte nun all ihrem Wirken ein viel zu frühes, tragisches Ende. Zum Zeichen der Trauer hisst die Wiener Staatsoper die schwarze Fahne.