Alessandra Ferri
Interview |

Die neue Direktorin des Wiener Staatsballetts kann auf eine einzigartige und außergewöhnliche Karriere zurückblicken:
Als international gefeierte Tänzerin arbeitete sie mit den bedeutendsten Choreografinnen und Choreografen, die auch zahlreiche Werke eigens für sie kreierten, sie war Principal Dancer beim Royal Ballet in London und beim American Ballet Theatre in New York, ist Prima Ballerina Assoluta der Mailänder Scala und gastierte an den wichtigsten Häusern sowie mit renommierten Compagnien weltweit. In den letzten Jahren trat sie nicht nur weiterhin als Tänzerin erfolgreich auf, sondern leitete von 2008 bis 2014 die Tanzsparte des renommierten Spoleto Festivals, war als Produzentin internationaler Touring-Produktionen tätig und widmete sich dem Unterrichten sowie Coaching, u.a. beim Royal Ballet London, English National Ballet oder American Ballet Theatre.
Mit der Übernahme der Direktion des Wiener Staatsballetts leiten Sie zum ersten Mal ein Ensemble. Was hat Sie dazu bewogen, diese Position anzunehmen?
Es ist das Bedürfnis zu teilen, das mich dazu inspiriert hat. Ich möchte die umfangreichen Erfahrungen weitergeben, die ich in der ganzen Welt mit anderen wunderbaren Compagnien, großartigen Choreografinnen und Choreografen sowie begabten Partnern gesammelt habe. Ich gehöre zur letzten Generation, die mit den Meistern gearbeitet hat, welche die Geschichte des Balletts geschrieben haben:
Frederick Ashton, Kenneth MacMillan, Roland Petit, Jerome Robbins, Twyla Tharp und andere. Zu wissen, was diese Künstlerinnen und Künstler mit ihren Balletten erreichen wollten, ist wichtig, um den Tänzerinnen und Tänzern Informationen zu vermitteln, die sonst verloren gehen würden. Jetzt ist die richtige Zeit für mich, ich fühle mich wohl mit den Kenntnissen, die ich habe. Es war eine Überraschung, als ich gefragt wurde, das Wiener Staatsballett zu leiten, eine Compagnie, mit der ich in der Vergangenheit nicht in Verbindung stand.
Aber es ist ein erstklassiges Ensemble und hat alle Voraussetzungen, um eines der führenden der Welt zu sein. Die Tatsache, dass ich hier keine Geschichte habe, gibt mir die Freiheit, objektiv zu sein. Es gibt keine persönliche Bindung an irgendetwas. Es ist eine Herausforderung, die Compagnie, das Opernhaus und die Stadt nicht von innen zu kennen, aber es ist sehr aufregend.
Sie haben einmal gesagt, das Wiener Staatsballett sollte so sein wie die Stadt Wien selbst. Was meinen Sie damit?
Wien ist ein erstaunliches kulturelles Zentrum, eine sehr elegante Stadt mit einer unglaublichen Geschichte, die immer noch präsent ist. Wenn man in Wien spazieren geht, spürt man, dass diese Teil der Gegenwart und der Zukunft ist. Die Wiener Staatsoper ist großartig, ebenso wie das Orchester. Ich denke, die Compagnie sollte das widerspiegeln. Das Wiener Staatsballett hat auch eine unglaubliche Chronik, es ist eine der ältesten Ballettcompagnien der Welt. Diese Wurzeln sind essenziell, sie lassen den Baum wachsen. Es ist wichtig, sie zu respektieren und den Glamour und die Eleganz der Stadt zu repräsentieren, auch wenn man sich neuen Werken zuwendet. Das sollte die Identität des Wiener Staatsballetts sein.
Worauf haben Sie sich bei der Programmierung der Saison 2025/26 konzentriert?
Es gab eine Reihe von Aspekten, die mich beschäftigt haben. Dabei ging es in erster Linie darum, zu verstehen, was diese Compagnie ist, nämlich eine große klassische Compagnie, die in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft verwurzelt ist. Ich möchte fragen, was klassisches Ballett heute ist, was nicht bedeutet, dass das klassische Vokabular abgelehnt wird, sondern dass wir uns mit ihm weiterentwickeln und es im Jetzt manifestieren. Die Choreografinnen und Choreografen, die ich ausgewählt habe, sind also zeitgenössische, die für einen klassischen Tänzer kreieren können: Alexei Ratmansky, Justin Peck, Christopher Wheeldon, Wayne McGregor, Twyla Tharp.
Es ist wichtig, das klassische Ballett in der heutigen Welt lebendig zu halten. Unser Repertoire reicht von Elena Tschernischovas Giselle bis zu diesen Künstlerinnen und Künstlern sowie allem, was dazwischen liegt. Wir zeigen Roland Petit, Kenneth MacMillan, George Balanchine, Frederick Ashton... und präsentieren die ganze Bandbreite der Entwicklung des klassischen Balletts.
Wonach suchen Sie bei einer Tänzerin, einem Tänzer?
George Balanchine sagte einmal: »Ich will keine Menschen, die tanzen wollen, ich will Menschen, die tanzen müssen.« Ich suche Tänzerinnen und Tänzer, die in Kontakt mit ihrer Seele sind, die ein tiefes Verlangen danach haben zu tanzen, die den Mut haben, in ihr Inneres zu schauen und zu zeigen, wer sie sind. Ich möchte zu der wahren Person vordringen und sie sich durch den Tanz ausdrücken lassen. Natürlich braucht man die technischen Fähigkeiten eines sehr gut ausgebildeten klassischen Tänzers, um diese Bandbreite an Repertoire zu tanzen. Diese beiden Gesichtspunkte müssen vorhanden sein.
Die Saison wird mit Alexei Ratmanskys Handlungsballett Kallirhoe eröffnet. Warum haben Sie sich entschieden, dieses Stück als Ihre erste Premiere zu zeigen?
Es ist ein zeitgenössisches klassisches Ballett von einem der bedeutendsten Choreografen der Gegenwart. Kallirhoe wird eine europäische Erstaufführung sein, ein Ballett, das es nur in Wien gibt, und ein schönes Spektakel für unser Publikum. Das Werk ist ein kraftvolles, aber elegantes Stück, das der Compagnie sehr gut steht. Es ist ein »Showcase« für die Tänzerinnen und Tänzer. Alexei Ratmansky ist nicht nur ein großartiger Choreograf, sondern auch ein hervorragender Lehrer. Er kann die Tänzerinnen und Tänzer auf eine Art und Weise in Bewegung bringen, die ich wirklich liebe. Mit jemandem zu arbeiten, der so viel über Tanz weiß, ist für die Compagnie von großer Wichtigkeit.
Die zweite Premiere, die Sie Visionary Dances nennen, wird Werke von Justin Peck, Wayne McGregor und Twyla Tharp präsentieren. Was ist das Visionäre an diesen drei Tanzkünstlern?
Sie haben das klassische Ballett erweitert und in neue Richtungen geführt. Twyla Tharp war die erste, die diese Tür mit ihrem ikonischen Werk In the Upper Room öffnete. Zum ersten Mal brachte sie zwei verschiedene Welten zusammen: die moderne und die klassische. Dieses Stück hat die Geschichte des Balletts nachhaltig geprägt. Justin Peck und Wayne McGregor fanden ihren Stil auf sehr unterschiedliche Weise. Sie haben ihre eigene Stimme geschaffen und sind in verschiedene Bereiche vorgedrungen.
Justin Peck arbeitet am Broadway, an Filmen, er hat eine sehr originelle amerikanische Sprache. Heatscape ist eines seiner klassischsten Werke. Wayne McGregor hat das klassische Ballett auf die Spitze getrieben und die Regeln gebrochen. Yugen zeigt eine andere Seite von ihm, ist sehr lyrisch, bewegend und zerbrechlich. Wayne McGregor kann die wahre Tiefe einer Emotion auf abstrakte Weise erforschen. Das liebe ich. Die Musik für alle drei Choreografien ist ebenfalls wunderbar.
Justin Peck und Wayne McGregor haben für ihre Bühnenbilder mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet. Wie interdisziplinär und offen sollte das Ballett sein? Was kann man gewinnen, wenn man nach Verbindungen zu anderen Künsten sucht?
Wien ist kulturell äußerst anregend. Überall, wo man hingeht, findet man Inspiration. Ich bin sehr offen für Dialoge zwischen verschiedenen Kunstformen. Kunst ist Kunst. Ich mag es nicht, alles in eine jeweils eigene Schachtel, in ein eigenes Fach zu stecken. Kunst ist eine sinnliche Erfahrung, sie ist visuell, sie ist Musik, sie ist Raum. Ich habe mich immer von anderen Künsten inspirieren lassen. Manchmal, wenn ich ein Coaching gebe, fange ich an, ein Gemälde zu beschreiben. Die Inspiration kommt aus dem Unerwarteten.
Die jährliche Ballett-Gala wird ein Fixpunkt in jeder Saison sein. Wie haben Sie das Programm für Ihre erste Gala geplant?
Eine gute Gala ist ein festliches Ereignis, aber ihre Planung ist komplex. Sie muss Spaß und Glamour mit einer Annäherung an die Kunst verbinden. Wir führen in unserer Gala zwei großartige Ballette auf: Von Frederick Ashton, dem diese Saison die Gala gewidmet ist, zeigen wir u.a. Rhapsody als auch Christopher Wheeldons Within the Golden Hour, ein atemberaubend schönes und elegantes Ballett.
Die Kostüme für Wheeldons Choreografie sind von Gustav Klimt inspiriert, sodass hier eine kleine Hommage an die Stadt und die kulturelle Szene Wiens stattfindet. Mit den anderen Choreografien werden wir viel Freude haben – die Tänzerinnen und Tänzer als auch das Publikum.
Für das Nest haben Sie Robert Binet eingeladen, ein neues Werk für die Jugendkompanie zu kreieren. Strauss 2225: Dances for the Future ist eine Kooperation mit Johann Strauss 2025 Wien. Weshalb fiel die Wahl auf ihn?
Als mir das Festival, das 2025 den 200. Geburtstag von Johann Strauß feiert, dieses Projekt vorschlug, dachte ich an einen Künstler, der etwas Überraschendes machen kann, der eine Idee aufgreift und sie auf eine Weise weiterentwickelt, die wir nicht erwarten. Robert Binet ist ein unglaublich intelligenter Mensch, neugierig und offen.
Sie werden auch die künstlerische Leitung der Ballettakademie der Wiener Staatsoper übernehmen.
Die Ballettakademie ist für mich aus vielen Gründen sehr wichtig. Der offensichtlichste ist, dass sie Tänzerinnen und Tänzer für die Compagnie ausbilden soll. Patrick Armand, der neue Direktor der Ballettakademie, hat die gleiche Vision und spricht meine künstlerische Sprache. Für mich ist es wichtig, dass wir auf demselben künstlerischen und ideellen Weg sind, nämlich einen Stil zu schaffen, der aus dem Einsatz von klassischer Balletttechnik entsteht. Ich möchte Tänzerinnen und Tänzer ausbilden, die international arbeiten können.
Heutzutage geht jeder überall hin, die Studierenden müssen darauf vorbereitet werden, Zugang zu Ensembles auf der ganzen Welt zu haben. Ich möchte, dass sie lernen, diszipliniert zu sein, sich zu engagieren, denn das ist der Weg zur Freiheit. Ohne eine Leidenschaft entwickeln zu können, ist man nicht frei. All dies geschieht nicht durch Strenge, sondern indem wir ihnen die Liebe zur Qualität, die Wertschätzung der Kunst, die Beherrschung ihrer eigenen Kunst, ihre eigene Anmut beibringen. Es ist eine Herausforderung zu lernen, an- mutig zu sein, aber es ist ein großer Gewinn und eine wichtige Botschaft, die wir in einem sehr liebevollen und nährenden Umfeld weitergeben werden.
Wie wichtig ist Musik für Sie?
Ich habe wegen der Musik angefangen zu tanzen. Ich wollte die Musik sein und mit ihr verschmelzen. Das hat mich dazu inspiriert, Tänzerin zu werden. Es war meine Art, durch die Musik zu leben. Jede Interpretation eines Balletts kommt von der Musik. Musik ist alles. Das Ballett ist ein Teil dieses unglaublichen Opernhauses und ich würde gerne Beziehungen aufbauen und zusammenarbeiten. Wir haben ein gemeinsames Haus und das sollte ganz natürlich sein.