Freiheit im Kopf
Interview |
Tatort Musikverein im letzten Oktober. Das ORF Radio-Symphonieorchester spielt Alexander Zemlinskys symphonische Dichtung Die Seejungfrau, spielt mit einer faszinierenden Vielfalt an Farbschattierungen, mit Eleganz, mit Klangschönheit – und alles getragen von einer ungemeinen Transparenz. Am Pult: Markus Poschner, bayerischer Dirigent mit Weltruf, ab der Saison 2026/27 Chefdirigent des Klangkörpers. Derzeit Chef des Bruckner Orchesters Linz sowie des Sinfonieorchesters Basel, zählt er zu den profiliertesten Meistern seines Fachs. Er ist Träger von Auszeichnungen wie »Dirigent des Jahres«, verfügt über ein stattliches Arsenal an Einspielungen, heimst laufend internationales Lob ein, als kluger Redner wird er hochgeschätzt. Was ein Opernhaus mit einer Steinzeithöhle verbindet und wie viel Freiheit bei der Fledermaus nötig und möglich ist: das erzählte er Oliver Láng.
Es gibt ein schönes Foto von Ihnen: In Dirigierpose, aber mit geschlossenen Augen. Da stelle ich mir sofort die Frage: Was schießt Ihnen in einem so verinnerlichten Zustand durch den Kopf? Denken Sie an den nächsten Takt, das große Ganze?
Ja… die Gedanken während des Musizierens, das ist immer so eine Sache, und es ist fast unmöglich, darüber zu sprechen… Denn eigentlich muss das Ziel die Abwesenheit aller Gedanken sein. Sämtliche technischen Notwendigkeiten, die es nun einmal braucht, damit ein Abend reibungslos über die Bühne geht, müssen in den Hintergrund rücken. Also weg von der geistigen Checkliste, weg von dem, was bei Proben ganz im Vordergrund steht. Der Idealzustand während einer Aufführung ist: vollkommen frei und von allem Ballast gelöst. Nur dann sind wir ganz im Moment. Man schwebt und fühlt sich von der Musik getragen – dann ist wahre Inspiration und Kreativität möglich. Wie man das erreicht, ist freilich ein Mysterium. Denn es gibt selbst nach intensivsten Proben keinerlei Garantie, auch wirklich dorthin zu kommen. Ein unvergesslicher Abend, ein unvergessliches Konzert – all das ist ja nicht planbar. Also: Wir sollten tun, was möglich ist, um uns dann aber ganz dem Moment zu überlassen. Das Schöne ist, dass ein Abend immer etwas Unvorhersehbares in sich trägt. Schon deshalb, weil im Gegensatz zu den Proben jetzt das alles entscheidende Element dazukommt, nämlich das Publikum.
Wie sieht dann aber die unmittelbare Vorbereitung aus, eine halbe Stunde vor einer Aufführung? Schauen Sie sich noch einmal die drei heiklen Stellen an? Oder versuchen Sie, sich loszuschnallen und in den genannten Zustand zu kommen?
Ich muss gestehen, dass ich keinem festen und regelmäßigen Ritual folge. Natürlich versuche ich, mich auf das Werk einzustellen und innerlich zur Ruhe zu kommen. Im Grunde reichen mir aber ein paar Momente Stille und dann: tief Luft holen und loslegen. Solche Dinge sind aber auch von Abend zu Abend verschieden.
Mit anderen Worten: Die Arbeit muss mit der letzten Probe beendet sein.
Genau. Alles muss vorher passieren und mit der Generalprobe abgeschlossen sein. Ein perfekter Probenprozess ist extrem harte Arbeit. Natürlich kann man auch zu viel über heikle Stellen nachdenken. Aber mit Angst in eine Aufführung zu gehen, ist tatsächlich das Schlechteste.
Wenn man einen Witz erzählt, spürt man schon bei den ersten Worten, ob er beim Gegenüber zünden wird oder nicht. Ist es als Dirigent auch so? Wissen Sie nach den ersten 22 Takten, wie der Abend laufen wird?
Während einer Opernaufführung kann ja wahnsinnig viel passieren. Dieser riesige Apparat: Orchester, Chor, Solisten, Technik, Publikum. Selbst wenn man perfekt startet, heißt das nicht, dass es automatisch so gut weitergehen wird. Aber Sie haben schon recht, es ist ein wenig wie beim Surfen, man spürt sehr bald, ob man die Welle erwischt hat, die einen trägt und auf der man dahingleiten kann. Und dann ist es auch ganz egal, ob irgendwelche Kleinigkeiten oder Konzentrationsfehler passieren. Oder es aus dem Publikum Störgeräusche gibt. Umgekehrt ist es schwierig, wenn man merkt: Hm, heute stellt sich dieser Zustand von Leichtigkeit nicht so richtig ein. Wie man also in eine Vorstellung hineinkommt, sagt meistens schon viel über den weiteren Verlauf aus. Das Beginnen ist vielleicht sogar das Schwierigste überhaupt.
Jetzt haben Sie gleich mehrfach das Publikum erwähnt. Als Dirigent stehen Sie diesem abgewandt – und doch spüren Sie es, und es hat eine Auswirkung auf Sie?
Spannung ist schlechthin der Zustand, um den es geht! Energie, Intensität, auch atemlose Stille! Daran ist das Publikum maßgeblich beteiligt. Letztlich ist eine Aufführung ja eine gemeinsame spirituelle Übung. Was es dazu braucht, ist Fokussierung, Vertiefung. Und vor allen Dingen unbedingte Leidenschaft. Alle Emotionen sind erlaubt und willkommen! Auf beiden Seiten, im Publikum wie auf der Bühne. Und schon wieder ein Mysterium: dieses unsichtbare Band zwischen Zuschauern und Künstlern hat etwas Symbiotisches. Wir auf der Bühne und im Orchestergraben werden zu einer großen übergeordneten Seelen-Gemeinschaft, gemeinsam mit dem Publikum. Und es ist wie so oft: Das Resultat ist mehr als die Summe seiner Teile. Ein Opernabend besteht aus mehr als nur den einzelnen Menschen, die ihn gestalten oder ihn anhören. Irgendetwas potenziert sich da zu einem großen Geheimnis, das das Zeug dazu hat, ein Leben für immer zu verändern.
»Spannung ist schlechthin der Zustand, um den es geht! Energie, Intensität, auch atemlose Stille! Daran ist das Publikum maßgeblich beteiligt. Letztlich ist eine Aufführung ja eine gemeinsame spirituelle Übung.«
Ist das eine kulturelle Übung? Im Sinne von: Wir haben das so erlernt?
Ich wage eine steile These: Vor zehntausenden Jahren, als wir in Höhlen rund um Feuerstellen gesessen sind, haben wir gegessen, getrunken, gesungen und getanzt. Daraus ist dieses große Zusammengehörigkeitsgefühl durch Gemeinschaft entstanden. Eine Identität! Ein einzigartiger Zusammenhalt. All das hat vermutlich auch erst unser Überleben als Menschheit ermöglicht. Diese archaische und emotionale Erfahrung ist immer noch in uns prinzipiell angelegt. Daher ist eine Aufführung, ein kulturelles Event, nach wie vor ein hochkomplexer und beinahe spiritueller Vorgang.
Das bedeutet, dass wir, egal ob rund um das Steinzeit-Lagerfeuer oder heute im Musikverein, eine Verbundenheit suchen und erzeugen?
Es geht um Resonanz. Es geht darum, sich nicht allein zu fühlen, aufgehoben zu sein, zu räsonieren, sich als Gesellschaft, als ein Partikel in einem größeren Zusammenhang zu spüren. Das hat durchaus auch etwas Kultisches. Nicht umsonst ist eine Aufführung der Dramaturgie eines Gottesdienstes ähnlich. Es braucht Stille, es gibt Übereinkünfte, es hat etwas mit Inszenierung zu tun, das Publikum folgt andächtig einem Geschehen, und der Altar, sprich der Bühnenraum, ist hell erleuchtet. Was wir machen, ist der Versuch, uns in einen Gleichklang zu versetzen. Ähnlich wie vor tausenden Jahren, als Schamanen dies versucht haben. Kultur ist eine ideale Möglichkeit, mit unserem Gegenüber verbunden zu sein, also mit anderen Menschen – und mit sich selbst, jenseits aller Barrieren und Hürden.
Das allein ist über reine Alltagssprache unmöglich zu erreichen. Über die Kunst – und da besonders die Musik – aber betreten wir eine Welt hinter der Welt, eine Meta-Welt. Musik ist ja so etwas wie eine Meta-Sprache, die uns ergriffen macht und magisch in ihren Bann zieht. Und darum ist ein Konzert, eine Aufführung immer auch eine archaische Handlung, die uns überhaupt erst zu Menschen werden lässt, weil wir plötzlich verstehen, was wir sonst nicht begreifen würden. Sie merken, ich bin ein sehr großer Kulturoptimist. Denn das, was ich zu beschreiben versuche, wird immer eine große Rolle spielen, wenn es darum geht, uns selbst spüren zu können und mit uns selbst verbunden zu sein.
Was ist dann der Dirigent, was sind Sie? Der Oberschamane?
Ich bin nichts anderes als ein Moderator. Also jemand, der versucht, diese Erfahrungen weiterzugeben und dafür zu werben, wie wichtig Kunst und Musik für unser Leben sind. Ich versuche, meine große Leidenschaft für die Musik zu teilen. Manchmal hat man über hundert Personen auf der Bühne, wenn man ein großes symphonisches Programm musiziert. Bei einer Opernaufführung sind sogar noch viel mehr Leute beteiligt, denken Sie an den Chor, die Technik, die Solistinnen und Solisten und das Orchester. Jemand muss dem Ganzen eine Idee geben, eine Form, eine Richtung, der sich alle anschließen können.
Sie sind ein unglaublich vielbeschäftigter Dirigent, der mehrere Orchester auf der ganzen Welt leitet. Wie bekommt man das unter einen Hut? Sie müssen einen unglaublich gut organisierten Zeitplan haben, sonst ginge sich das ja nicht aus.
Es ist nicht nur eine absolute Voraussetzung, sich gut zu organisieren, sondern auch mit seinen Kräften hauszuhalten und diese richtig einzusetzen. Nun bin ich schon seit vielen Jahren im Geschäft und erkenne immer mehr, dass Fokussierung das Wichtigste ist. Je tiefer man in die künstlerische Materie eindringen kann, desto intensivere Erlebnisse sind die Folge. Wenn also die Chemie stimmt, dann ist es für mich sinnvoll, meine Aufmerksamkeit auf einige ausgewählte Klangkörper zu lenken.
In Podcasts erzählen Sie sehr Spannendes über neue Sicht- und Hörweisen in Bezug auf Johannes Brahms oder Anton Bruckner. Wie verhält sich das bei der Operette? Bei der Fledermaus? Gibt es da auch sich verändernde Sichtlinien? Kann oder muss man die Fledermaus neu entdecken?
Das, was in der Partitur steht, was sich zwischen den Buchdeckeln befindet, ist ja nicht das Kunstwerk an sich, sondern immer nur ein Fahrplan zum Stück, eine Art Landkarte zur eigentlichen Erfahrung. Das ist bei der Fledermaus nicht anders als bei einer großen Bruckner-Symphonie. Dem Werk, das uns nur in einer klanglosen Notenschrift, also einer Art unzureichender Beschreibung, überliefert ist, muss also immer wieder neues Leben eingehaucht werden, es muss erst hergestellt werden. Dadurch wird es ganz automatisch immer neu und auch immer zeitgenössisch sein. Und um die Fledermaus muss man sich ohnehin keine Sorgen machen, dass sie obsolet werden könnte: Denn sie ist ungemein modern, gesellschaftlich wirksam und aus dem Leben gegriffen. Eine Realsatire, wenn auch mit viel Melancholie versetzt, neben all der berühmten Walzerseligkeit. Natürlich hat sie etwas mit Geschichte und Tradition zu tun. Aber gerade in der Fledermaus, durch die Figur des Frosch, ist das Tagesaktuelle geradezu implementiert. Mag die Inszenierung auch Jahrzehnte alt sein: Den Wahrheiten kommt man immer neu auf die Spur, und sämtliche tiefenpsychologischen Vorgänge werden immer wieder neu verhandelt. Dazu braucht es nicht unbedingt eine Neuproduktion. Allein schon durch die Sängerbesetzung oder durch einen großartigen Frosch wie Michael Niavarani ist das Werk ganz bei uns und zeitgemäß. Und die Musik … die ist durch die Ebene des Walzers, die man ohnehin nicht richtig aufschreiben und erklären kann, immer quicklebendig. Vor allem mit diesem großartigen und einzigartigen Orchester, auf das ich mich immens freue. Die Freiheit, mit der hier musiziert wird, die Beweglichkeit, Flexibilität und Elastizität, ist unerreicht auf der ganzen Welt!
Es geht also um die Leichtigkeit, die Sie am Beginn angesprochen haben.
Genau! Bei der Fledermaus geht es um Leichtigkeit, um Gelassenheit. Und um das Vergessen und Verzeihen als Überlebensstrategie! Wenn die Bühne Hand in Hand mit dem Orchester geht, dann kann fast jeder Takt ein anderes Tempo haben, dann darf man ins Extreme musizieren. Das ist immer ein Ritt auf der Rasierklinge. Man fragt sich: Wie weit kann man das ausreizen, ohne dass einem der ganze Laden um die Ohren fliegt? Das Ausreizen und das Herantasten an Grenzen hat ja viel mit der Fledermaus an sich zu tun. Es geht jedenfalls nicht um Wiederholung, sondern um ein großes Freiheitsgefühl. Und dieses erhoffe ich mir bei den Aufführungen sehr!