Faust - Der Teufel in Wien

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Frédéric Chaslin über Faust.

Es gibt Wer­ke, die – wie Méphistophélès selbst – nicht ster­ben kön­nen. Charles Gounods Faust, 1859 ur­auf­ge­führt, ge­hört zwei­fel­los da­zu. Es ist nicht nur ei­ne O­per: Es ist ei­ne Le­gen­de im Sei­den­ge­wand, ein Spie­gel, den das 19. Jahr­hun­dert sich selbst vor­hält – und Wien, na­tür­lich, ent­kam die­sem Zau­ber nicht.

Als Gounod sei­nen Faust kom­po­nier­te, träum­te er we­ni­ger von Phi­lo­so­phie als von Sinn­lich­keit. Er kann­te Goe­the, doch er lieb­te mehr die Trä­nen der Mar­ga­re­the als die Ver­damm­nis des Ge­lehr­ten. Er schrieb ei­ne fran­zö­si­sche O­per von zar­ter In­nig­keit und un­er­war­te­ter Fröm­mig­keit – Ka­the­dral­mu­sik, in der der Teu­fel im Drei­vier­tel­takt tanzt.
Die Pre­mie­re am 19. März 1859 im Théâtre-Lyrique ver­lief cha­o­tisch: un­fer­ti­ge De­ko­ra­tio­nen, ein kran­ker Te­nor, ein fie­bri­ger Di­ri­gent. Doch all­mäh­lich er­ober­te der Duft die­ses Wer­kes – halb En­gel, halb Mensch – die Pa­ri­ser Her­zen. Ein Kri­ti­ker schrieb: »Das ist die O­per, in der man sich mit ei­nem Lä­cheln ver­damm­t.«

Triumph und Salons

In den Sa­lons des Faubourg Saint-Germain ließ Gounod erst­mals sein »Gol­de­nes Kalb« er­klin­gen. Ei­ne Sän­ge­rin fiel vor Rüh­rung in Ohn­macht – ei­ne be­rühm­te Anek­do­te: Gounod glaub­te im ers­ten Schreck, der Teu­fel ha­be sie nie­der­ge­streckt. Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter ließ das Gar­ten­duo ganz Pa­ris da­hin­schmel­zen. Offenbach spot­te­te: »Gounod, das bin ich – a­ber nach der Beich­te!«

Von Garnier bis Broadway

Zehn Jah­re spä­ter zog Faust in die Pa­ri­ser O­per ein – und blieb. Es war die­ses Werk, das 1875 die neue O­pé­ra Gar­nier er­öff­ne­te. Der Er­folg war über­wäl­ti­gend, fast ver­däch­tig. Die Stren­gen, Saint-Saëns und Fauré, fan­den das Werk zu süß, zu ge­fäl­lig. Doch das Pu­bli­kum konn­te nicht ge­nug da­von be­kom­men: ein Jahr­hun­dert lang war Faust die meist­ge­spiel­te O­per in Pa­ris.
Von dort aus er­ober­te sie A­me­ri­ka: Am 22. Ok­to­ber 1883 er­öff­ne­te das Me­tro­po­li­tan O­per­a House in New York mit Faust. Die Pres­se ti­tel­te: »The Devil opens the Met!« Der Te­nor Italo Campanini, die So­pra­nis­tin Christine Nilsson und der gro­ße Victor Maurel (spä­ter Ver­dis Jago) mach­ten den A­bend un­ver­gess­lich. Seit­her ist Faust un­trenn­bar mit der Ge­schich­te der Met ver­bun­den: Er war die ers­te O­per des Hau­ses, die letz­te im al­ten Ge­bäu­de am Broad­way und im­mer wie­der ei­ne Sai­son­er­öff­nung – der Teu­fel als Haus­pa­tron.

Und in Wien?

Wien emp­fing Gounods Faust mit höf­li­cher Zu­rück­hal­tung. Man schätz­te den fran­zö­si­schen Charme, a­ber nicht den Weih­rauch­duft. Als die O­per 1862 an der Hof­o­per her­aus­kam, lob­te die Kri­tik die Me­lo­di­en, be­klag­te a­ber das Feh­len phi­lo­so­phi­scher Tie­fe. Gounods Faust war eben nicht Goe­thes Faust – er be­wahr­te die Schat­ten, a­ber nicht den Ab­grund.
Und ge­nau das ir­ri­tier­te Gustav Mahler, als er 1897 die Lei­tung des Hau­ses über­nahm. Mahler ver­ehr­te Goe­the, fürch­te­te Gott und misstrau­te Gounod. Für ihn war die fran­zö­si­sche O­per zu ge­fäl­lig, zu sen­ti­men­tal. Er wei­ger­te sich, Faust wie auch Mas­se­nets Werther auf­zu­füh­ren: »Das sind«, sag­te er, »ge­zucker­te Goe­the-Ver­sio­nen«. Er lieb­te den Goe­the des Faust II, den kos­mi­schen, ver­zwei­fel­ten, je­nen, den er selbst zu ver­to­nen träum­te – ein Traum, der sich nur in den er­schüt­ter­ten Sei­ten sei­ner ach­ten Sym­pho­nie er­füll­te, wo man den ein­sa­men Ruf ei­nes spä­ten Faust zu hö­ren glaubt.
Und doch war Mahler die Ge­stalt des Ge­lehr­ten nicht fremd. In sei­nen Brie­fen tauch­te sie im­mer wie­der auf: Er sah sich selbst als ei­nen, der zwi­schen Le­ben und I­de­al, zwi­schen Alma und dem Ab­so­lu­ten zer­ris­sen war. Viel­leicht ver­ach­te­te er Gounods Faust, weil er sich zu deut­lich da­rin er­kann­te.

Margarethe in Wien

Die Wie­ner Ge­schich­te des Faust en­det nicht mit Mahler. 1906 brach­te Felix Weingartner das Werk neu her­aus – ein ge­sell­schaft­li­ches Er­eig­nis. Anna Bahr-Mildenburg, die gro­ße Wag­ner-Sän­ge­rin, sang Mar­ga­re­the mit ei­ner Rein­heit, die selbst die Skep­ti­ker ent­waff­ne­te.
Und dann die A­nek­do­te aus den 1960er-Jah­ren: Hil­de Gü­den, in der Ker­ker­sze­ne, rutsch­te auf ih­rem Kleid aus und fiel in die Ver­sen­kung, ru­fend: »Ich bin noch nicht fer­tig!« Das Pu­bli­kum hielt es für ei­ne ge­nia­le Re­gie­idee und ap­plau­dier­te be­geis­tert.
O­der der A­bend, als wäh­rend der Be­schwö­rungs­sze­ne ein schwar­zer Ka­ter aus den Ku­lis­sen trot­te­te und sich wür­de­voll zu Me­phis­to setz­te. Am nächs­ten Tag schrieb ei­ne Zei­tung: »Der wah­re Teu­fel ist ein Wie­ner Ka­ter.« 

Der Teufel steckt im Detail

Je­des O­pern­haus hat sei­nen ei­ge­nen Faust. In Pa­ris war er der ele­gan­te Dä­mon; in Wien ei­ne kul­ti­vier­te Ra­ri­tät, die man wie ei­nen al­ten Wein her­vor­zog; in New York der e­wi­ge Haus­herr der Met. Doch über­all setz­te Gounods Werk ei­nen Maß­stab: das Bö­se im Wal­zer­takt, die Sinn­lich­keit im Chor­ge­wand, die Höl­len­fan­fa­ren wie Or­gel­klän­ge aus der Ka­the­dra­le.
Auch das Gro­tes­ke fehl­te nie. In Lon­don ver­gaß ein Te­nor sein Schwert – der Me­phis­to reich­te ihm kur­zer­hand sei­nen Stock, den der Sän­ger am En­de der Sze­ne schwung­voll in den Bo­den ramm­te. Da blieb er ste­cken und rag­te die gan­ze nächs­te Sze­ne hin­durch wie ein Kreuz in die Hö­he. In Pa­ris fiel einst ein Ge­gen­ge­wicht in die Höl­len­ver­sen­kung: Mar­ga­re­the wä­re bei­na­he tat­säch­lich hin­ab­ge­fah­ren.
Und doch ge­hört all das zu Faust: die­se ge­fähr­li­che Zo­ne zwi­schen Spiel und Wahr­heit, zwi­schen Ek­sta­se und Ab­sturz.

Für einen Teufel dirigieren

Für ei­nen Di­ri­gen­ten ist Faust Ver­su­chung und Prü­fung zu­gleich. Hin­ter sei­ner schein­ba­ren Leich­tig­keit ver­birgt sich ein Ge­bäu­de aus hei­klen Gleich­ge­wich­ten. Al­les hängt vom Atem ab – dem des Ge­sangs, a­ber auch dem des Raums. Die Mu­sik muss wie ein le­ben­di­ges We­sen at­men: Ein zu lau­tes Or­ches­ter er­drückt Mar­ga­re­the, ein zu za­haf­tes ver­rät das Dra­ma.
Die größ­te Schwie­rig­keit liegt im Wech­sel von Trans­pa­renz und Glut: ein Or­gel­prä­lu­di­um, ein zar­ter Wal­zer, dann plötz­lich der Aus­bruch des Gol­de­nen Kalbs oder die Ka­the­dra­len­sze­ne. Die Tem­pi ent­glei­ten der Hand, als woll­ten sie sich kei­ner ein­zi­gen Lo­gik beu­gen. Faust zu di­ri­gie­ren heißt, die Wi­der­sprü­che zu um­ar­men: Ge­bet und The­a­ter, Tanz und Ver­damm­nis zu ver­ei­nen.
A­ber wel­che Trun­ken­heit! Kaum ei­ne O­per schenkt dem Di­ri­gen­ten die­ses Ge­fühl des stän­di­gen Schwe­bens zwi­schen Him­mel und Er­de. Der Di­ri­gent wird zum Al­chi­mis­ten, ba­lan­ciert Licht und Schat­ten, trägt die Sän­ger und lässt sie zu­gleich frei. Wenn das Or­ches­ter das Gar­ten­duo haucht, spürt man, dass Gounod je­nes I­de­al ge­fun­den hat­te, nach dem je­der Di­ri­gent sucht: den Mo­ment, in dem Mu­sik auf­hört, di­ri­giert zu wer­den, und ein­fach – fliegt.

Das letzte Wort

Viel­leicht liegt in die­sem Tri­umph die I­ro­nie des Teu­fels selbst: Faust, ein Werk des Zwei­fels und der Ver­damm­nis, hat sei­ne E­wig­keit in der Leich­tig­keit und An­mut ge­fun­den. Und ge­nau die­se Span­nung liebt Wien – die Stadt, die bes­ser als je­de an­de­re weiß, dass es kei­ne Schön­heit oh­ne Ab­grund gibt.
Wenn sich a­lso der Vor­hang hebt und der Stu­den­ten­chor er­tönt oder der Gar­ten Mar­ga­re­thes er­blüht, hört man hin­ter den Strei­chern die Stim­me Mahlers, spöt­tisch und fa­szi­niert…

»Man schließt kei­nen Pakt mit dem Teu­fel un­ge­straft … a­ber was wä­re die O­per oh­ne ihn?«

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