Eine Palette mit vielen Farben
Ballett |
Sie können auf eine enge, lange Zusammenarbeit mit Roland Petit zurückblicken. 1975 traten Sie seinen Ballets de Marseille bei, wo er viele Rollen für Sie schuf, darunter Ulrich in »Die Fledermaus«. Später wurden Sie zu seinem Assistenten und studierten Petits Ballette weltweit ein. Seit seinem Tod 2011 tragen Sie die künstlerische Verantwortung über die Einstudierung von Petits gesamtem Repertoire. Wie würden Sie Ihre Arbeit mit ihm beschreiben und was war er für ein Mensch?
Roland Petit war sehr anspruchsvoll und verlangte auch von allen anderen, dass sie wirklich hart arbeiten. Aber es war stets ein großes Vergnügen und ich habe so viel von ihm gelernt, vor allem Disziplin. Er konnte streng sein, hatte jedoch immer einen Grund dafür, da er alles aus den Tänzer*innen herausholen wollte. Er konnte Facetten in einem entdecken, von denen man selbst gar nicht wusste, dass sie in einem stecken, und zu Höchstleistungen anspornen. Das ist ihm auch bei mir gelungen. Ich war kein besonders guter Dreher, aber wenn ich mit Petit arbeitete, schaffte ich fünf Pirouetten und mehr! Es waren der Adrenalinschub und die Begeisterung, die er auslöste. Für mich war die Zeit, in der er kreierte, die schönste. Ich habe alles von ihm gelernt und sogar in Musicals am Broadway getanzt und gesungen.
Hatte Roland Petit beim Kreieren bereits ein konkretes Konzept oder konnten die Tänzerinnen ihre eigenen Ideen in die Rollen einbringen?
Es war großartig, wenn er ein neues Ballett kreierte! Er kam ins Studio und sagte: »Bitte machen Sie die Musik an!«. Dann begann er nahezu ohne jegliche Vorbereitung, die Schritte zu choreografieren. Er wusste jedoch genau, was musikalisch an welcher Stelle passieren würde – etwa ein Pas de deux oder ein Solo –, was er wollte und wen er vor sich hatte. Er betonte zudem immer, dass er die Choreografie nicht allein mache, sondern gemeinsam mit den Tänzer*innen.
Petits Ballette sind sehr vielseitig – humorvoll oder dramatisch, Einakter oder große Handlungsballette – und vereinen diverse Tanzstile. In »Die Fledermaus« gibt es pure klassisch-akademische Tanzkunst zu sehen, aber auch Can-Can, Csárdás und natürlich Walzer ...
Roland Petit war wie ein Maler, der eine Palette mit vielen Farben hat. Er schuf völlig unterschiedliche Ballette wie »Die Fledermaus«, »Notre-Dame de Paris«, »Ma Pavlova«, »Pink Floyd Ballet«, »Duke Ellington Ballet«, »Carmen« oder »L’Arlésienne«. Trotzdem hatte er einen ganz eigenen Stil und war ein hervorragender Geschichtenerzähler. Wenn man zum Beispiel Die Fledermaus sieht, hat jede Bewegung, jede Geste, jede Situation eine Bedeutung. Es ist nie einfach nur ein Tanzschritt ohne Sinn oder nur dazu da, um Technik zu zeigen. Ich sage immer, dass Roland Petits Choreografien für Menschen, die noch nie ein Ballett gesehen haben, sehr leicht zu verstehen sind. In der Fledermaus gibt es viele witzige Szenen aus dem Alltag, etwa wenn die ganze Familie mit den fünf Kindern rund um den großen Esstisch sitzt. Es war ein Vergnügen, diese Szene mit Zizi Jeanmaire in der Rolle der Bella zu gestalten – wir haben so viel gelacht.
Wie war es für Sie, mit Zizi Jeanmaire – Roland Petits Ehefrau, französische Ballett- und Revuetänzerin, Schauspielerin und Chanson-Sängerin sowie Protagonistin in vielen Balletten von Petit – aufzutreten und zu arbeiten?
Es war fantastisch! In den 1960er-Jahren gab es jeden Samstagabend eine große Fernsehsendung und Zizi war dort zusammen mit Roland Petit zu sehen. Damals wusste ich nicht, wer sie waren. Aber ich sah mir jede Show an und war fasziniert von Zizis unglaublicher Ausstrahlung. Als ich viele Jahre später zur Compagnie in Marseille kam, war sie auch dort und ich überwältigt! Wir hatten sofort eine gute Beziehung zueinander, tanzten und redeten viel miteinander.
Wie lehren Sie Petits Stil und Humor in Die Fledermaus der heutigen Generation?
Es gibt viele Schauspielszenen, manche erinnern nahezu an Slapstick. Wie bringen Sie den Tänzer*innen bei, das richtige Maß zu finden, damit es nicht übertrieben oder clownesk wirkt?
Das ist viel Arbeit. Heutzutage kann jeder ein Ballett mithilfe eines Videos einstudieren, aber das ist nicht dasselbe. Die Schritte zu lehren ist leicht – das ist wichtig, aber nicht alles. Es geht um das Gefühl, darum, den Geist des Choreografen zu vermitteln, und das ist nicht einfach. Oft ermutige ich die Tänzerinnen: »Seid nicht schüchtern – wenn es zu viel ist, sage ich es euch. Aber traut euch, euch auszudrücken, zu fühlen, von Herzen zu tanzen.« Denn Roland Petit ist genau das: echtes Leben, ganz menschlich und berührend – wie etwa Bella, die alles versucht, um ihren Mann Johann die Augen zu öffnen und wieder für sich zu gewinnen, weil dieser jeden Abend ausgeht und anderweitig Vergnügen sucht. Sie ruft ihren Freund Ulrich zu Hilfe und am Ende schneidet sie Johann die Flügel ab und zieht ihm die Pantoffeln an. Großartig!
Welche Bedeutung hat es für Sie, Die Fledermaus in Wien einzustudieren, dem Geburtsort des »Walzerkönigs« Johann Strauß Sohn?
Das ist natürlich fantastisch – gerade jetzt, zum 200. Geburtstag von Strauß! Es ist wirklich etwas Besonderes, und ich finde es eine großartige Idee und Programmierung von Ballettdirektorin Alessandra Ferri, Die Fledermaus an diesem Ort und in diesem besonderen Jahr wieder aufzuführen. Für mich ist es zudem wunderschön, das Ballett erneut hier einzustudieren und zu sehen, wie die Tänzer*innen sich entwickeln und aus sich herausgehen. Wir haben auch sehr gute und unterschiedliche Besetzungen. Somit ist es bestimmt interessant, sich dieses Stück mehrmals anzuschauen.