Ein Weihnachtsklassiker mit Herz
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Haben Sie ein inneres Kind, und wenn ja, langweilt es sich nicht manchmal entsetzlich? Vielleicht sitzt es still in einer Ecke, brav geworden, weil Rechnungen bezahlt, Termine eingehalten und Einkaufstaschen getragen werden müssen. Manchmal meldet es sich nur noch leise – beim Duft von Zimt, beim Klang eines Kinderliedes, beim ersten Schneefall. Und dann spüren wir: Ganz verschwunden ist es nicht.
Weihnachten ist eine Zeit, in der dieses innere Kind ein wenig mutiger wird. Es klopft an. Es erinnert uns daran, wie es sich anfühlte, Staunen nicht zu suchen, sondern selbstverständlich in sich zu tragen. Für Kinder ist das selbstverständlich. Für Erwachsene ist es ein Wiederfinden. Zeit, Grimms Märchen aufzuschlagen.
Wenige Opern sind so eng mit der Weihnachtszeit verbunden wie Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck. Die Uraufführung fand am 23. Dezember 1893 in Weimar unter Richard Strauss als Dirigent statt, und seither gehört das Werk überall zur Advent- und Festzeit. Wenn Hänsel und Gretel an der Wiener Staatsoper gespielt wird, ist das fast wie ein gemeinsames Hauskonzert einer ganzen Stadt. Diese Oper hat etwas zutiefst Menschliches, etwas, das uns weicher macht. Ihre Melodien sind eingängig, ihre Szenen poetisch und vertraut: Geschwister, die spielen, obwohl sie eigentlich arbeiten müssten. Die Angst im dunklen Wald. Das Staunen vor dem berühmten Knusperhäuschen. Der Ritt auf dem Hexenbesen. Das Lachen. Das Zittern. Das Happy End.
Die Inszenierung von Adrian Noble zeigt die Geschichte als Märchen zwischen Zauberwald und viktorianischem London – ein Traum aus Bühnenbildern und Poesie. Die Musik schimmert in den orchestralen Klangfarben der Spätromantik und lässt eine Welt voller Wärme und Zauber entstehen. Humperdinck und seine Schwester Adelheid Wette (die das Libretto schrieb) woben Volkslieder in die Partitur ein, die an die eigene Kindheit erinnern: an Geborgenheit, an Rituale, an Strophen, die man als Kind auswendig konnte, ohne je zu wissen, wann man sie gelernt hatte. Gretel singt Suse, liebe Suse beim Stricken, Hänsel tanzt mit ihr zu Brüderchen, komm, tanz mit mir, und im Wald, zwischen Furcht und Neugier, summen sie Ein Männlein steht im Walde.
Auch die ernsten Untertöne des Märchens arbeitet Nobles Inszenierung heraus: die Armut, die Vernachlässigung, den Hunger – jene Situationen, in denen Kinder tatsächlich gefährdet sind. Noble erinnert daran, dass Hänsel und Gretel nicht nur träumen, tanzen und spielen, sondern an einer Grenze entlanggehen, hinter der der Alltag plötzlich kippen kann. Die Nähe zum Tod, die in Grimms Märchen immer mitschwingt, wird hier nicht entschärft, sondern ernst genommen. So wird sichtbar, wie zerbrechlich die Welt manchmal ist – und wie stark Kinder sein können, wenn die Gefährdung und die Rettung, das Dunkel und das Licht, sich unmittelbar gegenüberstehen.
Dieser Abend ist nicht nur eine Oper. Er ist auch der gemeinsame Atemzug einer Familie. Der Besuch einer Aufführung von Hänsel und Gretel kann zu einem verbindenden Erlebnis werden: Die Kinder erleben Furcht und Staunen im Hexenhaus und tanzen innerlich mit. Die Eltern hören zwischen den Zeilen die große, romantische Oper. Die Großeltern spüren vielleicht in der Musik eine vertraute Melancholie. Es ist ein Werk, das Generationen über die Bühne hinweg miteinander sprechen lässt.