Ein Meisterwerk der Romantik
Interview |

Liebe, Treue, Tod, Verrat … hier gibt es alles, was die Menschheit bewegt, auch heute noch.
Giselle gilt als Inbegriff des romantischen Balletts. 1841 an der Pariser Oper mit der Musik Adolphe Adams uraufgeführt, fand das Werk schon bald seinen Weg nach Wien: Ab 1870 war es am Haus am Ring in verschiedenen Fassungen zu sehen – von Carl Telle über Gordon Hamilton bis zu Alicia Alonso. Seit 1993 wird die Choreografie von Elena Tschernischova gezeigt. Sie war nicht nur eine der wenigen weiblichen Direktorinnen des Balletts an der Wiener Staatsoper (1991–1993), sondern auch eine bedeutende Lehrerin von Alessandra Ferri. Für die italienische Ballettikone wurde die Rolle der Giselle zu einer der zentralen ihrer Karriere, die sie an der Seite von Tänzern wie Mikhail Baryshnikov – auch im Kinofilm Dancers (1987) – und Rudolf Nurejew verkörperte.
Die dramatische Handlung berührt bis heute: Das Bauernmädchen Giselle wird von dem Wildhüter Hilarion umworben, verliebt sich aber in Herzog Albrecht. Als sie erkennt, dass er eine andere heiraten soll, stirbt sie – in der berühmt-gefürchteten »Wahnsinnsszene« – an gebrochenem Herzen. Doch damit beginnt ihre Geschichte erst: Im zweiten, »weißen« Akt erscheint sie als Wili, eines der geisterhaften Mädchen, die – von Königin Myrtha angeführt – in weißen Tüllkleidern die Männer in den Tod tanzen lassen. Die Magie dieser Szenen, vor allem wenn das Corps de ballet in gleitenden Arabesquen über die Bühne zieht, ist ungebrochen.
Am 18. September kehrt Giselle in dieser Fassung bereits zum 96. Mal auf die Bühne der Wiener Staatsoper zurück. Mit Luciano Di Martino gibt ein junger Dirigent sein Hausdebüt, und auch eine Reihe neuer Tänzerinnen und Tänzer sind in drei verschiedenen Solo-Besetzungen zu erleben. Im Gespräch mit Iris Frey teilt Alessandra Ferri ihre Gedanken zu einem Werk, das für sie selbst zu den großen romantischen Ballettmomenten ihrer Laufbahn zählt.

Warum eröffnen Sie Ihre erste Spielzeit mit Giselle?
Ich habe das Ballett gewählt, weil es ein Meisterwerk des 19. Jahrhunderts ist. Der zweite Akt ist in seiner Schönheit und Reinheit, in der Art, wie er die Geschichte allein durch Tanz erzählt, bis heute unerreicht. Außerdem ist es ein Ballett mit sehr tiefer Bedeutung – es geht um Transzendenz, um Selbstverwandlung, um die Suche nach wahrer, bedingungsloser Liebe und trägt so eine tiefgreifende, existenzielle Botschaft über die menschliche Entwicklung in sich.
Welche Erinnerungen haben Sie an die Arbeit mit Elena Tschernischova?
Ich wurde während meiner Zeit beim American Ballet Theatre von Elena Tschernischova, die damals Erste Ballettmeisterin war, in der Rolle der Giselle gecoacht, als ich mit 21 mein Debüt in der Fassung von Mikhail Baryshnikov gab. Sie hatte ein wunderbares Auge und eine große künstlerische Kompetenz. Ich war sehr jung und Elena sehr fürsorglich und liebevoll. Sie war eine Art Adoptivmutter für mich. In Wien hatte sie natürlich eine andere Rolle als Direktorin der Compagnie.
Was ist das Besondere an Tschernischovas Choreografie und Inszenierung von Giselle?
Ihre Fassung von Giselle unterscheidet sich nicht wesentlich von den meisten anderen klassischen Versionen. Es sind nur kleine Details, die variieren. Ich würde jedoch sagen, jene von Tschernischova ist sehr minimalistisch gehalten, was sich auch in der Ausstattung zeigt. Bühnenbild und Kostüme betreffend ist es eine sehr eigenständige Version mit einer besonderen Farbdramaturgie, in der fast alles in schwarz-weiß oder grau-blau gehalten ist. Mir gefällt, dass Giselle und Bathilde im ersten Akt fast die Einigen sind, deren Kostüme sich farblich abheben, was einen visuell beeindruckenden Effekt erzeugt. Choreografisch hat sie unter anderem die Rolle von Hilarion vor allem im zweiten Akt stark ausgebaut. Man braucht daher einen wirklich guten Tänzer für diese Rolle.

In der Besetzung fällt auf, dass es nun statt des »Bauern-Pas de deux« einen »Bauern-Pas de quatre« gibt. Was ist der Grund dieser Änderung und gibt es noch andere choreografische Neuerungen?
An der Choreografie an sich wird sich nichts ändern, diese bleibt der Version von Elena Tschernischova treu. Ich habe lediglich die Eröffnung des »Bauern-Pas de deux« zu einem Pas de quatre für zwei Bauernpaare umstrukturiert. Giselle und Albrecht werden nur das Adagio tanzen, während die Variationen und die Coda von den vier anderen Tänzerinnen einzeln dargeboten werden.
Dramaturgisch schien es mir besser zur Geschichte zu passen, dass Giselle nicht so viele Soli tanzt. Ihr ursprüngliches Solo drückt ihre Freude und Liebe zum Tanz aus, was ihre besorgte Mutter wegen Giselles schwachem Herzen nur in einem besonderen Moment zulässt. Dass sie während des gesamten Aktes so ausgiebig tanzt, passt meiner Ansicht nach nicht zu ihrem Charakter, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Albrecht mit den Bauern tanzt. Diese kleine Änderung bietet auch eine wunderbare Gelegenheit für viele junge Tänzerinnen, auf der Bühne zu glänzen – etwas, das mir sehr am Herzen liegt.
Sie werden Giselle in Wien gemeinsam mit Ihrem ehemaligen Tanzpartner Julio Bocca neu einstudieren. Was bedeutet das Coaching von Tänzer*innen für Sie?
Ich habe großes Interesse daran und liebe es, die Tänzerinnen in einem Ballett zu coachen, das ich selbst in vielen verschiedenen Compagnien – darunter in New York, London, Mailand, Tokio und Buenos Aires – sowie in unterschiedlichen Versionen von Baryshnikov, Pierre Lacotte und Patrice Bart getanzt habe.
Dieses Ballett begleitet mich seit etwa 40 Jahren, es ist ein Werk, das ich in- und auswendig kenne. Mit den Tänzerinnen zu arbeiten ist für mich ein Geschenk, weil ich das Ballett dadurch noch einmal selbst erlebe, indem ich ihnen helfe, den wahren Kern, die tiefere Bedeutung des Stücks zu entdecken. Ich denke, es ist eines der schwierigsten Ballette, und dieses zu verstehen und darzustellen braucht ein Leben lang. Als reifer Mensch versteht man die Reise von Giselle, die eigentlich eine Reise von uns allen ist.
Wir müssen die Vorstellung aufgeben, Liebe zu brauchen oder gebraucht zu werden, denn die Liebe ist größer als man selbst. Es ist eine Liebe, die vergeben kann, eine Liebe, die rettet, eine Liebe, die absolut bedingungslos ist. Es ist eine spirituelle Reise.
Neben der darstellerischen Herausforderung gibt es auch stilistisch große Gegensätze in den beiden Akten, wie gehen Sie damit um?
Akt eins und zwei sind stilistisch so unterschiedlich, und daran zu arbeiten ist ebenfalls eine Herausforderung. Es geht darum, die Technik so einzusetzen, dass man das Gefühl vermittelt, eine Seele tanzt und nicht bloß ein physischer Körper. Das braucht Zeit. Aber es ist ein wirklich faszinierendes Ballett sowohl für Albrecht als auch für Giselle. Ich würde sagen, es sind wahrscheinlich die größten Rollen des Balletts im 19. Jahrhundert.
Sie wurden vor allem für Ihre Interpretationen von dramatischen Rollen gefeiert, wie eben Giselle oder auch Manon und Julia. Was ist das Besondere an diesen?
Es sind Rollen, die die Menschlichkeit darstellen – und das liebe ich. Es geht nicht nur um die Geschichte an sich, sondern um die emotionale Ebene, die dahintersteckt.
Welche Bedeutung hat Giselle heutezutage für Sie und das Publikum?
Giselle wird für mich immer ein erstaunliches Meisterwerk bleiben. Es ist die Kombination aus wunderschöner Choreografie und einer Geschichte, die unter der Oberfläche so viel mehr erzählt. Selbst wenn man es nicht bewusst wahrnimmt, berührt es einen tief. Man sollte dieses Ballett als eine transformative Erfahrung sehen, als Kontakt mit der eigenen Seele, dort, wo Leben und Liebe wohnen.
Das ist es, was Giselle ausmacht.